

Unveröffentlichtes
Andawörld
Roman
Teil 1 – C’era una volta: il sud ...
Ich bin gerade vierzehn geworden, aber keine Glückwünsche bitte: an diesen Geburtstag möchte ich mein Leben lang nicht mehr erinnert werden. Er war eine Katastrophe. Ein Desaster. Das größte anzunehmende Unglück. Der Supergau. Eigentlich reicht kein Wort dafür aus, um diesen Anti-Event zu beschreiben.
Dabei hatte alles richtig nice angefangen. Die Ausgangssituation war perfekt: Vater und Ersatzmutter nach Hamburg geflogen. Der doofe Halbbruder bei den Großeltern. Niemand würde zuhause sein – außer die Hauskatze, und vor allem ich. Das ganze Wochenende lang. Genau zu meinem vierzehnten Geburtstag. Es war die Gelegenheit schlechthin – jetzt oder nie!
Ich versuchte die Party so gut wie möglich zu planen: bunkerte Bier, legte (für die Girls) zwei Kartons Billigsprudel beiseite und organisierte über mein dubioses Kumpels-Netzwerk eine Ladung Wodkaflaschen, ganze 16 Stück von 15 unterschiedlichen Marken. Dazu Dutzende Pringles-Rollen, Butterkekse, Schokolade, ich gab mein ganzes Taschengeld für drei Monate im Voraus dafür her – alles für diesen einen guten Zweck: meine Mega-Geburtstagsparty. Der Laptop war an die Hausanlage angedockt, Sonos und Spotify-Playlists überall, gta v auf dem Riesenscreen im Wohnzimmer.
Und dann die Einladungen: auf WhatsApp, auf Signal, auf Kik, auf Snapchat, Tiktok und Instagram, auf all meinen Accounts. Nicht nur an die üblichen besten Freunde – nein, an alle. An die ganze Welt da draußen. Ich plante etwas Großes, den geilsten Flashmob aller Zeiten, zumindest hier in dieser öden Kleinstadt in Kärnten.
Ich hoffte, mindestens 1000 Leute würden unser verdammtes Grundstück stürmen. Darunter 800 leicht bekleidete Mädels. Unter oder über 18 egal. Hauptsache w – wie weiblich und willig und was-weiß-ich-was. Drei Tage vor dem Riesenereignis hörte ich auf mit dem Wichsen. Duschte mich freiwillig fünfmal am Tag. Klaute Papa eine halbe Flasche Parfum aus dem Schrank (okay, es war nur Rasierwasser, aber es roch nach der Großen Welt jenseits der Karawanken, nach Männern mit Durchblick, nach allen anderen als mir jedenfalls). 150 Avatare sagten zu, 300 Trolle waren interessiert – auch wenn nur die Hälfte davon anrollte, wäre die Party perfekt. Der Ablauf der Feierlichkeiten war richtig geplant: Zuerst allgemeines Herumhängen, Musik hören und zocken, ein paar Longdrinks reinkippen und dann ab in die diversen Zimmer des Einfamilienhauses. Der Rest würde eine Orgie in wogenden Fleischfarben sein. Zumindest in meiner schrägen Fantasie.
Am Freitag fuhren die Ellis weg, die Großeltern holten meinen Halbbruder ab – und ich war endlich allein. Bereitete alles vor, brachte mich in Hochform. Sogar das Wetter war top an diesem Samstag im März. Keine Wolke am Himmel. Sie würden in Scharen kommen, die partysüchtigsten Wichser der Welt. Und zu allem bereite Mädels bis an die Decke hoch. Ich hatte nichts zu verlieren, außer meine verdammte Unschuld. Und die konnte die ganze Scheißwelt da draußen haben. For free.
Leute, ich mache es kurz.
Niemand kam, zumindest niemand, der es wert gewesen wäre zu kommen. Nur die üblichen acht traurigen Leute. Kevin, Mohammed und noch ein paar Verlorene aus meiner Klasse, dazu die zwei hässlichsten Mädchen der Kleinstadt. Die eine roch nach Nudelsuppe und die andere hatte vor wenigen Tagen zwei Schneidezähne verloren. Die einzig geile Person auf der Party war Jonathan a.k.a. Johnny, sechzehn Jahre alt, aber so schwul wie Miami South Beach.
Um sieben Uhr abends war allen klar, dass sie auf der lahmsten Party der Welt waren. Die Pringles-Rollen und die Butterkekse waren trotzdem irgendwann alle. Kurz vor dem Hauptabendprogramm kamen noch zwei Typen, die aussahen, als hätten sie monatelang in einem Müllcontainer geschlafen. Sie waren mindestens 19 Jahre alt und soffen alle Wodkaflaschen leer. Dann kotzte der eine den wertvollen Teppich im Wohnzimmer voll und der zweite randalierte im Flur. Wer noch ein bisschen bei Trost war, floh vor dem Chaos bevor die Polizei kam: in drei Streifenwagen mit Blaulicht und Folgetonhorn, immerhin. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr standen mehrere Cops mit gezogenen Pistolen im Wohnzimmer. Da ich vierzehn Jahre und zwei Tage alt war, hagelte es gleich ein paar Anzeigen. Der Postenkommandant rief meine Alten an, und deren Wochenende in Hamburg war auch noch versaut.
Gegen dreiundzwanzig Uhr war ich der meist gehasste Mensch auf diesem Planeten. Die Stimmen meiner Erziehungsberechtigten überschlugen sich vor ohnmächtiger Wut auf den verdammten vierzehnjährigen Sohn. Kein Taschengeld mehr in den nächsten zwei Monaten, Hausarrest und Internetsperre. Keine Freunde mehr nachhause bringen, nur noch lernen. Rund um die Uhr lernen. Du bist eh so ein mittelprächtiger Schüler. Schäm dich gefälligst.
Hmmm (Das ist übrigens mein Signature-Laut, der im Verlauf dieser Geschichte noch ziemlich oft vorkommen wird).
Knapp vor Mitternacht hatte ich die schlimmsten Spuren beseitigt. Jonathan hat auch mitgeholfen, obwohl er im Aufräumen nicht besonders gut ist. Eigentlich hat er mich die ganze Zeit nur angeschaut und mir dabei billige Komplimente gemacht. Irgendwann kam er mit ins Schlafzimmer, und den Rest brauch ich euch nicht zu erzählen. Ihr könnt euch die Kirsche auf der Torte des Desasters selber ausmalen. Auf dem Doppelbett meiner Ellis habe ich meine Unschuld verloren. Ausgerechnet an Jonathan. Geblutet hat es auch noch, und Flecken gemacht. Braune, rote und weiße Flecken. Ich habe die Deckenleuchte angestarrt und Jonathan stöhnen gehört. Wenigstens er hatte seinen Spaß.
Wenigstens er.
Was für ein verdammter Opener, werdet ihr denken, was für eine verschissene Party, was für ein trauriges Ereignis. Trotzdem ist es mein Geburtstag gewesen. Der vierzehnte, aber egal. Nicht mehr der Rede wert. Mit der Zeit verblasst auch die größte Niederlage. Außer wenn Geo auf dem Stundenplan steht, oder Mathe oder Info oder ein anderer Gegenstand, der mich bis zum Geht-nicht-mehr langweilt. Dann träume ich mich vor mich hin und sehe aus dem Nebel des Vergessens die Bilder aufsteigen, die verschrammten Bilder einer vollkommen danebengegangenen Party.
– Weißt du, wie die Hauptstadt von Bulgarien heißt?
Ich schrecke aus den Trümmern des Geburtstagsfestes hoch: umgekippte Wodkaflaschen, das Nudelsuppenmädchen und das Girl ohne Schneidezähne, die obdachlosen Säufer von der Müllhalde und der Polizeieinsatz, die aufgebrachten Stimmen meiner Ellis (live aus Hamburg dazu geschaltet) und das Schmatzen hinterher im Schlafzimmer. Als ob mein Halbbruder da wäre und Schokoladeriegel mampfen würde. Dabei wurde ich nur von Johnny gefickt. Im Doppelbett meiner Alten.
– Welche Hauptstadt, welches Bulgarien? – Keine Ahnung.
– So heißt sie leider nicht.
Die Lehrerin mustert mich wie einen Scheißhaufen auf dem Gehsteig. Unter ihrem abfälligen Blick fühle ich mich minderwertig und winzig klein. Mein Sitznachbar Kevin deutet auf die blonde Klassenbeste in der ersten Reihe ganz außen. Eine Zicke mit adretter Kleidung, dicken Gleitsichtbrillen und einer Manie zur Besserwisserei.
– Hmmm, Sofia? (Jede Wette, dass jetzt gleich ein Donnerwetter losbricht).
Die Lehrerin strahlt.
– Gut gemacht, mein Lieber.
Mein Lieber – dass ich nicht lache. Ich bin der größte Gangster bei gta v, falls ihr überhaupt schnallt, was das ist. Wahrscheinlich will mich die alte Brillenschlange einfach verarschen: Eine Hauptstadt, die nach der größten Streberin auf dem Planeten benannt ist? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Aber was ist schon normal mit vierzehn?
Immerhin kriege ich ein kindisches Sternchen ins Mitteilungsheft. Ein Achtungserfolg. Auch wenn mir Kevin dabei geholfen hat. Aber egal: Sternchen ist Sternchen.
In der Pause zocken am Handy. Eigentlich starre ich seit dreieinhalb Jahren mehr oder weniger permanent auf Spielkonsolen und Displays. Ab und zu gerät noch ein Mensch dazwischen: mein Vater zum Beispiel. Oder mein Stiefbruder, der Dolm. Meine richtige Mutter nie, die ist vor zwei Jahren wieder nach Neapel zurück gegangen. Scheidung auf Italienisch. Oder so ähnlich. Mich hat sie wie einen Jutesack hier in der Kärntner Pampa gelassen. Lieber wäre ich mit ihr nach Kampanien gezogen: laute coole Leute dort, alle saufen Wein, rauchen Kette und sind Tag und Nacht mit ihren Motorini unterwegs. Also diesen lauten Mopeds, mit denen man noch in der engsten Gasse voll mobil bleibt. Damit fährst du jedem Carabiniere davon. Fast jeder Junge ab 10 Jahren hat so ein Ding. Wäre echt steil, jetzt in Neapel zu sein. Auf die Schule wird dort sowieso meistens geschissen.
Hier bei uns leider nicht. Ganz im Gegenteil. Das hat auch mit Papas neuer Ersatzfrau zu tun. Dieser Angela aus Hamburg. Eine totale Schreckschraube und Spaßbremse. Ich war noch nie in Hamburg, aber diese Stadt muss das komplette Gegenteil von Neapel sein. Kalt, windig, reich, doof. Mit dem schlimmsten Futter der Welt: eingelegte Heringe, Eintöpfe, Linsengerichte. Minderes Zeug, das nie im Leben an eine Pizza Margarita heran reicht. Und erst recht an keine Pasta. Hamburg, Labskaus und Matjesfilets – ich könnte heulen vor Wut.
Angela übersetzt dicke Wälzer ins Deutsche. Das bringt zwar wenig Kohle ein, aber dafür ist sie – wie heißt das noch – gebildet. Genau. Und verlangt das von jedem in ihrer Umgebung. Daher auch von mir. Schule ist wichtig. Superwichtig. Für dich, für das Leben, für Was-weiß-ich-was. Du kannst der letzte Wichser Österreichs sein, Hauptsache, du kennst die Hauptstadt von Bulgarien. Leute, ich bin dabei. Für zwei Sekunden. Danach geht die Leier vom ewigen Büffeln wieder los. Ich bin voll schlecht in der Schule. Das Problemkind. Mit den langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen. Im Sommer wird meine Haut richtig dunkel, obwohl ich kaum in der Sonne bin. Dann sagen Kevin und seine Freunde Asylantensau zu mir und kriegen dafür ein paar in die Fresse. So läuft das bei uns ab¬: bei der geringsten Kleinigkeit gibt es eine 1-A-Keilerei auf dem Schulhof.
Angela hat noch was mitgebracht aus Hamburg – etwas das hier gar keiner braucht. Am allerwenigsten ich. Der mickrige Zwerg heißt Sven, ist zehnkommafünf Jahre alt und altklug wie ein zerfleddertes Lateinbuch. Natürlich hat er eine Brille, so dick wie die Glaswand im Hallenbad. Und einen megahohen IQ. Kann alles, weiß alles – und verpetzt jeden. Mich alle paar Minuten zum Beispiel. Scheint seine Hauptfunktion als Stiefbruder zu sein. Seit Sven bei uns haust, ist die Gestapo bei uns. Jede gerauchte Menthol-Zigarette, jedes Herumwichsen, jeder Fluch, jeder Schluck Alkohol – wird alles von diesem Geheimpolizisten aus Hamburg registriert und an die Erziehungsberechtigen weitergeleitet. Jedes Frühstück, jedes Mittagessen, jedes noch so harmlose Beisammensein gerät zum Spießrutenlauf.
