

Short Stories
La Fine dell’inizio – Das Ende vom Anfang
Was mir gleich aufgefallen war: diese flache Landschaft, die sich vor mir bis zum Horizont erstreckte. Ich hatte wenigstens einige flache Hügel erwartet, konnte aber im sommerlichen Dunst kaum eine Erhebung entdecken. Seufzend sank ich auf die Sitzbank des Eisenbahnabteils zurück und schloss die Augen. Ich hatte Respekt vor dieser Ebene, die sich zu beiden Seiten des dahinbrausenden Zuges erstreckte, wie ein seit langem trockengelegtes Meer. Auch wenn ich hier nur ein paar Ferienwochen verbringen sollte, bekam ich bereits etwas Heimweh, als hätte ich eine unsichtbare rote Linie überschritten. ‚Ferrara‘, malte ich in ungelenken Buchstaben auf die staubigen Scheiben des Zuges: ‚F-e-r-r-a-r-a‘.
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Im Grunde wusste ich nichts über die Stadt. Nicht einmal wann sie gegründet worden war oder wie viele Einwohner sie hatte. Solche Informationen interessierten mich kaum. Ich war sechzehn, besuchte das Gymnasium und liebte Fremdsprachen, Fußball und Filme. Alles mit F, sozusagen. Ansonsten war ich ein durchschnittlicher Junge, der seine widerspenstigen Haare so fluffy wie möglich zu stylen versuchte und seine Kurzsichtigkeit mit Kontaktlinsen kaschierte, ein Junge, der so gerne den Helden spielen wollte, ohne dafür das geringste Talent zu besitzen: ich war so erbärmlich normal und hatte noch dazu jede Menge Pickel im Gesicht, die einfach nicht weggehen wollten.
Mein Spiegelbild schien eine falsche Fährte auf der staubigen Fensterscheibe des Eilzugs sein, der gerade einen breiten Fluss überquerte und dabei langsamer wurde, während dahinter die Umrisse von Fabriken, Einkaufszentren und Wohnblöcken die flimmernde Hitze wie dünne Finger durchstachen.
Andrea stand unter einem blauweißen Schild mit der Aufschrift „Ferrara“. Er war die einzige Person auf dem Bahnsteig, und ich war der einzige Passagier, der den Zug bei sengender Hitze verließ. Andrea sah älter aus als auf den Fotos, die er seinen Emails beigefügt hatte. Er war etwa ein Meter achtzig groß, aber sehr dünn, hatte rabenschwarzes, dicht gelocktes Haar und bereits leichten Flaum an Wangen und Kinn. Seine Augen waren dunkelbraun und starrten mich neugierig an, und sein Mund zeichnete ein spöttisches Lächeln in das blasse Gesicht. Mir fiel auf, wie schön sein Hemd war, das er an den Ärmeln hochgekrempelt hatte: ein etwas zerknittertes, aber immer noch elegantes, mit schwarzen Längs- und blauen Querstreifen gemustertes Hemd, dessen obersten Knöpfe geöffnet waren und den Blick auf Hals und Kehlkopf freigaben. Der Eilzug hatte die Station längst verlassen, als sich der Junge von der Betonsäule löste und mir seine schmale rechte Hand entgegenstreckte: Salve, e benvenuto a Ferrara.
Vielleicht hatte er mich einfach geprüft und meine verlegenen Blicke, mein Lächeln, meine Befangenheit zu ergründen versucht, zumindest hatte er mich eingehend betrachtet und schließlich doch für sympathisch gefunden. Sein Händedruck war fest und bestimmt, eher der Händedruck eines Mannes als der eines gleichaltrigen Jungen.
„Salve“, erwiderte ich, aber aus meinem Mund klang dieses Wort vollkommen anders, viel härter und fremd, eher wie ein Schuss als ein zweisilbiger sprachlicher Ausdruck. Ich sah mich um, aber außer Andrea war niemand gekommen. Wortlos half er mir die Gepäckstücke tragen, besorgte uns ein Taxi und gab dem Fahrer die Wohnadresse an: Via Bersaglieri del Po, Nummer 22.
„Meine Eltern sind in Codigoro“, erklärte Andrea, als hätte er meine Gedanken erraten, „vielleicht werden wir morgen hinfahren.“
„Was machen sie dort?“, wollte ich wissen, aber der Junge gab keine Antwort darauf. Sah an mir vorbei. Und strich sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht.