– Wisst ihr schon, was DER (rechter Zeigefinger in meine Richtung gereckt) wieder angestellt hat?
Dann folgen meine Heldentaten auf anders herum. Aus seinem Kindermund klingt alles richtig pervers. Mit der Stimme muss auch mein Gehirn entzweigebrochen sein. Ich komme mir vor wie ein minderjähriger Psychopath, der vorläufig noch frei herumlaufen darf. Nicht mehr lange, wenn der zehnkommafünfjährige Gnom weiterhin jede meiner Eskalationen mit der Genauigkeit eines Seismographen registriert.
Mein Vater nimmt das Ganze weniger tragisch. Eigentlich nimmt er überhaupt nichts ernst. Hauptsache, die Leute in der Kleinstadt kaufen seine verdammten Zweiräder. Ich glaube, er führt das Geschäft in der Bahnhofsstraße nur deshalb, um finanziell über die Runden zu kommen. Lieber würde er den ganzen Tag auf seiner orangeschwarzen Harley-Davidson in den Nockbergen herum düsen und dabei Motörhead hören. Der große Vorsitzende von denen ist zwar schon vor einigen Jahren abgekratzt, aber Motörhead sind immer noch ziemlich laut. Sehr laut sogar.
– Papa, stell bitte das knatternde Motorrad ab.
– Hey Junior, das ist “No Sleep till Hammersmith”, live aus der Stereoanlage.
Der Krach hört sich genau so an: wie fünf Tage durchmachen und sich nicht einmal waschen dabei. Irgendwie ist mein Vater schon Klasse. Den treibt nichts so schnell in den Wahnsinn. Nicht einmal seine Zweitfrau Angela aus Hamburg. Die Übersetzerin mit der schrillen Stimme. Einen Doppelnamen hat sie auch. Und ständig Migräne. Ihr Leben muss kompliziert sein. An ihrer Stelle würde ich es mit einer Überdosis Rudelbumsen probieren. Die Bachblütentherapie hätte da keine Chance mehr.
Der zehnkommafünfjährige Stiefbruder plärrt los wie eine Heulboje, was heißt wie eine, wie mindestens fünfzig.
– Rudelbumsen, er hat Rudelbumsen gesagt!
Der ausgestreckte Zeigefinger deutet noch immer unmissverständlich auf mich. Meine Blicke könnten jetzt jemanden locker umbringen, und wahrscheinlich ahnt ihr schon, wen. Fürs erste kriegt Sven einen mittelstarken Klaps auf die kostbare Gelfrisur, vom Style her Justin Bieber für den Kindergarten. Großes Geschrei. So läuft das ab bei uns jeden Tag. Eine irre Sitcom für Unterbelichtete. Die sonst kein anderes Publikum haben.
Die einzige Vernünftige in diesem Sauhaufen ist meine Schwester Teresa. Sie ist schon 20 Jahre alt, also richtig erwachsen. Sieht wirklich gut aus, wenn man auf Ältere steht. Dunkelblonde Locken – die Haarfarbe vom Papa, die Naturwellen von der Mama, wie sie sagt. Teresa lacht dauernd. Sie kann gar nicht anders als lachen. So richtig aus dem Zwerchfell heraus. Total nice irgendwie. Ich habe es auch probiert, aber davon nur Bauchweh gekriegt. Mein Lachen glaubt mir sowieso keiner. Ich bin 14 und muss eine Million Probleme haben. Was heißt eine Million, eine Milliarde. Zig Trilliarden von Problemen.
– Mama, er hat schon wieder was Unanständiges gesagt.
– Sven, krieg dich ein.
Teresa lacht los und alle lachen mit. Sogar ich. Lachen ist ansteckend. Wie Grippe oder der Tod. Nur auf halblustig eben.
*
Meistens halte ich sowieso die Klappe. Schweige wie ein Fisch vor mich hin. Habe den Kapuzensweater auf, sehe niemanden an, keiner soll mich anstarren. Natürlich passiert genau das Gegenteil. Alle mustern mich verächtlich, weil ich nicht mit hübschem Gesicht und zurecht gestriegelten Haaren aufkreuze. Ich habe mich damit abgefunden, eine einzige Beanstandung zu sein: deine Fingernägel, deine Frisur, deine dreckigen Jeans – na und – passt alles wunderbar zu meinen Gedanken. Seit einem Jahr bin ich noch dazu dauergeil. Als ob mir ein Unbekannter Cialis in den Tee kippen würde, und zwar zehn Tabletten täglich. Es ist echt verhext: ich sehe noch immer wie ein unzurechnungsfähiger Junge aus, aber im Runterholen bin ich Landessieger in der Profiklasse U16. Danach kommt die erste Freundin, hoffentlich. Oder die Gummipuppe. Oder die Klapsmühle. Oder alles auf einmal.
Ich habe Euch noch gar nicht mein Zimmer gezeigt, Leute. Mein Zimmer und davor noch mein BTX-Bike. Das Rad hat eine grasgrüne Lackierung und sieht richtig gefährlich aus. Man kann absolut jeden Scheiß damit machen. Sich tausendmal um die eigene Achse drehen, eine Treppe Vollgas hinunterfahren oder die steilsten Waldpfade in Null-komma-Nix absolvieren – alles kein Problem mit dem Bike. Tausend Prozent geländegängig, und das muss es auch sein. In unserer Einöde gibt es nur Gelände und sonst gar nichts. Komische Gegend. Ein paar Spinner machen hier sogar Urlaub (meine Ersatzmutter ist auf diese Weise hier gestrandet), aber egal. Sobald ich 18 bin, haue ich ab. Möglicherweise schon vorher. Eigentlich kann ich es gar nicht erwarten, dieser verdammten Kleinstadt den Laufpass zu geben.
Mein BTX ist trotzdem cool. Ich kann schon einige Kunststücke damit – vielleicht führe ich sie Euch einmal vor, wenn ich Zeit habe. Aber wann ist schon Zeit für die wirklich wichtigen Dinge? Ich bin zwar noch in der Unterstufe (was für ein erniedrigendes Unwort), aber mein Terminkalender könnte der von einem Manager sein: nach der Schule warten Gitarre-Stunden, der Tischtennis-Verein oder schnöde Bastelkurse auf mich – und was die Umwelt noch so alles vorhat mit mir. Jede Menge Arztbesuche zum Beispiel, Zähne regulieren und so. Mein Outlook-Kalender ist angefüllt mit Serienterminen und geblockten Nachmittagen, und wehe, ich lösche irgendwas davon. Dann gehen die Sirenen am Frühstückstisch im Dauerton los.
Mit dem Bike brauche ich höchstens fünf Minuten in die Schule, ich kann also gemütlich zehn Minuten vor dem ersten Läuten los radeln. Nach dem Unterricht benötige ich dagegen eine gute Stunde retour (kleiner Zigarettenaufenthalt im Stadtpark, über das große Leben schwadronieren und so). Den allergrößten Stressfaktor habe ich noch gar nicht erwähnt: meine 10.000 Messages muss ich auch irgendwann schreiben. Dazu Selfies machen und auf Instagram stellen. Im Schnitt kriege ich drei Likes dafür. Ich bin nicht gerade der Blogger-Star. Obwohl ich meine Haare andauernd style, jeden Tag in eine andere Richtung. Dazu löchrige Jeans, löchrige T-Shirts, löchriges Hirn. Irgendwie sehe ich alle paar Stunden anders aus. Vielleicht auch, weil ich gerade wie verrückt wachse: 1.65 – 1.69 – 1.73 – 1.76 – du kannst mir dabei richtig zusehen. Mein Vater ist 1.90cm. So groß will ich eigentlich nicht werden. Drei Zentimeter noch, so knappe 1.80 reichen. Vor allem bei 55 kg Gewicht.
Wie durch Zauberhand verändert sich gerade alles bei mir: der Rumpf, die Hände, die Nase, der Kopf, die Zehen. Vielleicht sogar auch die inneren Organe, das Gehirn, die Leber, die Lunge, das Herz. Richtig spooky ist das. Meine Stimme kiekst erbärmlich, ich bin geil hoch zehn, und mein Körper schnellt in die Höhe wie eine fleischfressende Pflanze. Voriges Jahr war ich noch 155 cm und der Liebling der Lehrer. Jetzt bin 176 und eine Art Eremit oder Aussätziger geworden. Ich habe auch nur wenige Freunde: Jonathan, Mohammed und vielleicht noch Kevin. Kein Mädchen weit und breit. Erst dreimal geknutscht, und das war mit einer Cousine in Neapel.
Vielleicht erbarmt sich ein Mädchen, wenn ich 25 bin und ein schnelles Cabrio habe. Oder zehntausend im Monat verdiene. Bis dahin ist es noch ziemlich weit: ich bekomme zwar 60 Euro TG im Monat, aber die brauche ich komplett für mich selber. Außerdem hat mein BTX nur einen Sitz. Also laufe ich solo herum. Bis ans Ende meiner Teenagertage. Zum Nasenbohren, zum Wichsen und zu unendlicher Langeweile verdammt.
Womit wir in meinem Zimmer wären – endlich. 15 Quadratmeter Einsamkeit, direkt unter dem Holzdach. Bett (90cm schmal – außer mir, dem Smartphone und einer Dose Pringles passt niemand hier rein), Schrank, Schreibtisch, Laptop, Gitarre (eine billige Fender), Skateboard (eigenhändig in mindestens 200 Farben besprayt) und jede Menge herumliegender Kleidungsstücke. Seit 3 Monaten bin ich selbst für mein Zimmer verantwortlich (eine von Angelas Erziehungsideen) – und so sieht es auch aus. Genau wie mein Innenleben: alles liegt planlos herum, im ganzen Chaos finde ich nichts mehr, und manchmal komme ich mir hier selber abhanden. Halb so schlimm, weil ich fast immer dasselbe Zeug trage: schwarze Jeans, schwarzen Sweater, schwarzes T-Shirt, schwarze Socken (obwohl die einmal weiß waren, glaube ich halt).
Irgendwo müssen noch Kehrrichtschaufel und Besen herumliegen, aber vielleicht habe ich diese Tools auch schon unabsichtlich entsorgt. Eine Kanalratte würde sich hier extrem wohl fühlen. Ein Mädchen dagegen auf der Stelle ohnmächtig werden. Vielleicht sogar praktisch, weil ich dann etwas anstellen könnte mit ihr. Mädchen reden sonst immer zu viel, und meistens das Falsche. Außerdem wissen sie nie, wer in der Bundesliga ganz oben ist. Kennen Arnautovic nicht. Halten West Ham für eine Art Wurst. Umgekehrt kenne ich mich in der Mädchenwelt ebenso wenig aus: Ist Balenciaga nicht eine Sängerin aus Haiti? Miss Sixty die dicke schwarze Gouvernante aus dieser Netflix-Serie? Und Blütenscheu ein Insektenvertilgungsmittel? Mit dem blöden Reden kommen wir also nicht weit.
Irgendwie bleibt mir ohnehin nur das Eine übrig: was man auf Youporn so anstarren kann, wenn der Kinderfilter einmal abgedreht ist. Bei uns passiert das so gut wie nie, dafür sorgt schon der Hamburger Geheimdienst. Zum Ausgleich präsentiert mir Kevin seine Errungenschaften aus dem Darknet am Handy. Aufblende: ein Schwein auf der Wiese. Und ein Typ mit einem Riesenständer daneben. Meine Pupillen weiten sich und werden groß wie Mühlräder: das Schwein, der Typ, der Typ im….
– Kevin, was ist das für ein Schweinekram?
– Ziemlich abgefahren, oder?
Hinterhältiges Lachen in drei Tonarten zugleich. Stimm- und Hirnbruch in einem. So etwas ist mein drittbester Freund. Kein Wunder, dass ich bin zur Matura für Mädchen gesperrt bin.
*
Es ist jetzt fünf Uhr nachmittags, und ich habe eine knappe Dreiviertelstunde für mich ganz allein. Auf WhatsApp warten 121 ungelesene Nachrichten auf mich, auf Instagram 15 und auf Snapchat gar nichts. Facebook haben nur noch die Alten. Ich forste das Ungelesene durch, aber nach den ersten drei Messages lösche ich alles. Lege das Smartphone weg. Starre an die Decke. Durch das Fenster dringt das Sonnenlicht herein und erhellt die versaute Bude. Im Lichtkegel sind eine Million Staubfussel zu sehen. Die Zeit ist irgendwie stehen geblieben. Es scheint nie wieder später zu werden als 17.13 Uhr.
Obwohl die Zeit still zu stehen scheint, sind jede Menge Hausaufgaben zu machen. Mathe-Info-Englisch-Deutsch-Geo – warum schlägt keine Luft-Boden-Rakete in der Nachbarschaft ein und löscht uns einfach alle aus? Der amerikanische Präsident scheint etwas Ähnliches vorzuhaben. Komm, mach schon, alter Mann! Erkläre Mittelkärnten den Krieg. Du brauchst nicht einmal sagen warum, greif uns einfach grundlos an. Ich warte noch zehn Minuten. Leider hat #therealtrump im Moment Wichtigeres zu tun als Raketen in unseren Vorgarten zu schicken: Golf spielen zum Beispiel. Es ist einfach auf niemanden mehr Verlass.