Andreas Familie wohnte in der Altstadt Ferraras. Es war wie ein Sprung ins Mittelalter, die Straßen hatten Kopfsteinpflaster, und der Verputz der Häuser bröckelte ab, dennoch hatte das Viertel etwas Erhabenes an sich: eine große Vergangenheit schien über dem losen Mauerwerk, den verriegelten Fensterläden und für immer herunter gelassenen Rollläden zu lasten. Andrea ahnte, was mir beim Anblick des dunklen Stiegenhauses durch den Kopf ging, er hakte sich bei mir unter, eine Geste, die mir fremd und unpassend erschien, die ich ihm aber durchgehen ließ – „keine Sorge, diese Stadt ist nicht nur ein Museum.“
Andreas Stimme gefiel mir zumindest. Sie kiekste nicht mehr, sondern hatte bereits etwas Raues, geradezu Erwachsenes an sich: als rieben sich die Stimmbänder an einem Stück Eisen oder als wäre etwas tief in der Kehle des Jungen verborgen – ein Geheimnis, das ebenso dunkel und rätselhaft schien wie diese Wohnung. Schon im Vorzimmer hatten uns düstere Ölbilder von Andreas Vorfahren empfangen, streng dreinblickenden Männern, die Schriftrollen in den Händen hielten, oder Frauen, denen man ihren Bürgerstolz ansah. Diese Leute, erklärte Andrea, seien Architekten, Ärztinnen oder Juristen gewesen, und beinahe alle hatten in derselben Straße gewohnt, in dieser Via Bersaglieri del Po.
Ich unterdrückte ein Gähnen, atmete die stickige Luft ein und betrachtete eine stehengebliebene Wanduhr. Die alten Geschichten ließen mich unberührt, ich war jung, und wollte mein gerade erst begonnenes Leben genießen. Vor allem liebte ich den Sport, weil er meinen in die Höhe geschossenen Körper kräftigte und mir das Gefühl verlieh, jeden Tag etwas stärker, ausdauernder, erwachsener zu werden.
In der Küche atmete ich auf. Im Unterschied zur übrigen Wohnung quoll der Raum vor teuren Elektrogeräten und edlen Designmöbeln über. Wir blieben einige Minuten hier und tranken Mineralwasser, das Andrea mit etwas Balsamessig versetzt hatte, was dem Getränk eine angenehme, trockene Säure verlieh.
„Für den Wein ist es noch zu früh“, meinte er verlegen, „außerdem gedeiht bei uns nur dieser Lambrusco: wenn du Glück hast, schmeckt der Fusel nach perlendem Essig. Und wenn du Pech hast…“, aber Andrea beendete seinen Satz nicht, sondern starrte nur das leer getrunkene Wasserglas an.
„Was ist, wenn man Pech hat“, setzte ich in meinem angelernten Italienisch nach.
„Dann,“ flüsterte Andrea, hob den Kopf und versuchte dabei zu lächeln, „dann schmeckt die verdammte Brühe nach Blut.“
Mein Zimmer gehörte Andreas älterer Schwester, die voriges Jahr einen jungen Mediziner aus Turin geheiratet hatte. Mir kam es so vor, als hätte Teresa diesen Raum erst vor einer Minute verlassen: ein typisches Mädchenzimmer, in dem beinahe alles in altrosa oder in einer an Lavendelblüten erinnernden Farbe gehalten war. Über dem Bett hing eine Art Vorhang, un baldecchino, wie Andrea beiläufig bemerkte. Er sah mir zu, wie ich meinen Koffer öffnete und die Kleider in den mannshohen Schrank zu räumen begann, dann warf er mir lachend einen Pantoffel entgegen und sagte, ich solle auf das dämliche Auspacken scheißen.
„Spielen wir lieber im Innenhof Fußball. Wir können die angebrochene Flasche Lambrusco aus dem Kühlschrank mitnehmen, und wenn du möchtest, drehe ich uns etwas zum Rauchen.“
Es waren keine gewöhnlichen Zigaretten, die Andrea im Hof drehte. Und es war nicht nur Tabak, den er auf die mit Spucke angefeuchteten Papierröllchen verteilte: er rieb Brösel von süßlich riechendem braunem Zeug dazu, leckte mit der Zunge quer über das befüllte Papier und rollte tatsächlich einen – Spinello.