Das Smartphone winselt wie ein verhungernder Zwergpudel. Mein älterer Kumpel Jonathan meldet sich via Kik und will Tel-Sex mit mir machen. Er hat sich nackt in sein Zimmer gesperrt und lächelt erwartungsvoll mein Pixelbild an. Ich erstarre zur Salzsäule und lege mir hundert Ausreden zurecht.
– Komm, sei kein Frosch. An deinem Geburtstag warst du richtig süß.
– Sorry Johnny, aber ich muss in zehn Minuten zum Gitarrenunterricht. Und habe noch nicht einmal etwas geübt dafür (wenn jetzt der zehnkommafünfjährige Fähnrich des Deutschen Bundeskriminalamtes hereinkäme, dann gute Nacht!).
– Macht nichts, du geiles Ferkel.
Ich denke an den fetten Kerl mit dem Wollschwein auf Kevins Smartphone. Und vertröste Jonathan auf zehn Uhr abends. Wenn hoffentlich jeder Idiot die letzte Viertelstunde des Champion-League-Viertelfinales verfolgt. Ich hoffe, dass es nie 22 Uhr werden wird. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht, denn ich habe eine Vision: ein Meteor so groß wie Zentral-Liechtenstein wird heute Abend unsere verdammte Kleinstadt auslöschen – während ich im Gitarrenkurs einen uralten R.E.M.-Song vorzupfen muss: g-c-d-g-c-a….piuuuuh, bääääng! Etwas großes Orangefarbenes leuchtet auf, ich sehe noch eine riesige Feuerwalze auf mich zukommen, und dann ich bin ich nur noch ein Häufchen Asche: verbrannte Geschichte.
– Zieh dich jetzt trotzdem aus.
Es ist 22 Uhr geworden, all meinen Hoffnungen auf das Jüngste Gericht zum Trotz. So ist Jonathan eben, vor allem wenn es später Abend geworden ist. Ich seufze und mache das, was er will. Aber nur dieses eine Mal. Ausnahmsweise. Weil du es bist. Scheiße.
Ein anderer Freund von mir heißt Mohammed. Wie dieser Prophet in Korea. Oder heißt es Koran? Mohammed hat jedenfalls die gleichen schwarzen Haare wie ich, das verbindet uns irgendwie. Seine Haut ist aber viel dunkler als meine. Als ob er in Kaffee gebadet hätte. Mohammed kommt aus Syrien, diesem Bürgerkriegsland. Im Fernsehen zeigen sie oft zerbombte Ruinen davon. Jedenfalls ist dieser Kumpel Muslim. Das bedeutet, wir müssen nach der Schule zum „Lustigen Kalifen“ gehen – und dürfen nicht in „Rudis Leberkäshütte“. Die Kebabs beim Kalifen sind so scharf gewürzt, dass einem das Maul brennt davon. Was uns aber nicht abhält, das große, verdammte Leben zu besprechen. Meistens das Leben der anderen Leute.
Mohammeds Vater repariert kaputte Schuhe oder kopiert verloren gegangene Schlüssel, aber in Syrien war er Arzt. Leider ist ihm in diesem Bürgerkrieg alles abhandengekommen: die Papiere, die Wohnung in Aleppo, der eigene Kleinwagen, Kleidung, Geld, einfach alles. Sogar Mohammeds kleinere Brüder, die vor dem Haus ahnungslos mit einer Tretmine gespielt haben. Ein gigantischer Böllerknall, und die kleinen Körper waren über die ganze Straße verteilt, wie in einem Splatterfilm, nur dass alles verdammt echt war. Mega spooky. Kaum zu packen für mich Wohlstandsverwahrlosten (ich esse den Kabab trotzdem auf, irgendeine dunkelrote Sauce tropft auf mein T-Shirt, aber nicht so schlimm, weil es eh schwarz ist).
Nachdem Mohammeds Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war, sind der Vater und der übrig gebliebene Sohn aus Syrien abgehauen. Zuerst in die Türkei hinüber, dann nach Bulgarien (die mit der Streberinnen-Hauptstadt Sofia), Serbien, Kroatien, Slowenien, und schließlich über die grüne Grenze (wahrscheinlich ein Wald) nach Österreich. Also zu uns. Hierher in diese verdammte Kleinstadt. Keine Ahnung warum. Nach dreitausendzweihundert Kilometer Fußmarsch fragt man nicht nach dem Warum. Vielleicht hat es das Schicksal so gewollt. Oder Allah. Oder beide.
Die österreichische Regierung jedenfalls nicht. Die will Mohammed und seinen Vater wieder los werden. Warum weiß keiner. Zumindest habe ich keinen blassen Schimmer wieso. Mohammed ist intelligent, hilfsbereit, nett, das komplette Gegenteil von Kevin und mir und der ganzen übrigen Brut. Ohne ihn hätte ich die letzten drei Mathe-Arbeiten nicht geschafft, und die zwei in Info schon gar nicht.
Dafür schreibe ich ihm die Aufsätze in Deutsch. Bin also Mohammeds Ghostwriter. Bis jetzt hat das keiner gemerkt. Weil ich ein paar arabisch aussehende Kringel an den Blattrand male (ich kann meinen Namen und zehn Flüche in Aramäisch hin kritzeln) und eine dosierte Menge Rechtschreibfehler begehe. Für einen Dreier reicht es auf jeden Fall: Inhalt super, äußere Form der schriftlichen Arbeiten so lala, die Rechtschreibung hart an der Erträglichkeitsgrenze. Das Ganze nennt man Strategie oder so. Tarnen und Täuschen.
Mohammed hat einen IQ von 160 – wie bei einem Massenpsychotest festgestellt wurde (meiner war gerade mal 119). Trotzdem (oder wahrscheinlich deswegen) wird der Junge jede Woche verprügelt. Weil er verdammt intelligent ist, eine dunkle Haut hat, aus Syrien stammt und nicht einmal das Bleiberecht hat. Was immer das ist. Von mir aus kann Mohammed hundert Jahre bei uns bleiben. Eher würde ich Kevin und die tausend anderen Grenzdebilen aus unserer Schule nach Syrien verfrachten. Kleine Wutbürgerzellen aufbauen dort unten. Als ob die dort nicht schon genug Bürgerkrieg hätten.
Bevor die Fremdenpolizei anrückt, wollen wir beide abhauen: Mohammed und ich. Das ist jedenfalls unser Plan. Einer unserer Pläne. Am besten nach Neapel. Zu meiner Mutter und den dreihundert Cousins, die alle Kette rauchen, auf die Schule scheißen und Millionen von Schimpfwörtern kennen. Neapel ist echt geil: richtig schön dreckig und voller Lärm, ein bisschen wie Afrika, aber aufpeppt mit Pizza, Pasta und Rotwein. Blöderweise darf Mohammed keinen Alkohol trinken, ich eigentlich auch noch nicht, aber ich scheiß drauf. Bis jetzt habe ich schon drei Riesenräusche gehabt: alle bei einem Feuerwehrfest. Bier, rote Spritzer und eine Art Nusslikör. Zuerst wirst du geil, dann redest du wie ein Wasserfall und zum Schluss schläfst du zwischen Traktorreifen und Kuhfladen ein. Mit vollgepisster Hose. Ein Anblick für Götter. Mohammed lacht. Ich grinse dreckig. Wir teilen uns eine Cola und sehen einander tief in die Augen, als ob dort ein Geheimnis geparkt wäre. Aber das ist keins. Oder eines, das ich noch nicht verstehe.
*
Der Hunger vertreibt mich aus meiner Müllhalde unter dem Holzdach. Es ist Sonntag, der absolut schlimmste Tag der Woche: alle treffen sich in der Wohnküche, so mittelmäßig heraus geputzt noch dazu (mit einer Ausnahme: ich in meinem schwarzen Selbsthass-Outfit). Mein Vater, der Zweiradhändler, seine neue Lebensabschnittspartnerin aus Hamburg, der zehnkommafünfjährige Dolm von Stiefbruder, der noch dazu Sven heißt, also wirklich. Und meine richtige Schwester namens Teresa. Ohne „H“. Nach Teresa de Sio, der Lieblingssängerin unserer neapolitanischen Mamma – mit Doppel-m natürlich, sonst gilt’s nicht. Wir fünf passen ungefähr so gut zusammen wie Würstchen, Schlagobers, Sellerie, Currysoße und Schokoladentunke. Ein Patchwork aus den seltsamsten Geschmäckern der Welt. Wir vertragen uns kaum, weil wir nicht richtig zusammengehören. Das fängt schon beim Essen an: Heringssalat und Kasseler Rippchen. Der fette Majofisch ist kaum runter zu würgen, und das Hauptgericht sieht aus wie ein Scheißhaufen mit einem großen Fleischbrocken drauf. Kulinarisch das Ende der Welt. Oder der ganze Stolz Hamburgs. Was ungefähr dasselbe ist.
Nach drei Würgeanfällen renne ich aufs Klo und kotze die Muschel voll. Halbwüchsiger Ekel und Trotz können fürchterlich sein. Ich verdrücke ein paar Tränen, weil ich beim Speiben an eine Pizza Margarita denken muss. Und an die Quartieri Spagnoli in Neapel. An meine Cousins, die mit 14 schon alle gefickt haben. Zumindest den Nachbarshund. Nur ich knie hier vor dem Wasserthron und kotze mir sämtliche Därme aus dem Leib.
Das Vanilleeis ist für mich heute gestrichen. Aufgrund meiner Essverweigerung bei der Vor- und Hauptspeise. Papas Ersatzfrau will ihre norddeutschen Prinzipien durchsetzen. Was mit meiner neapolitanischen DNA nicht zusammen passt. Mein Vater schweigt, aber hinterher wird er mir 20 Euro zustecken und sich damit aus seiner Feigheit rauskaufen.
Ich sperre mich in mein Zimmer und starre – wieder einmal – an die Decke. Die Holzlatten dort oben sind schon richtig zerschaut. Ich flüchte mich ins Zocken und werde zum Viertelhelden in einer Online-Zockerrunde von gta v. In der realen Welt wird es Abend, und alle kommen per WhatsApp oder Instagram aus dem Wochenende zurück: Hast du die Mathe-Hausaufgaben gemacht? Und Info gelernt? Für Geo gebüffelt?
Nö, ich habe mir hundertzehn Mal einen runtergeholt. Und an die Holzdecke gestarrt. Acht Butterkeksrollen verputzt. Mitten im Chat fällt mir wieder das Kotzen von heute Mittag ein. Das Hochwürgen von Dingen, die nur in Hamburg für essbar gehalten werden.
– Kocht deine Mutter auch so grauenhaft?
Ich schicke ein paar Beweisfotos auf Instagram los, und der digitale Verbündete ist aufrichtig entsetzt.
– Das sieht ja voll Scheiße aus, Alter.
– Schmeckt auch genauso.
– Du Armer.
– Egal. Immerhin kann ich jetzt „My Hero“ auf meiner Akustikgitarre spielen, und „Boulevard of Broken Dreams“ auch. Den Audio Stream reiche ich nach. Aber ich singe nicht dazu. Meine Stimme bringt seit Wochen keinen geraden Ton mehr heraus. Ist anscheinend in Millionen von Klangscherben zerbrochen. Hmmm.
Es endet immer mit diesem Hmmm. Keine Ahnung, warum. Ist einfach so. Ein Achselzucken, das war‘s. Im Achselzucken gehöre ich auch zur erweiterten Weltspitze. In meinen Kopfhörern wummern Technolab oder so. Eigentlich könnte es ewig so weiter gehen mit dem Butterkeks-Fressen, An-die-Holzdecke-Starren und Am-Pimmel-Herumspielen. Vielleicht noch etwas Zocken dazwischen. Das auf jeden Fall. Meine echte Mamma – die mit zwei m aus Neapel – meldet sich via FaceTime. Ihr fällt sofort auf, dass mein Zimmer seit Tagen oder Wochen unaufgeräumt ist. Inoltre: Deine Haare wuchern nach allen Seiten. Die Fingernägel sind schwarz. Und deine Zähne, deine Haut, die schwarzen Ränder unter den Augen – alles ein Bild des Jammers.
– So wirst du nie ein Mädchen betören.
– Mamma, was bedeutet in-fa-tuare?