„Du nimmst Drogen?“, fragte ich ihn beinahe entsetzt, während ich mit dem Fußball ein paar Kunststücke zu machen versuchte. Andrea schüttelte lächelnd den Kopf und meinte, das bisschen Gras schade keinem. „Wenn du möchtest, kannst du mitrauchen, aber wenn du lieber Ball spielen willst, lass es bleiben.“
Ich knallte den Ball gegen das Holztor, das wahrscheinlich Andreas Vater im Innenhof aufgestellt hatte. Trotz des gleißenden Sonnenlichtes war es beinahe kühl unter dem Schatten einer riesigen Eiche, die meisten Fenster standen offen, und irgendjemand schien uns von oben herab zu beschimpfen, aber es störte uns kaum. Wir bekifften uns, tranken Lambrusco und kickten mit dem Ball um die Wette, lächelten uns dabei zu und schienen langsam so etwas wie Freunde zu werden.
Als ich an diesem Abend im quietschenden Bett von Andreas älterer Schwester onanierte, weil ich nicht einschlafen konnte, hörte ich, dass Andrea im Zimmer nebenan dasselbe tun musste. Er stöhnte dabei, und ich hatte das Gefühl, er wollte, dass ich es hörte: um mich später zu etwas überreden zu können, woran ich nicht einmal im Traum dachte. Irgendwann hörte er auf damit, und ich bemerkte, wie der Lichtschein aus Andreas Zimmer an der Mauer des efeubewachsenen Innenhofes erlosch.
Ich zog die dünne Decke über meinen Körper und hörte in die Stille hinein. Ein blutroter Mond leuchtete hoch über der Stadt. Ein Hund schlug irgendwo an. Und dann hörte ich Schritte.
Schritte, die näherkamen. Vor meiner Tür innehielten. Ich starrte auf die Türschnalle. Verfolgte mit angehaltenem Atem, wie sie langsam nach unten gedrückt wurde. Und ein Schatten in mein Zimmer schlich.
Lächelnd.
Ganz eigenartig und kaltblütig lächelnd. ♦
Terminal 2
Ich nehme die Autoschlüssel, ziehe die Lederjacke an, schlüpfe in die Schuhe, versperre die Wohnung. Drehe mich um, blicke ins Treppenhaus. Atme tief durch. Dann laufe ich die Stufen hinunter. Ich beeile mich, ohne es wirklich zu wollen. Vor dem Haus der Parkplatz mit den abgestellten Autos. Die Morgenluft, scharf und klar, wie ein Schluck Schnaps. Diese leichte Brise von den Bergen im Westen her. Sonnenaufgang.
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Ich setze mich ans Steuer. Mein Gesicht im Rückspiegel ist gerötet vom Laufen, die Haare wirken zerzaust. Der linke Hemdkragen steckt unter der Lederjacke fest, auf dem Hemd sind Schweißflecken zu sehen. Etwas unordentlich wirke ich heute, ganz anders als sonst. Ich starte den Wagen, einen schnellen BMW. Edle Lackierung, 250 PS, beinahe neu. Vor weniger als einem Jahr erst gekauft.
Auf der Hauptstraße nur wenige Leute. Der Bäcker, der Gemeindearzt. Der Trainer des Fußballvereins, die Lehrerin meiner Kinder. An der Bushaltestelle müde Gesichter, die auf den Transport in die Hauptstadt warten. Fünfundzwanzig Kilometer Einsamkeit, Dösen. Bevor die Arbeit wieder beginnt, die freudlos verrichtete, aber notwendige Arbeit. Nach dem Ortsschild eine lange Gerade, wo manchmal schreckliche Unfälle passieren. Meist am Wochenende, wenn die jungen Leute von einer Diskothek zur anderen rasen. Unter Alkoholeinfluss, auf Drogen, mit diesem Übermut, der an einem Baum, einem Laternenpfahl, einer Hofeinfahrt endet. Mit dem Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, mit Bergescheren, Scheinwerfern und dem Kopfschütteln über die Toten, die aus den Wracks gezerrt werden müssen. Nachts im Regen, bei einsetzendem Schneefall, Glatteis oder nach einem Wolkenbruch, der die Straßen überflutet.
Nach einigen Kilometern Fahrt die Kulisse der Hauptstadt im Hintergrund, die Abzweigung zum Flughafen, die vielen Taxis und Limousinen, diese Geschäftigkeit aus Kommen und Gehen. Ich stelle meinen Wagen in einem Parkhaus ab, hole den Koffer, die Laptoptasche und den Staubmantel aus meinem Wagen und eile in die Abflughalle des Terminal 2, wo die Langstreckenflüge abheben. New York. Chicago. San Francisco. Buenos Aires. Bogotá. Lima. Zur Passkontrolle. Den Aluminiumkoffer abgeben. Vor dem Gate die anderen Passagiere mustern. Die vielen Geschäftsleute, die wenigen Familien. Ein paar Studenten und Globetrotter. Schick aussehende jüngere Frauen. Und ich. Der sein Gesicht in einem Spiegel betrachtet. Diese schwarzen Ränder unter den Augen. Die Bartstoppeln, die leicht angegrauten Schläfen. Den schmalen Mund. Die hohlen Wangen. Das Grübchen am Kinn.
Ich hatte wenig Schlaf, letzte Nacht. War lange wach gelegen, hatte dem ruhigen Atem meiner Frau zugehört. An meine Abreise gedacht. An den bereits gepackten Koffer. An mein Vorhaben, Schluss zu machen. Mit diesem freudlosen Leben, eingekerkert in einer Reihenhaushälfte. Mit einer Frau, die mich manchmal mit einem blonden Kellner betrog, mit dem Postbeamten, mit einem Studenten. Sogar unsere beiden Kinder waren mir gleichgültig geworden. So gleichgültig wie das Leben der anderen Leute.
Ein Lidschlag, und das Gesicht im Spiegel erlosch. Ich stand auf und ging mit den anderen Fluggästen zum Schalter hinüber. Wies mein elektronisches Ticket vor, legte die letzten Meter zur wartenden Maschine zurück, nahm in der dritten Reihe Platz: ich hatte es geschafft. Niemand schöpfte Verdacht. Kein Beamter in Zivil, der mit einer Stewardess ein paar Wörter wechselte und dabei in meine Richtung schaute. Die Kabinentüre wurde geschlossen. Die Gangway wich draußen zurück, das riesige Langstreckenflugzeug setzte sich sanft in Bewegung, rollte zur Piste hinaus, war nicht mehr aufzuhalten.
Ich dachte an meine Familie, die ich zurückgelassen hatte. Irgendwann würde jemand an der Eingangstür läuten. Der Paketbote, ein Nachbar, die Spielkameraden meiner Kinder. Aber niemand würde öffnen. Alles blieb ruhig in unserer Wohnung. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das Ticken einer Uhr. Nichts als Schweigen, als undurchdringliche Stille. Man würde den Notruf wählen und die Eingangstür aufbrechen lassen.
Schließlich betreten Polizisten die Wohnung. Mit gezogener Waffe. Konzentriert. Schweigend. Noch ein paar Sekunden, bevor sie die Toten entdecken. Die erschossene Ehefrau. Und meine erdrosselten Kinder. ♦
Mareikes Tod
Die Nachricht von Mareikes Tod ereilte mich in einem steirischen Wellnesshotel. Den Namen der Luxusherberge habe ich inzwischen vergessen, aber ich weiß noch, dass es in einem Entspannungsraum war: Ich lag auf einem vorgewärmten Steinbett, in essigsaure Tonerde gewickelt, von bioenergetischem Licht bestrahlt wie eine Ägyptische Mumie, eingehüllt im Duftreigen einer eigens für mich konzipierten Aromatherapie. Ich war gegen fast alles allergisch: gegen Katzenhaare und Blütenpollen, gegen Filzpantoffel, feuchte Kinderhände und schlechten Rotwein. Ich lag also da und versuchte mich zu entspannen, dachte an die Werbekampagne, die ich erst am Nachmittag zuvor fertiggestellt hatte, wie üblich ein Wettlauf gegen sämtliche Fristen, schließlich die Online-Präsentation, gefolgt vom freundlichen Nicken der Auftraggeber, und danach ab ins Wochenende, in dieses Wellness-Hotel. Ruhe, Entspannung und Golf, inklusive Facelifting, Ayurveda-Ernährung, Feng-Shui-Massagen und Yoga. Ich fühlte mich beinahe wiedergeboren, als mein Handy das ›Air‹ von J.S.Bach zu intonieren begann.