Ich höre eine Sintflut an Wörtern, die das umschreiben, was ich mir sowieso längst gedacht habe: bumsen, schnackseln, nageln, ficken – als ob das alles mühsame Handwerksarbeit wäre. Sagen wir lieber betören dazu. Klingt romantischer. Nach einem blonden Mädchen mit langen Zöpfen und guten Noten. Einer Vorliebe für Erdbeereis und Ariana Grande. Ich hätte lieber eine geile Nutte mit Riesentitten for free. Ich glaube, ich lasse das mit dem Betören und widme mich der dreckigen Handarbeit. Spaß macht es keinen, weil ich dabei fast immer einen Krampf in der rechten Faust kriege. Trotzdem starre ich oft auf das Ding zwischen den Beinen: steif, heiß, groß. Also größer als normal. So wahnsinnig groß ist er leider nicht. Kevin, Jonathan und Mohammed haben bereits ganz andere Säulen errichtet.
Den Pimmel anfassen ist irgendwie super und gleichzeitig die totale Niederlage. Das Eingeständnis, dass du allein bist. So richtig allein. Manchmal werde ich so geil, dass ich eine lahme Großmutter im Altersheim anfallen könnte. Und dann vergesse ich wieder Tage lang, den verdammten Pimmel zu traktieren. Zocken ist auch super. Und Leute auf Snapchat verarschen.
Während ich so allgemein über das Leben nachdenke, ist meine echte Mamma vom Smartphone Display verschwunden. Sie redet immer italienisch mit mir, und ich antworte – sofern ich überhaupt antworte – auf Deutsch. Wir verstehen uns trotzdem prima – außer sie bildet sich ein, über meinen Style herziehen zu müssen. Ich finde das megastarke Gel in meinem Emo-Haar super. Weil dann kein Mensch merkt, dass ich seit fünf Tagen ungeduscht bin. Ist auch egal. Hauptsache, ich entkomme den Bullenbrigaden auf gta v und die Butterkekse gehen nicht aus.
Es ist schon Mitternacht vorbei, und der blöde Sonntag ist alle. Ich sollte längst pennen, hänge aber noch immer in einem Chatroom herum. Lauter 14jährige, die in echt über 50 sind – und sich wie Volksschüler aufführen. Ich erkenne sie daran, dass sie Rotwein trinken und keine Ahnung haben, was gta v bedeutet.
*
Der Montag frustet mich an, wie es nur Montage können. Draußen lacht uns die Sonne aus, drinnen in der Klasse ist es Mag. Eisenpichler: Rückgabe der Englisch-Schularbeiten. Ein einziges Schlachtfeld, Waterloo und Culloden zusammen. 15 Nichtgenügend werden verteilt, und ich bin natürlich dabei. Ganz vorne, bei den aussichtslosesten Fällen. Ich starre auf das viele Rot aus der Füllfeder des Englischprofessors und überlege mir Ausreden für zuhause. Nützen wird es nicht viel. Papas Deutsche Ersatzfrau wird ausrasten, und wie. Für sie ist Schule das Allergrößte. Das Allerwichtigste. Das Allerheiligste. Die letzte große Mission. Ihr ganz persönliches Power Up: Panzerung und Lebenskraft zugleich oder so. Auf jeden Fall ein ziemlich dämliches Detox-Programm.
In der Pause muss ich jemanden verprügeln. Ich brauche keinen Anlass dafür, ich habe einfach Bock, meine Faust in einer x-beliebigen Fresse zu parken. Ich suche mir Kevin aus, den Sohn des FPÖ-Bürgermeisters. Er sitzt in Geographie neben mir und spielt dann entweder auf seinem Smartphone oder an seinem Pimmel herum. Call of Duty oder Porno, das ist die Frage. Kevin hasst Ausländer wie sein Vater. Ist das jüngste Mitglied einer Pennäler-Burschenschaft. Säuft Bier wie andere in unserem Alter Seven-Up. Beschimpft jeden Mitschüler als Wichser und holt sich selber fünfmal am Tag einen runter. Ein Nachwuchswutbürger und Ego-Shooter. Will der übernächste Innenminister werden und ist praktisch Analphabet. Das österreichische Schulsystem versagt kläglich bei ihm. Bei mir übrigens auch. Irgendwie bei uns allen.
In der großen Pause gehe ich auf Kevin los. Draußen im Schulhof neben den Mülltonnen. Mein Opening: eine kleine erste Beleidigung. Seine Standard-Antwort: Scheißwichser.
Ein Aufschrei meinerseits, und dann fliegen die Fäuste. Kevin kriegt mächtig was ab und ich auch. Einige Zwölfjährige bilden einen Halbkreis um unsere Keilerei und feuern uns an. Nach dreiminütigem Gefecht trennt uns der Religionslehrer. Meine Unterlippe ist aufgeplatzt, das schwarze T-Shirt mit der Aufschrift „Feuer frei“ ist zerrissen. Kevin hat ein schiefes Maul, ein blutendes Ohr und schielt irgendwie komisch. Nachdem uns die Schulsekretärin notdürftig verarztet hat, stehen wir kleinlaut vor dem Schuldirektor, einem hundert Kilogramm schweren Klumpen aus Vorwürfen und unbeherrschtem Geschrei. Ich halte ein Taschentuch vor dem Mund, und Kevin hat ein Riesenpflaster auf dem Ohr. Sieht wahnsinnig komisch aus, zumindest für uns. Für den Tyrannosaurus Rex vor uns weitaus weniger. Es setzt eine Standpauke vom feinsten. Der fossile Aufreger will alles wissen: wieso, warum, warum, wieso?
– Hmmm (wieder einmal). Keine Ahnung. So halt. Weil Montag ist. Wer mag schon Montage? Ich habe einen Fetzen in Englisch kassiert und musste meinen Frust in Kevins Fresse loswerden.
So einfach ist das. So einfach wie logisch. Finde ich halt. Ich überhöre die Vorhaltungen des Schuldirektors und denke daran, dass ich gestern um diese Zeit gta v in meinem Zimmer gezockt habe. Ich hatte mir Franklins Rolle ausgesucht und wartete mit einem Scharfschützengewehr auf Trevor und Michael, die mit einem geklauten Helikopter zum IAA-Headquarter flogen. Überall auf dem Screen waren Polizeiautos, Flammenwerfer, Granaten, Panzerfäuste – ratterratter-knall-rumsbums, einfach super. Ich war der Nachwuchs-Hero im Spiel. Bis ich von einer schrillen Stimme zu Kasseler Rippchen gerufen wurde. Dem schlimmsten Fressen auf Gottes Erdboden. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen und etwas Konversation mit dem Doppeldoktor hinter dem Schreibtisch zu führen.
– Haben Sie gestern auch solchen Fraß runterwürgen müssen?
– Waaaaaas?
Mist, diese Frage ist mir jetzt einfach herausgerutscht. Die Antwort ist 42. Sagt mein Vater immer. Keine Ahnung warum. Meistens hat er dabei ein dreckiges Handtuch auf der Schulter und streckt den Daumen hoch. Wahrscheinlich irgend so ein Insiderjoke. Die Fünfzigjährigen sind alle plemplem. Hören Motörhead, AC/DC und ZZ Top. Mein Alter zumindest. Wenn ich ihn so anschaue, hört die Pubertät nie auf. Na super. Die nächsten vierzig Jahre werden wohl genauso dämlich verlaufen.
Der Direktor hebt zu einer Klage über den Sittenverfall im Allgemeinen und die Jugend von heute im Besonderen an. Mit letzterer sind wir gemeint: Kevin und ich. Der übernächste Innenminister, der alle Flüchtlinge ausrotten wird, und ich, der anonyme Held aus gta v-LTS (Last Teen Standing). Die allerletzte Version, kurz bevor die Typen von Rockstar North ins Hospiz eingeliefert werden. Ich muss unbedingt nach Schottland fahren. Dort gibt es Whisky, Trolle, Spieleentwickler. Und fassgelagerten Cider.
Der Direktor verdonnert mich zur Mitwirkung bei der nächsten Schultheateraufführung im Herbst. Oh Mann, es gibt nichts Schwindligeres als die hauseigene Laienspielgruppe. Bei der letzten Vorstellung des krassen Ensembles bin ich nach zehn Minuten eingepennt. Ich weiß noch, dass ein Typ aus der Oberstufe an einem Fuchsschweif herumgespielt hat. Das öde Stück hat in einem falschen Wald gespielt und Sommernachtstraum geheißen. Ende Oktober bringen sie „Die Räuber“ heraus. Von einem gewissen Schiller oder so. Vielleicht kann ich da meine Grand-Theft-Auto-Erfahrungen einbringen. Die Räuber, das klingt wenigstens geil kriminell: nach bewaffneten Auseinandersetzungen auf offener Bühne, nach Verfolgungsjagden und Messerstechereien. Vielleicht können wir sogar die bescheuerten Zuschauer als Geiseln nehmen. Ich hoffe, das Drehbuch liest sich einigermaßen spannend. Am besten wenig Dialog, viel Geballer und Action. Eine sehr moderne Inszenierung. Viel Hoffnung auf ein Mega-Entertainment mach ich mir nicht. Der Regisseur ist nämlich der fossile Schreibeutel vor mir.
Kevin hat es allerdings noch schlimmer erwischt: er muss 14 Tage lang Klofrau spielen und jede Verunreinigung auf den Knabentoiletten melden. Dass in der letzten Kabine die Wichse von Wänden herunterläuft oder so ähnlich.
Nach diesem glorreichen Vormittag verlasse ich einigermaßen geknickt das Umerziehungslager und fummle vor der irren Anstalt an meinem grasgrünen Italo-Bike herum. Ein zwölfjähriger Junge sieht mich bewundernd an. Ich erkenne ihn wieder: er ist einer von den Jungs, die Kevin und mich im Schulhof angefeuert haben.
– War echt cool, eure Keilerei.
Es fehlt nicht viel, und der Kleine rollt einen roten Teppich aus für mich. Er sagt, dass er Christian heißt und gern mein Freund werden möchte. Für ihn bin ich der totale Hero: siebenhundert Tage älter als er, mit aufgeplatzter Unterlippe, zerrissenem T-Shirt und hunderten Löchern in der Skinny Jeans, gut die Hälfte von mir reingestanzt. Dazu obszöne Kugelschreiberbotschaften und Airbrush-Flecken. So was von cool. Für einen Zwölfjährigen halt. Ich schaue ihn an, ein bisschen so von oben herab, was nicht allzu schwer ist: 1,76 zu 1,45. Maximal. Ich weiß, dass seine Alten gerade geschieden werden und seine Sis eine der allergeilsten Oberstufenzicken ist, mit Töpfen so groß wie Grabhügel. Was würde ich dafür geben, um nur ein einziges Mal diese Möpse befummeln zu dürfen: meinen linken Unterarm (den rechten brauch ich zum Gitarre spielen, Zocken und Wichsen), drei von meinen vier Jeans, und die letzte Englischschularbeit. Mindestens. Von mir aus eine halbe Pringle‘s-Dose on top dazu.
Ich quatsche ein wenig mit dem Zwerg aus der Zweiten. Irgendwie ganz angenehm. Manchmal tut es richtig gut, wenn man nicht nur als wandelnder Scheißhaufen wahrgenommen wird. Wir teilen uns einen aufgeweichten Schokoriegel und kriegen dreckige Finger davon, die wir uns gegenseitig ablecken. Dann gehen wir die Boy-Liste durch: worauf wir abfahren und was wir auf den Tod nicht ausstehen können. Eigentlich mag ich im Moment so gut wie gar nichts. Christian dagegen voll viel. Er ist noch so begeistert vom Leben. Weiß schon ganz genau was er werden will (Architekt, Pilot oder Rennfahrer).
– Und DU? (Dauernd dieses nervige „Und-Du?“)
Keine Ahnung, kein Plan, keine Perspektive. Nur dieses große Irgendwie im Kopf. Falls ich überhaupt noch einen Kopf habe. Am besten, ich erschieße mich morgen bei den Mülltonnen. Mit einer geklauten Glock. Und einem Magazin aus hundert Patronen. Gta v färbt irgendwie ganz schön krass ab.
– Darf ich noch nicht spielen, sagt Chris.
– Klar darfst du das: wenn du einmal zu mir kommst.
Diabolisches Grinsen und Augenzwinkern. Dann setze ich nach.
– Ich treibe dir das verdammte Kindsein schon aus. In einem Monat wirst du nur noch zocken, dein Zimmer von innen absperren und dir Orgien mit deiner Schwester ausmalen.
– Was sind Orgien?
Bei Christian muss ich ganz von vorne anfangen. Wir gehen zusammen durch die öde Kleinstadt, ich schiebe sogar mein doofes Bike neben mir her. Keine Ahnung warum ich das tue. Vielleicht aus Mitleid oder so ähnlich. Wir teilen uns ein Eis vor dem Bahnhof. Chris leckt die Erdbeerkugel auf, und ich mache mich über die Pistazienseite her. Die Eistüte wandert wie ein Joint zwischen uns hin und her. Irgendwie riecht es nach guter Tat oder Infanterie. War jetzt das falsche Wort, glaube ich, aber egal. In meinem Kopf geistern sowieso nur die falschesten Wörter herum.