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Ich hätte den rechteckigen Suchtapparat nicht in den Entspannungsraum mitnehmen sollen, aber ich konnte mich kaum von meinem Heiligen Gral der Unruhe tren- nen. Ich seufzte und griff nach dem kleinen, silbernen Ding, beschmutzte es mit Gesundheitsschlamm und starrte auf das Display, bereit sofort aufzulegen, falls mein Chef dran war, aber nein: Er hielt sich offensicht- lich an sein Versprechen, mich unter keinen Umständen stören zu wollen. Die Nummer, die das Smartphone an- zeigte, war der mobile Anschluss meiner besten Freun- din Gaby. Wir beide kannten uns von der gemeinsamen Zeit an der Uni, hatten dieselben Vorlesungen besucht, waren in dieselben Theaterstücke gegangen und hatten dieselben Boutiquen, dieselben Winzer, dieselben Auto- renfilme bevorzugt. Manchmal kam es mir vor, als wären wir ein und dieselbe Person, eine Art doppeltes Lott- chen, das je eine halbe Karriere gemacht hatte: Gaby war Leiterin einer Non Profit Organisation geworden, und ich machte Werbekampagnen für Produkte, die kein Mensch wirklich brauchte. Gaby und ich verstan- den einander trotzdem perfekt.
Mareike ist tot, heulte Gaby ins Telefon, und für ein paar Sekunden wurde mir schwarz vor den Augen. Mareike – ermordet – in ihrer Wohnung – die Polizei ermittelt – komm sofort. Das waren in etwa die Wörter, die ich aus Gabys Heulanfall heraushören konnte. Ich verharrte re- gungslos wie eine Python im Eisschrank. Ein Standbild, eine Schlusseinstellung: mein Körper, eingepackt unter einer braunen Lawine aus Schlamm. Ich spürte, wie die Haut trotz der wundersamen Tonerde wieder spröde und rissig wurde, wie die Gelenkschmerzen und die Verspannungen im Rückenbereich zurückkehrten. Seufzend ließ ich das Handy zu Boden fallen, schloss die Augen und fühlte mich mehr als zerstört.
Mareike sollte tot sein? Ich konnte es kaum fassen. Wer um aller Welt hätte Interesse daran eine intelligente Frau, eine habilitierte Mathematikerin und angehende Unternehmerin, zu ermorden? Ein Geheimdienst, der hinter ihren Formeln und Theorien her war? Ein Irrer, der in ihre Wohnung eingedrungen war und hinter der Wohnzimmertür seinem Opfer aufgelauert hatte? Meine Vorliebe für Schlagzeilen und Katastrophenmeldungen, für billige Slogans und trashige Instagram-Reels kehrte zurück, mit einem Wort: Ich war wieder dieselbe. Aufge- kratzt, von tausenden schrägen Metaphern durchbohrt, von einer Stressinsel zur nächsten hüpfend – ich hatte ihn wieder, den Alltag. Aus Gerüchten, Halbwahrheiten und Stressanfällen geflochten.
Feng-Shui und Ayurveda waren wieder vergessen. Die Bachblütentherapie war verwelkt und die Tonerde auf meinem Körper roch nach einem Moor voller Leichen. Die erhoffte Entspannung war weg. Ich fühlte mich be- graben unter der angeblich so heilsamen Tonerde, be- kam einen klaustrophobischen Anfall, schrie um Hilfe, und drei slowakische Therapeuten stürzten zur Türe herein, befreiten mich aus der Schlammpackung, wu- schen mir die Kotze vom Kinn und offerierten ein Gläs- chen Sekt, das mich herunterholte von der Panikatta- cke, dann stand ich auf, noch immer benommen: von der Todesmeldung und der Macht des Schicksals er- schlagen.
Ich packte meinen Koffer, steckte das Smartphone in die Handtasche, startete den Wagen in der Tiefgarage des Wellnesshotels und raste in die Großstadt zurück. Mindestens zehnmal blitzten scharf gestellte Radargerä- te auf, bevor ich das Fahrzeug in die allerletzte Parklü- cke zwängte und wie eine Furie das trendige Lokal in der Innenstadt stürmte, wo Gaby schon auf mich warte- te, mit schwarzen Ringen unter den Augen und einem halb geleerten Cognacschwenker vor sich – eine Natura Morta der Selbstzerstörung und des Werteverfalls, der absoluten Verzweiflung.
Ich brauchte nichts mehr zu sagen. Mareike war tot, seit gestern Abend bereits. Ich blickte Gaby tief in die Au- gen und ahnte, dass uns anstelle eines Alibis ein dunkles Geheimnis verband. ♦