Am späten Nachmittag taucht Mohammed bei uns auf. Der Sohn des Schusters oder des Arztes, je nachdem. In Aleppo hat Mohammeds Vater Kiefer operiert, jetzt repariert er halt Schuhe. Neue Sohlen kosten 10 Euro. Oder er kopiert verloren gegangene Schlüssel. Auch für 10 Euro oder so. Mohammed soll mir Mathe beibringen. Mein Vater drückt ihm dafür einen rostroten Schein in die Hand. Wieder so eine 10-Euro-Geschichte.
Mich auf Mathe scharf zu machen ist ungefähr so aussichtsreich wie einen Rollstuhlfahrer zum Stabhochspringen zu überreden. Wir bringen beide nicht die besten Voraussetzungen mit, ich schon gar nicht. Mohammed faselt irgendetwas von Vektoren. Ist das nicht dieses feindselige Pack aus gta v? Ich überlege, ein paar virtuelle Panzerfäuste auf diese verdammten Vektoren los zu lassen. Raahhh wumms! Voll eins in die Vektoren-Fresse. Und noch eins. Und noch zehn weitere Salven. Ich verliere mich in den Weiten meiner dreckigen Fantasie, bis mir Mohammed derb in die Hüften boxt. He, Aufwachen, Faulpelz! Könnte fast die Stimme des schnöseligen Bundeskanzlers sein: Bewegt Euch, ihr Säcke, sonst wird Euch die Mindestsicherung gestrichen.
Ich schrecke hoch. Die Panzerfäuste sind weg. Die Brillantine im Haar, die großen Ohren und der knappe blaue Anzug lösen sich auf, und der blasierte Kanzler hat sich wieder in meinen Kumpel Mohammed verwandelt.
– Weißt du jetzt, was Vektoren sind?
– Hmmm. Hat irgendwas mit Pfeilen und Bewegungen im Raum zu tun. Ungefähr wie so wie Darts. Nur viel langweiliger.
Mohammed sieht mich an wie den Leibhaftigen. Dann beginnt er zu lachen, nimmt einen Zettel aus der Schublade und rechnet mir irgendwas mit drei Unbekannten vor. Der Kugelschreiber gleitet flink über das Blatt und füllt es mit seltsamen Zahlen und Zeichen. Ich blicke immer weniger durch und denke daran, dass ich schon zehn Stunden ohne Grand Theft Auto zugebracht habe – höchste Zeit für den nächsten kriminellen Auftrag vom Boss. Am besten, ich schlüpfe jetzt in die Rolle von Trevor: Einen Lamborghini klauen, ein paar Maschinenpistolen bei einem pockennarbigen Typen in der Hafengegend abholen und sich auf die Suche nach den zwei Tonnen Marschierpulver begeben, die der Boss für seinen illegalen Swingerclub braucht.
– Was kommt da heraus, fragt Mohammed und sieht mir tief in die Augen.
Unter der Schreibtischspitze lauert ein „x“ und ein „=“. Und dann nichts mehr.
– Hmmm, antworte ich, zehntausendzweihundertzwölf?
Ich komme mir ziemlich schlau dabei vor.
Mohammed schreibt eine Quadratwurzel und eine „4-2“ auf das Blatt. Die Antwort ist die Quadratwurzel aus 42. Knapp daneben.
– Du hast ja von Nichts eine Ahnung.
– Hmmm. Kann sein. Vom Nichts allerdings wahnsinnig viel.
Nachdem sich Mohammed seufzend getrollt hat, entert eine Indianerbande mit aufgeregtem Geheul und schwingenden Plastiktomahawks meine Müllhalde unter dem Dachstuhl. Sie nehmen den spielsüchtigen Psychopathen als Geisel und fesseln ihn mit Blechhandschellen. Ich könnte die zwei Nachwuchsindianer (meinen Stiefbruder Sven und seinen schrägen Kumpel aus dem Kinderhort, der wie Schweinchen Dick auf Stelzen aussieht) mit ein paar Tritten über die Holzstiege nach unten in die Diele befördern, aber ich lasse meine Aggressionen im Zimmer liegen, unter all den verwichsten Unterhosen und T-Shirts.
Mein Schicksal endet an einem Marterpfahl im Garten (also der Wäschetrocknerstange). Die zwei Indianer (mit Lippen-, Kajal- und anderen Stiften aus Angelas Schminkkoffer mehr beschmiert als bemalt) tanzen mit lautem Geheul um mich herum und beginnen mich zu martern (anspucken, hintreten, mich mit Papierfutzeln aus Kugelschreiberröhrchen beschießen). Irre präpubertär und doch irgendwie…geil. Gegen meinen Willen kriege ich einen Ständer. Vielleicht bin ich der größte Perverse auf dem Planeten. Wer sonst kriegt, mit Spielzeughandschellen an einen Wäschetrockner gefesselt, einen richtigen Ständer?
Schweinchen Dick spuckt mich an wie ein Lama. Mein Stiefbruder haut mir einige Male mit einem Haselnussstecken auf den Kopf. Irgendwann reicht es mir. Mit einem Ruck breche ich die Spielzeugfesseln entzwei und verhaue die beiden. Während ich auf den beiden Schmalspurindianern kniee und in ihre Weichteile boxe, kommt die Hamburger Bildungsministerin über mich und stellt mich zur Rede: Was fällt dir ein? Mit vierzehneinhalb auf Zehnjährige einzudreschen? Bist du noch zu retten?
– Die zwei Dolme haben aber zuerst angefangen.
– Du bist doch viel älter als sie und solltest es besser wissen.
– Zusammen sind die verdammten Pisser eh schon 21.
Angela hält mir meine Gossensprache, mein ungepflegtes Äußeres, mein ganzes verlaustes Dasein wie ein Sündenregister vor. Meine Einwandbehandlung scheitert spektakulär, und schön langsam beginne mich schuldig zu fühlen. Der eigene Nachwuchs ist einem doch näher als der Volltrottel von Stiefsohn.
Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich das hämische Grinsen von Sven. Ich nehme mir vor ihn bei nächster Gelegenheit auseinander zu nehmen wie ein verrostetes Fahrrad.
*
– Glaubst du, dass sie Mohammed wirklich abschieben werden?
Ich sitze mit Jonathan auf dem Dach einer Kapelle im Stadtpark und lasse die schlanken Beine ins Leere baumeln. Es ist cool da heroben. Wir können den ganzen Park überblicken. Manchmal werden wir von einer alten Frau angefaucht, weil wir das verdammte Heiligtum entehren. Ich rauche meine fünfte Marlboro und versuche so lässig wie Martin Garrix bei einem Tomorrowland-Auftritt zu wirken. In Wirklichkeit mache ich mich fast an vor dem zahnlosen Geschrei dort unten. Die Alte regt sich auf über die Jugend von heute. Über unsere Schamlosigkeit. Und dass wir alle nicht mehr wüssten, wo das Brot herkäme und so. Irgendwie will das Gezänk gar nicht mehr aufhören.
Wo waren wir noch stehen geblieben, genau: wer zum Teufel will Mohammed abschieben, und wenn ja – wohin? Ich stoße etwa achthundert Ringe hintereinander in die Luft und versuche dabei nicht zu husten. Meine Lunge kapituliert beinahe, aber ich gebe mich gelassen und hoffe, dass ich schön arrogant rüberkomme: as cool as fuck.
– Du schnallst echt gar nichts, lächelt Jonathan und versucht mir wieder tiefer in die Augen zu sehen.
Ich finde Johnny voll okay, aber für so tiefe Jungenblicke bin ich nicht wirklich gemacht. Ich steh doch auf Mädels. Rede ich mir wenigstens ein. Auch wenn mir das beste Stück zwischen den Beinen gerade etwas anderes vormacht.
– Die Bullen, antwortet Jonathan nach gefühlten einhundert Jahren, sie werden Mohammed wieder nach Syrien abschieben. Zusammen mit seinem Dad.
Johnny sagt nie Vater, sondern immer nur Dad. Wie ein amerikanischer Collegeboy, der nur auf trainierte Fleischberge über 40 Jahre abfährt.
– Und wieso, frage ich im Super-Slow-Motion-Modus zurück, als hätte ich keine fünf Marlboros sondern hunderte Joints inhaliert.
– Weil er und sein Dad (schon wieder!) kein Bleiberecht haben.
Wieso sind immer alle, die ich kenne, schlauer als ich? Ich schaue auf meine löchrigen Jeans – vor allem aber auf Johnnys Hand, die sich meinem Sperrbezirk nähert. Ich weiß seit mindestens einem Jahr, dass Jonathan schwul ist. Normalerweise haue ich mich darüber ab wie alle anderen Hetero-Jungs. Man lacht immer gern über etwas, das man nicht kennt oder noch weniger begreift. Bis zu meinem Geburtstagsfest war mir das auch sowas von wurscht. Dann kann die Episode im Doppelbett meiner Alten, und seitdem ist mein heterosexuelles Ich durcheinandergeraten. Mein Körper hat mitgemacht oder wenigstens so getan als ob.
Ich zucke wie gewohnt mit den Achseln und denk mir, dass Johnny doch hin greifen soll, wenn er so drauf abfährt. Fühlt sich gar nicht so mies an. Mein heterosexuelles Ich habe ich längst in den Stadtfluss geworfen. Mädels, ich pfeif jetzt auf Euch: für einen halben Nachmittag werde ich schwul. Mit Jungs ist sowieso alles einfacher: wir wissen so verdammt genau, was wir jetzt wollen. Johnny vor allem: er presst seine Jeans-Schenkel an mich. Die rechte Hand hat bei mir angedockt und beginnt mich zu streicheln. Zum Glück ist die alte Frau nicht mehr da.
Meiner heterosexuellen Erwartung zum Trotz finde ich es geil, auf dem Dach der Martinskapelle ausgegriffen zu werden. Von Bleiberecht und Syrien ist keine Rede mehr. Jetzt geht es richtig zur Sache. Oh, Mann, ich darf gar nicht hinsehen. Johnnys Kopf bewegt sich auf und ab, und dort, wo sonst nur gepisst wird, stimulieren weiche Lippen die fünf Millionen Nervenzellen. Oder was sonst noch dort ist. Das Zentrum der Geilheit wahrscheinlich.
Echt krass, welche Kunststücke so ein verdammter Mund vollbringen kann. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus, und irgendwann passiert genau das, was ich vermeiden wollte: ich komme. Und zwar richtig. Wie in einem Porno für die ganz schrägen Leute. Der Druck aus einem Feuerwehrschlauch ist ein Scheißdreck dagegen.
– Du bist eine geile Sau, grinst Johnny und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab. Natürlich leckt seine Zunge meinen letzten DNA-Rest von den üppigen Lippen.
Ich glaube, er verwechselt jetzt was, aber ich antworte nichts. Am liebsten hätte ich kläglich versagt. Keinen hoch bekommen oder so. An dutzende Mädchen gedacht und ein paar Tränen verdrückt, aber leider war es genau andersrum, wenn ich ehrlich bin. Aber ehrlich zu sein fällt mir seit Jahren schon schwer.
– Wir können es öfter machen, wenn du Bock hast.
– Hmmm, mal sehen.
Für Johnny ist Blasen anscheinend so harmlos wie über Straße zu gehen oder ein Glas Wasser zu trinken. In meinem Stammhirn dagegen bricht schon wieder dieser Daueralarm los: du bist anders, du bist schwul, du wirst nie Bundeskanzler oder Rennfahrer werden. Ich denke an den Kerl mit dem Riesenständer und dem Wollschwein auf Kevins Smartphone. Ich bin schon fast so pervers wie die beiden. Und trotzdem war das Blaskonzert geil hoch zehn. Vielleicht auch nur, weil es auf dem Dach einer geweihten Kapelle war. Ein Anschlag auf Anstand, Zucht und Ordnung zugleich. Verbrechertum pur. Dagegen ist gta v ein Furz auf Wolke sieben oder so ähnlich.
Eine Viertelstunde später ist Jonathans Offenbarung beinahe vergessen. Ich starre wieder gegen die Holzdecke in meinem Zimmer und versuche die Lage zu sondieren.
Fakt ist:
a) ich habe mir von Jonathan einen blasen lassen und dabei wie ein Hydrant gespritzt.
b) In Englisch bin ich eine Doppelnull.
c) Mohammed soll nach Syrien abgeschoben werden. Und
d) auf Kevins Smartphone geistern schweinische Videos herum.
Verrückte Welt. Ich blicke da nicht mehr durch. Vielleicht sollte ich eine Bubenpartei gründen, die sich um unsere wichtigsten Anliegen kümmert: Zocken und Wichsen rund um die Uhr, Butterkekse und Pringle‘s für alle. In einem zweiten Anti-Bildungsschritt würde ich sämtliche Schulen abschaffen. Und das bedingungslose Taschengeld einführen: zweihundert Euro im Monat. Ohne dafür das eigene Zimmer aufräumen oder Teller waschen oder den Müll zur Biotonne bringen zu müssen. Mädchen haben in unserer Partei nichts zu suchen. Vielleicht dürfen ein paar geile Zicken außerordentliche Mitglieder werden, aber nur wenn sie richtig herum sauen mit uns. Meine rechte Hand tastet nach dem Symbol der Jungspartei: der Spielkonsole natürlich.
Auf dem Display (maximal dreißig Zentimeter von meiner Augenstarre entfernt) flimmert der Boss. Er hat wieder einen Auftrag für mich: organisiere mir die 30 Millionen aus dem letzten Drogengeschäft. Davon werde ich dir die Hälfte abtreten. Dann kannst du mit Jonathan und Mohammed für den Rest eures Lebens in der Karibik einen drauf machen – was immer das heißt. Ich bin mir nicht sicher, ob der Boss das wirklich gesagt hat. Aber ich mache mich auf den digitalen Weg. Ein schwarzer Lamborghini, zwei Maschinenpistolen und jede Menge feindlicher Cops warten auf mich.
Ich schiele zur Türe. Der doofe Indianer von nebenan ist längst pennen gegangen. Meine Ersatzmutter übersetzt in der Küche einen dicken Wälzer ins Deutsche. Mein Vater (und eben nicht Dad!) säuft das dreizehnte Bier und versucht nebenher seine Buchhaltung zu machen. Es ist zwei Uhr früh und wie in einem Horrorfilm oder in einem physikalischen Experiment: alle sind tot und lebendig zugleich.
*
Dann gibt es noch Sport, und zwar jede Menge. Sport ist das coolste, wenn man Pornos und gta v außen vorlässt. An der dritten Stelle meiner ewigen Bestenliste (die alle fünf Minuten aktualisiert wird). Sport ist irgendwie immer dabei.
– Jugendlicher Bewegungsdrang, grinst mein Vater.
– Zu dumm für ernsthaftere Dinge, entgegnet meine Ersatzmutter, die Übersetzerin.
Aber die stresst sowieso jeden voll an. Muss mit ihrer Migräne zu tun haben. Oder dass sie kein rotes Fleisch isst.
Sport ist jedenfalls nice. Er bringt mich auf andere Gedanken, oder eigentlich auf gar keine. Beim Sport bin ich nämlich fokussiert: Schläger, weißer Ball, grüne Tischplatte, Netz. Erraten, ich spiele TT (Tischtennis schreibe ich höchstens in einer saublöden Deutschschularbeit). Beim örtlichen TSC. Landesliga. Einen alten Chinesen gibt es auch, der uns die gemeinsten Aufschläge und die hinterhältigsten Returns beibringt. TT hat einen prima Vorteil: zwischen dem Gegner und mir ist ein Möbelstück mit Netz aufgestellt. Es gibt keinen direkten Kontakt mit dem Arsch auf der anderen Seite. Man kann einander voll befetzen und berührt den Idioten nicht einmal. Beim Fußball würde ich wegen permanenten Foulspielens binnen zwanzig Minuten rausgeworfen werden. Irgendwie habe ich mich kaum mehr unter Kontrolle. Bin jedenfalls nicht so abgehoben wie die sechzehnjährigen Stars in der örtlichen Kicker-Auswahl, die von einer Profikarriere bei Bayern München oder so träumen.
TT ereignet sich jeden Di und Do, zwischen 17 und 19 Uhr. Eigentlich zur Prime Time für jugendliche Zocker. TT hält mich davon ab, endgültig in der digitalen Verbrechen-und-Stress-Welt zu versumpern. Bevor meine Sicherungen in Los Santos vollkommen durchglühen, drücke ich auf Escape und verlasse den Nicht-Raum auf dem Display. Avatare wie X-Ray15, DerMackerMitdemEingeschlafenenGesicht und WorldWideMadness fluchen mir virtuell nach, aber es hilft nichts. Ich steige aus dem Kampf mit den Bullenschweinen aus, werfe mein Sportzeug in eine Camouflage-Tasche und düse mit meinem grasgrünen BTX zur Sporthalle. Verbringe die nächsten hundertzwanzig Minuten mit dem glatzköpfigen Chinesen aus Shanghai, der im Gegensatz zu Mohammed das Bleiberecht hat. Oder nein, sogar die Staatsbürgerschaft, weil er im vorigen Jahrhundert drei Europameistertitel für Österreich erkämpft hat. So geht das bei den Sportidioten. Sie retten das Vaterland, irgendwie. Beinahe wie die echten Soldaten.
Mit TT reißt du bei den Mädels gar nichts: bei denen musst du Fußball spielen, wie Justin Bieber aussehen und mindestens ein Mofa besitzen. An einer coolen E-Gitarre in einem versifften Proberaum herumfummeln bringt vielleicht auch etwas Sympathie ein. Mit meiner akustischen Billigklampfe darf ich mich ganz Hinten anstellen. Bei den pickelgesichtigen Dauerwichsern, Pringle’s-Fressern und Einsamkeitszockern – kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Aber in der verdammten Sporthalle fühle ich mich einigermaßen wohl.
Ich fetze die ersten hundert Bälle knapp über das Netz und fühle mich dabei wie der taiwanische Weltmeister im Doppel. Der Chinese (niemand von uns kann seinen Namen richtig aussprechen) korrigiert mich trotzdem andauernd. Er weiß, dass er mich damit angriffsfreudig und mittelgefährlich macht. Psychologie nennt man sowas, oder konfusianische Weisheiten. Funktioniert perfekt bei minderjährigen Vollidioten wie mir. Nach spätestens zwanzig Ballwechseln werfe ich wütend den verdammten Schläger zu Boden. In dieser Saison habe ich mindestens zwölf Stück verschlissen. Der Chinese grinst. Die anderen Jungs starren mich entgeistert an. Ich bin der einzige Gefährliche hier, ein richtiges Arschloch. TT bringt mir bei, dass ich genauso wie die anderen Opfer der Leistungsgesellschaft bin: ehrgeizig, übertrieben selbstbewusst und vor allem ein schlechter Verlierer.
Besonders bei den Meisterschaftsspielen.
Dann fahren wir in einem klapprigen Bus durch das halbe Bundesland, weil nur wenige Leute TT spielen. Meistens verzocke ich die Fahrt und komme geschlaucht in einem miefigen Schulturnsaal an. Die anderen Buben haben wenigstens gepennt, an ihrem Pimmel rumgespielt oder deutschen Rap angehört. Mädchen komme so gut wie keine zu den Spielen. Höchstens solche, die man nicht einmal aus Mitleid anrühren würde oder weil sie viel zu jung sind. Obwohl: für mich ist fast keine zu jung. Ich schaue sie alle an. Wenn mir eine die Zunge zeigt, kann ich ja achselzuckend weitergehen. Das erste Spiel gewinne ich in zwei Sätzen. Das nächste auch, obwohl ich im Doppel nicht der beste bin. Egal, gemeinsam ringen wir Wolfsberg nieder. Hurra. Auf der Rückfahrt penne ich wie ein Volksschüler. Brandgefährlich sehe ich im Tiefschlaf sicher nicht aus.
Die TT-Heldentaten in Wolfsberg sind immerhin drei Zeilen in der Provinzzeitung wert, gleich neben den Todesanzeigen. Die Gleichung lautet: U16 + TT = lebendig begraben. Trotzdem geht mir fast einer ab, wenn ich meinen Namen in der Zeitung prangen sehe: ziemlich gut für das Ego. Auch wenn der Nachname falsch geschrieben ist und neben der Parte einer 96jährigen Uroma steht. Egal. Ich bin eine Art Leistungssportler. Sogar mein Vater ist jetzt ein bisschen stolz auf mich: warte nur, Papi, ein Jährchen noch, dann musst du endlich mit einer brandneuen 50er KTM herausrücken. Erst mit so einer Kiste, Leute, beginnt das richtig geile Leben: noch vor der ersten Ausfahrt werde ich eine Million Löcher in den Auspuff bohren, danach wird das Geschoss hundertzehn Dezibel laut und mindestens 95 km/h schnell sein. Nach nicht einmal zehn Kilometern werden mich die Dorfbullen zum ersten Mal aufhalten. Wie in gta v. Aber im Unterschied zum Computerspiel werde ich keine Panzerfäuste oder Maschinenpistolen dabeihaben. Höchstens mein Schweizer Messer.
– Apropos. Hast du schon das Neueste gehört?
Mein Spezialagent für Gossip in den Gerüchteküchen der Welt: Jonathan (oder Johnny) live aus dem Schulhof dieser traurigen Kleinstadt, via Skype. Ich drücke einen Perversen weg, der mir zum zehnten Mal einen Amazon-Gutschein für ein paar Schwanzbilder andrehen will. Die digitale Welt ist voller Verrückter.
Aus strategischen Gründen habe ich heute Halsweh und leichtes Fieber vorgetäuscht: in Mathe stehe ich auf einer glatten Drei, und für die anstehende Schularbeit habe ich nichts gelernt. Wichsen und gta v waren einfach wichtiger. Hundertmal wichtiger.
Mein homosexueller Spezialagent für die neuesten Vorgänge im Schulhof schwenkt sein Handy über Schülerköpfe und aufgeregtes Getuschel hinweg.
– Warum ist da so viel Blaulicht zu sehen, sieht ja aus wie in einem Update von Call of Duty, voll der geile Scheiß Mann!
Ich bin schon ein Glückspilz: da schwänze ich einmal in drei Jahren die Schule und schon entgeht mir eine originale Messerstecherei. Johnny geht wieder auf Sendung. Auf unscharfen Pixelbildern ist Kevin zu sehen, wie er von zwei Polizisten abgeführt wird, die Hände auf dem Rücken mit so Kabelbindern gefesselt. Die Jeans sind noch löchriger und fleckiger als sonst. Mit offenen Schnürsenkeln und so, gerade dem Schlimmsten entrissen. Hinter einem aufgespannten Leintuch liegt irgendjemand. Ein paar Notärzte kämpfen um das Leben des Opfers. Kohorten aus vermummten Cobra-Leuten treiben Schüler, Lehrer und Schulwart wie Weidevieh in die Lernkaserne zurück. Im Hintergrund rast die Funkstreife mit Sirene, Blaulicht und dem festgenommenen Kumpel davon. Johnny muss seine Live-Reportage abbrechen, weil er sonst sein Smartphone einem der vermummten Cops überlassen müsste. Das mit den drei Terrabytes schwuler Pornos in der Cloud.
Ich drücke die Skype-App weg und vernichte die nächste Rolle Pringle‘s. Überlege, wer Kevins Opfer gewesen sein könnte. Ich komme auf mindestens 300 Namen. Mein eigener ist auch darunter. Der Nachwuchskiller war mit praktisch allen verfeindet. Auf seinem Handy lagern die perversesten Videos der Welt, ich sage nur Riesenständer und Wollschwein. Nachdem ich die Pringles-Rolle verdrückt habe, trudelt das erste SMS ein, dann noch fünf weitere, und ein paar Herzschläge später sind es schon über 100.
In jeder zweiten Message steht der Name des Opfers. Ich kann es nicht glauben und hätte es ahnen müssen. Mohammed hat den Stich in die Herzgegend nicht überlebt.
Der Holzboden unter meinem Bett gibt nach. Ich habe das Gefühl, direkt in die Hölle zu stürzen. Starre fragend gegen die Holzdecke, aber anstelle himmlischer Heerscharen stürzen tausende Teufel auf mich ein. Die alle mein Gesicht haben und mit Heugabeln bewaffnet sind. Ich werfe die Decke über meinen zitternden Körper, das ganze Bett riecht nach abgestandener Wichse und hunderten Fürzen. Ich wimmere vor mich hin, versuche zu trauern und weiß nicht einmal genau was das ist. Sich hundeelend fühlen wahrscheinlich. So tun als wäre ich wieder sechs Jahre alt. Und gerade von einem Rudel älterer Buben verdroschen worden. Ein megatolles Gefühl ist das nicht gerade.
Ein paar Viertelstunden später laufen alle in meinem Zimmer zusammen: Papa, seine Hamburger Ersatzfrau, meine coole Sis Teresa (wie erschrocken die plötzlich dreinschauen kann), der zehnkommafünfjährige Dolm von Stiefbruder (Kaugummi kauend natürlich), dann der Hausarzt, die ersten Cops, ein Diakon und fünf weitere Seelsorger oder Psychologen für weiß der Teufel was alles.
Ein richtiges, mobiles Kriseninterventionszentrum. Schade, dass keine Nutte bei der Erstversorgung dabei ist. Das Ausfragen würde dann etwas lockerer ausfallen. Ein IT-Spezialist macht sich an meinen sozialen Medien zu schaffen. Alle Accounts werden gehackt oder sonst wie offengelegt. Schön langsam dämmert es allen, was für ein schräger Hund ich sein muss. Eigentlich war’s ja nur Spaß oder so. Irgendwas Pubertäres. Schließlich bin ich erst 14 Jahre zwei Monate alt. Gebt mir ein paar Legosteine und ich bin wieder harmlos so wie damals mit elf.
Mein Stiefbruder spuckt mir seinen Kaugummi in die Haare. Für einen Augenblick liegt ein Gewaltausbruch im Raum. Dem kleinen Pisser jetzt eine reinsemmeln, das wär’s. Ich hätte jetzt das richtige Publikum für das finale Desaster: Hausarzt, Psychologen, Seelsorger, Cops, alle da. Ich balle zwar ein bisschen die Fäuste, versuche aber gelassen zu bleiben: alles easy, Leute. Mich hat nur gerade der Todesengel gestreift. Um ein Haar wäre ich in der Hölle verrottet. Viel mehr bringe ich nicht mehr heraus. Draußen flirrt ein schöner, warmer Maitag über der Landschaft – anscheinend gerade richtig, um vom Sohn eines Provinzbürgermeisters niedergestochen zu werden.
Johnny kreuzt auf. Eine halbe Minute nachdem sich die erwachsene Meute aus meinem Zimmer verzogen hat. Einfach nach unten ins Wohnzimmer. Ich höre Stimmen, das Klirren von Weingläsern, und irgendwie nehme ich Weihrauch wahr. Ich verdrehe dich Augen und kotze einen halben Plastikeimer voll. Johnny geht damit aufs Klo und spült die tausend Einzelteile von dreimal Fastfood-Fressen hinunter, macht alles sauber. Irgendwie taugt er voll als Kindermädchen. Und wenn er noch Strapse anhätte, könnte er glatt in einem Nachtclub anheuern.
Er fragt mich, ob ich was essen will. Fehlanzeige.
– Oder ein Mineralwasser?
– Igitt.
Die Gouvernante mit den dunkelblonden Strähnen lässt nicht locker.
– Eine Zigarette tut manchmal auch gut.
– Scheiß drauf.
Am liebsten würde ich jetzt zwei Stunden TT spielen. In der Sporthalle drüben. Aber heute ist Mittwoch und da üben die Mädchen rhythmische Gymnastik. Alles ereignet sich immer zur falschen Zeit. Ich weigere mich vorzustellen, dass Mohammed in einem Blechsarg liegt. Sich nicht mehr rührt. Und dabei in Atome oder in noch was viel Kleineres zerfällt.
Johnny setzt sich zu mir. Er hat dieselben verweinten Augen wie ich. Nur auf blau. Meine dagegen sind braun. Diesmal bin ich es, der ihm tief in die Augen schaut. Ich würde zu gerne wissen, wie sich ein Messerstich anfühlt. Ich weiß, es klingt bescheuert, aber irgendwie möchte ich wissen wie sich das anfühlt, wenn mir eine scharfe Stahlklinge tief ins Fleisch gerammt wird. So etwas kommt in gta v dauernd vor, aber das ist ein Spiel, ein verdammtes Computerspiel, und sonst gar nichts.
Johnny sieht mich an. Streicht sich eine blond gefärbte Strähne aus dem Gesicht. Nice irgendwie. Er sieht gut aus, wie ein Mädchen beinahe. Ein Mädchen das sich knutschen, in den Arm nehmen und dann ohne Widerrede flachlegen lässt.
– Ob Sex die Angst vor dem Sterben nimmt, was meinst du, Johnny?
– Wir sollten es ausprobieren.
– Hmmm.
– Am besten jetzt gleich.
– In echt jetzt?
– Dann würdest du wieder wissen, wie sich ein Stich anfühlt.
Hinterhältig, geradezu schmutzig sein Grinsen.
Mein Ich verschwindet wie eine verstörte junge Katze unter den Kasten. Johnny hat ein richtig hübsches Gesicht. Stupsnase mit Sommersprossen. Viel zu rote Lippen. Und seine Fingernägel sind schwarz lackiert. Ich starre richtig erschrocken darauf.
– Warum machst du das eigentlich?
– Was denkst du?
– Ich habe echt keine Ahnung.
Verlegenes Lachen in zwei verschiedenen Tonlagen. Und dann ist das Zimmer abgesperrt. Wir haben uns ausgezogen und starren uns an. Dünne, eckige Körper. Unfertig, vorläufig, fragil. Morgen schon werden wir beide ganz anders aussehen. Nur blöd, dass Johnny einen viel Längeren hat.
– Ist doch egal, mein Schatz.
– Dein was? (Was muss ich entgeistert dreinschauen, jetzt).
– Ich mag dich halt einfach.
Schwulsein ist richtig kompliziert, zumindest am Anfang. Irgendwie geilt mich Johnny voll, und dann kotzt mich das blöde Schwanz-an-Schwanz-Reiben wieder an. Es ist der totale Widerspruch. Aber irgendwie nur mit mir selbst. Vielleicht sollte ich einfach meinen Widerstand aufgeben.
Johnnys Mund kommt näher und dockt wie eine Raumkapsel an. Eine fremde Zunge dringt in meine Mundhöhle. Fisherman’s Friends (die zuckerfreien und extrascharfen) treffen auf meinen Pringles-Atem mit Zwiebelgeschmack, eine seltsame Paarung: fremd und aufregend zugleich. Ich möchte aufstehen und davonlaufen, aber ich mache das Gegenteil: lege mich auf den Rücken, spreize die Beine und sehe Johnny ein bisschen zu erwartungsvoll an.
*
Das Irre ist: Kevins Totschlag bringt die verschissene Kleinstadt in die Schlagzeilen. Und zwar ganz hinauf, gleich nach einem Bombenanschlag in Bagdad. In der ZiB 1 ist unser verdammter Schulhof zu sehen, die Mülltonnen, die erschrockenen Gesichter der Mitschüler, die betretene Miene des Postenkommandanten und des Landesschulrates. Irgendwie sensationell und richtig spooky zugleich. Ungläubig starre ich auf die Aufnahmen wie aus einer anderen Welt: es ist unsere Schule, und dann doch wieder nicht. Es ist auch schwer, das Geschehene innerhalb von 2:30 Minuten zu begreifen.
Am späteren Abend interviewt ein anderer Moderator unseren Schuldirektor via Skype oder so. Das schreiende Fossil schwitzt vor Stress und Scham und ist ungefähr so kleinlaut wie Kevin und ich beim Rapport vor wenigen Tagen. Der Namen des Jungen wird im Fernsehen verschwiegen und sein Gesicht nur verpixelt oder mit einem schwarzen Balken vor den Augen wieder gegeben. Wer Kevin kennt, erkennt ihn trotzdem sofort.
Mein Vater rührt sein Villacher Bier nicht mehr an, und seine manisch-exzessive Ersatzfrau starrt planlos ins Leere. Wahrscheinlich denkt Angela an die Abende, als Kevin bei uns zum Essen geblieben ist. Ein mittelnetter Junge mit knappen Bitte- und Danke-Antworten. Der noch kein Wässerchen trübte oder so. Und jetzt in irgendeinem Haftraum sitzt und vor sich hin bockt. Ich hätte Lust mit Kevin zu skypen. Das wäre etwas, so ein Chat live aus der Zelle. Bei abgedrehtem Licht und dem Rascheln kratzender Bettdecken. In grobkörnigen Pixelbildern. Wie in einem billigen Porno.
Irgendwann werde ich hinauf in mein Zimmer geschickt. Ich soll mir den ganzen Kram nicht anschauen, sonst träume ich schlecht. Schlafen tu ich schon seit Tagen kaum mehr. Meistens starre ich stundenlang an die Decke und frage mich, wie sich tot sein so anfühlt. Oder das Gekillt-werden. Und warum ich mir solche Gedanken antue.
Bevor der idiotische Morgen anbricht, zocke ich noch etwas gta v. Draußen ist alles dunkel und viel zu ruhig, als ob die Kleinstadt gar nicht mehr da wäre. Auf WhatsApp sehe ich, dass ein paar andere aus unserer Klasse auch noch on sind. Einer chattet mich an. Der nächste schickt mir ein Bild vom Skikurs im Februar. Als alles noch irgendwie easy gewesen ist. Kartenspielen bis Mitternacht, heimlich eine Dose Bier trinken, am Balkon eine Menthol-Zigarette rauchen. Einander in die Augen schauen. Und lachen, bis uns allen der Bauch geschmerzt hat. Ich sehe mir die Aufnahme genauer an. Kevin, Mario, Mohammed, ich. Einfach vier Jungs. Vier ganz normale Landeier in Saalbach-Hinterglemm. Im dritten Stock einer 40-Betten-Pension. Wir haben uns nicht einmal einen runtergeholt. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, aber was heißt das schon? Carven und Snowboarden waren saucool. Das Wetter war schön, und irgendwie hat es witzig ausgesehen, wie Mohammed zum ersten Mal auf den Schiern gestanden hat. Ein syrischer Junge ohne Bleiberecht mitten im österreichischen Schnee. Ich fang an zu weinen und weiß nicht warum und wieso, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Als ob man eine Wand hochlaufen wollte. Eine tausend Meter hohe Eiswand aus Millionen von Fragen.
*
Da ich weder als Emo noch als Punk trauern darf, muss ich zu diesem irren Friseur in der Bahnhofsstraße, der ungefähr 1980 den letzten trendigen Haarschnitt (einen Vokuhila zum Fremdschämen) kreiert hat. Der Typ ist etwa sechshundert Jahre alt, so breit wie hoch, mit richtigen Fettwurstfingern. Es ist klar, dass er meine kostbaren Side-Cuts gründlich versauen wird. Mit seinem summenden Schafsrasierer fräst er grenzdebile Einheitsfurchen in mein dichtes, süditalienisches Haar. Nach vierzig Minuten sehe ich wieder wie ein bescheuertes Kind aus. Ich hätte das Arschloch bei der Frisörinnung angezeigt, aber mein Vater zahlt ihm noch zwölf Euro für das Fiasko.
Mir gibt er fünfzig. Eine Art Schmerzensgeld sozusagen. Seit der Messerattacke ist mein Vater voll nett zu mir, so wie ich ihn höchstens an Weihnachten erlebe. Er tätschelt mir ganz seltsam die Wange und steckt mir einen Geldschein nach dem anderen zu. Wenn wir allein sind, versucht er auch noch ernste Gespräche zu führen. So von Mann zu Mann sozusagen. Wie peinlich. Da bin ich wirklich nicht scharf drauf. Der Totschlag im Schulhof verwandelt uns alle in Scheintote. Bei Angela und ihrem Stiefdolm ist mir das sogar recht. Irgendwie herrscht eine seltsame Stille zwischen uns, halb katholisch, halb pervers würde ich sagen. In den letzten 24 Stunden habe ich glatt auf das Wichsen vergessen.
Dafür kenne ich mich bei Särgen schon etwas aus. In unserer Kleinstadt gibt es ein Begräbnisinstitut, das seit Jahr und Tag drei Mustersärge in einem Schaufenster präsentiert. Wenn ich melancholisch drauf bin (noch immer keine Freundin, eine anstehende Klassenarbeit oder in TT eine peinliche Niederlage gegen Wölfnitz kassiert) schleiche ich dort vorbei und werfe ein paar Seitenblicke auf die Erdmöbel. Urnen haben sie auch ein paar lagernd, zwei davon in echt poppigen Farben. Wie Bonbondosen oder so. Als Kind habe ich mich dauernd gefragt, wie man den ganzen Toten da hinein quetschen kann. Bis ich das mit dem Anzünden im Sanatorium oder wie der verdammte Ort heißt erfahren habe.
– Wie bitte: Opa einäschern, der verbrennt doch dabei!
– Ist aber billiger, hat mein Vater lakonisch gemeint.
Typisch Geschäftsmann: wieso einen sauteuren Eichensarg, wenn man die Urne für ein Drittel der Summe haben kann? Mit Särgen und Urnen kommen wir allerdings bei Mohammed nicht weit. Er ist Muslim (gewesen – ich bring das doofe Partizip der Vergangenheit immer noch nicht freiwillig raus). Und nicht nur das: ein paar Stunden nach ihm ist auch sein Vater gestorben. Sein Herz hat nicht mehr mitgemacht. Der syrische Arzt ist noch in seinem Laden umgekippt, zwischen der Schlüsselkopiermaschine und dem Holztisch mit den Mustersohlen darauf. Seine Flucht war in diesem Souterrainlokal in der Wilhelm-Rudnigger-Gasse zu Ende.
Eine muslimische Bestattung verläuft vollkommen anders. Ich habe es herausgefunden, aber es war alles andere als einfach, Leute. Ich wusste nur, dass ich schnell sein musste. Tote Muslime kommen fast noch warm unter die Erde. Anzünden strengstens verboten. Irgendwie hat die Eile mit einer Art Taxiservice ins Jenseits zu tun. Der Todesengel nimmt nur die frischen Toten mit. Die noch ihre Seele drin haben oder so ähnlich.
Es gibt nicht viele Dinge, die noch bescheuerter sind als eine Religion. Egal welche. Für zehn Euro (schon wieder) erfuhr ich von Mujo (einem muslimischen Serben), wo die Leiche meines Freundes herumliegen muss. Im Totenraum der Moschee. Klingt ziemlich pompös, ist aber nur der hintere Raum eines Kellerlokals für islamische Freizeitgestaltung. So steht es zumindest über der Tür. Vielleicht auch nur falsch übersetzt.
Wenn du die Stufen hinunter gehst, stehst du in einem ziemlich leeren Raum mit einem uralten Billardtisch und einer Budel, wo fünf Wasserpfeifen verstauben. Auf der Straße gegenüber ist ein Münzwaschsalon, wo nur die Ausländer hingehen. Eine Ladung Wäsche waschen kostet dort achtzig Cent. Der Typ im Waschsalon trägt eine schwarze Augenklappe, riecht streng nach Raki und hört den ganzen Tag eine Art Rap, der dahin eiert wie ein LKW ohne Felgen. Der Augenklappentyp mit den Beats-By-Dr-Dre-Kopfhörern ist gleichzeitig der Imam, wie ich rausgefunden habe. Was immer das ist.
– Was willst du hier, fragt er mich barsch als ich im Hinterzimmer der Souterrain-Moschee aufkreuze.
Er baut sich wie eine unüberwindbare Steinmauer vor mir auf. Ich soll die beiden Leichname nicht sehen. Weil ich den falschen Glauben habe (eigentlich gar keinen) und weil ich ein verdammtes Kind bin (Kinder werden in allen Religionen gehasst: Kinder, unreine Tiere und der sogenannte Beischlaf).
– Ich bin – äh – ein Freund von – äh – einem der beiden dort drüben.
Viel blöder hätte ich die schräge Unterhaltung nicht starten können. Ich erkenne Mohammeds Haare und die in beiges Tuch eingewickelten Füße seines Vaters links und rechts von der islamischen Fleischmauer.
– Du störst die heilige Zeremonie der Leichenwaschung, beginnt mich der Imam aus dem Münzsalon zu tadeln.
Irgendwie leuchtet mir ein, dass der Betreiber eines Waschsalons auch Leichen reinigen soll. Aber was zum Teufel ist ein Imam?
– Ich bin der Geistliche der muslimischen Gemeinde hier.
Achso. Eine Art Pfarrer. Aber auf Amateurbasis. So wie ich für null Kohle in der Jugendmannschaft des TT-Vereins spiele.
– Du verschwindest jetzt besser.
So ein Imam duldet anscheinend keinen Widerspruch. Genau wie mein Vater oder jeder zweite Lehrer. Oder Angela, meine nervöse Ersatzmutter. Die immer beleidigt ist, wenn man ihre Kasseler Rippchen ins Klo kotzt.
Ich ziehe einen Schmollmund und setze mein allertraurigstes Gesicht auf. Der bescheuerte Unterstufenhaarschnitt von Frisörmeister Lechner hilft mir dabei. Meine Stimme beginnt wie ein halb verhungerter Wellensittich zu piepsen.
– Bitte. Nur für ein paar Minuten. Ich möchte einfach meinem Freund Adieu sagen. Da kann doch dein Allah nichts dagegen haben. Ich rühr auch nichts an, versprochen.
Eine riesige Träne kullert über die rechte Wange. Es ist wie in einer Netflix-Kinderstaffel. Die Folge mit dem Titel „Tränen der Rührung“. Draußen geht gerade die Sonne unter. Aus irgendwelchen Gründen ist das mein Glück.
– Na schön, ich darf jetzt eine Viertelstunde sowieso nichts machen, brummt der Waschsalon-Imam und geht auf einen Raki in den Lustigen Kalifen.
Er sperrt das Kellerlokal ab und lässt mich mit den beiden Toten allein. Es ist das erste Mal, dass ich Leichen aus nächster Nähe anstarren kann. Bei meinem Opa war es nur ein kurzer Blick in den offenen Sarg gewesen.
Hier aber gibt es gar keine Särge. Nur so komische Tücher. Und eine Haube ohne Gucklöcher. Anscheinend werden die Toten wie Pakete verpackt und so ins Paradies verschickt. Oder auch nur in eine Grube geworfen. Auf dem Stadtfriedhof gibt es eine Parzelle für muslimische Gräber. Gestern Abend habe ich dort zwei frisch ausgehobene Löcher gesehen. Wohl für die beiden da. Mohammeds Vater liegt schon fast fertig für die Ewigkeit verpackt, aber Mohammed liegt beinahe nackig auf dem Steintisch vor mir. Im Brustbereich ist so ein Verband, wo etwas Braunes durchsickert. Wohl das tote Blut oder so.
Ich starre auf Mohammeds Gesicht, das noch immer wie seines ausschaut aber einfach nicht mehr seins ist. Sondern kalt wirkt. Wächsern. Abweisend. Der Mund ein dünner Strich. Die Wangen hohl. Die Augen geschlossen. Es ist vollkommen klar, dass mein Freund tot ist. Mausetot.
Erstochen vom Sohn des Bürgermeisters, einfach so, in der großen Pause am Schulhof. Nach einem Streit. So banal, so gewöhnlich, so schrecklich, so dumm. Ob ich beten soll? Lieber nicht, ich kann höchstens das katholische Vaterunser – und selbst das nicht vollständig. Vielleicht mache ich diesen Allah nur wütend damit. Irgendwie ist der sowieso nicht gut auf seinen Kollegen Gott zu sprechen. Aber vielleicht ist es ja ein und dieselbe Person, die von Millionen Gläubigen in den Wahnsinn getrieben wird. In einen christlichen und in einen islamischen Wahnsinn. Und dann gibt noch tausend andere Religionen oder so.
Das Leben ist kompliziert, der Tod dagegen scheint sehr einfach zu sein. Man muss nur daliegen und zerfällt von selber in seine Bestandteile. Oder wird von den Würmern gefressen, stimmt, die Würmer gibt es auch noch. Ich habe total auf die Würmer vergessen.
Draußen ist es dunkel geworden. Das Waschsalon-Imam kommt wieder herein und kann weitermachen. Er legt mir einen Arm auf die Schulter und bietet mir einen Schluck Raki an.
Ich frage mich, ob das nicht eine Fangfrage ist: wer diesen Anisschnaps säuft, kann nicht mehr unschuldig sein, und vielleicht kommt jetzt auch noch heraus, dass ich bis jetzt 855mal gewichst und mit Johnny den schwulen Beischlaf vollzogen habe. Im Iran wird man dafür gehenkt, hat mir Johnny erzählt und mir so ein YouTube-Video gezeigt. Zwei Jungen, nicht viel älter als wir. Henker mit schwarzen Hauben um sie herum. Der Galgen, der Strick um den Hals. Und Tränenbäche auf den haarlosen Wangen. Dann ein schwarzes Insert mit dieser krakeligen arabischen Schrift. Zuletzt eine unscharfe Aufnahme mit den gehenkten Jungs. Ich habe mindestens zwei Wochen nicht richtig einschlafen können.
Den angebotenen Raki kippe ich trotzdem hinunter. Soll ich eben morgen gehenkt werden. Halsweh habe ich eh schon ein wenig. Das klare Zeug schmeckt wie Wodka auf Anis. Ich huste und bekomme einen Schweißausbruch. Der Imam lächelt milde und schickt mich nach draußen. In die Ruinen meines Lebens zurück.
Natürlich laufe ich gleich jemandem über den Weg, es geht in dieser Kleinstadt auch gar nicht anders. Christian, der zwölfjährige Blondschopf, auf seinem Skateboard. Er müht sich an ein paar harmlosen Kunststücken im Stadtpark. Eigentlich wollte ich mir dort ein paar Marlboros anzünden und bescheuerte Selbstgespräche führen. So etwas in der Art jedenfalls. Christian strahlt mich an und kommt mit seinem Board auf mich zu.
– Schau mal, was ich alles kann.
Als ob ich sein verdammter Erziehungsberechtigter wäre oder so. Ich schaue ihm lächelnd zu und zünde mir trotzdem eine Zigarette an. Christian beobachtet mich aus den Augenwinkeln heraus an.
– Boah, du rauchst ja schon.
Die 722 Tage Altersunterschied müssen sich für Christian wie drei Ewigkeiten anfühlen.
– Und du kannst echt tolle Tricks.
Es ist zwar gelogen, aber egal. Ich will einfach was Nettes sagen, und dieser Satz ist das einzige, was mir gerade einfällt. Christian lächelt geschmeichelt. Er wird richtig rot dabei. Als ob er sich in mich verknallt hätte oder so. Ich mag ihn ja auch, irgendwie.
– Stimmt das echt, fängt er jetzt mit der Messerstichgeschichte an, stimmt es echt, dass der Kevin den Mohammed – und seine kindliche Stimme überschlägt sich dabei – um-ge-bracht-hat?
Hmmm. Jetzt ist es heraus. Irgendwie ein ganz einfacher Satz. Eine Entscheidungsfrage. So simpel ist das Leben mit zwölf.
– Ja, lautet die einzig mögliche Antwort.
– Oh Mann.
Christian macht ein Gesicht wie beim Zahnarzt, der ihm für die nächsten drei Jahre eine Zahnspange angedroht hat.
– Aber warum?
– Falsche Frage, Kleiner.
– Warum falsch?
Ich drücke meine Marlboro aus und lege den rechten Arm auf Christians Schulter, genauso wie es der komische Imam aus dem Waschsalon bei mir gemacht hat. So ein verdammter Arm auf der Schulter besagt gar nichts, aber er beruhigt einen irgendwie. Macht uns nicht so hysterisch. Obwohl jeder von uns beiden die Wände hochlaufen könnte, bei all dem Unglück in der Welt.
Christian lächelt mich an. Er versteht noch nicht viel vom größeren Leben. In zwei Jahren wird das anders aussehen, dann wirst du im Park eine Marl nach anderen paffen, am Wochenende Wodka Soda auf einer Party runterkippen und die Titten aller verfügbaren Mädels anglotzen.
– Hey, ich doch nicht. Ich steh doch auf Skateboards, Himbeerlimonade und auf den Zeichentrick-Channel. Die Cartoons dort sind echt witzig. Außerdem bin ich voll gut im Zeichnen. Warum legst du mir deinen Arm auf die Schulter?
– Hmmm. Einfach so. Vielleicht weil ich gerade zwei Leichen gesehen habe, von denen eine davon mein zweitbester Freund war.
– Ok, dann darfst du deinen Arm dalassen, und wenn du willst, kannst du mich streicheln. Manche Jungs mögen das ja.
Hmmm. Ich schaue auf Christians blonden Schopf und denke, dass die Antwort auf alle Fragen doch 42 lauten könnte.
*
Zum Begräbnis geht keiner von der Schule aus hin: erstens findet es an einem Dienstagvormittag statt, zweitens ist niemand von uns ein Muslim und drittens scheint Keiner Bock auf Suren und andere Leichenreden zu haben. Mir hat auch schon der Anblick der beiden Leichen im Totenraum des Vereins für iranische Freizeitgestaltung gereicht.
In der Schule tagt das Kriseninterventionsteam: ein bärtiger Psychologie Anfang Dreißig stellt mir eine Reihe peinlicher Fragen. Wie eng die Freundschaft zu Mohammed gewesen sei, wie ich Kevin so einschätze und ob ich mich schon einmal umbringen wollte. Einmal, hä? Hunderte Male. Irgendwie alle paar Stunden einmal. Wenn nicht das Wichsen, TT oder gta v wäre, hätte ich es garantiert schon versucht.
Okay, das Wichsen habe ich nicht erwähnt, dafür TT und Gta v. Der Psychologie schreibt „suchtgefährdet“ hinter meinen Namen und schickt mich wieder in die Klasse zurück. Der Geolehrer versucht uns beizubringen, wo Syrien liegt. Und was da gerade vor sich geht. Ich höre nicht hin, sondern chatte mit Johnny auf WhatsApp weil ich sowieso suchtgefährdet bin.
– Mach dir nichts draus, in der Pause blas ich dir einen. Um 10.30 Uhr im Kellerklo? Hast Lust?
Nö, aber ich werde trotzdem hingehen. Weil auf den Gängen und im Schulhof sowieso nur blöd herumgetratscht wird: dass Kevin, der herzallerliebste Bub, einfach provoziert worden sei. Von einem Islamisten ohne Bleiberecht und so. Wahrscheinlich hatte der syrische Junge zuhause Bombengürtel und selbst gebastelte Waffen gehortet. An Kevins Stelle hätte ich auch zugestochen. Ist ja reine Notwehr, wenn ein Ausländer ohne Bleibereicht so schräg daherkommt.
Plötzlich ist nicht mehr der Mörder, sondern der Ermordete schuldig. Weil er Muslim war, und weil er kein Bleiberecht hatte. Als ob er kein Mensch, sondern nur eine Termite gewesen wäre, eine Termite mit einem IQ von 160, eine Termite, die uns Inländern die Lebensmittel, die coolen Jobs und die deutschen Verbrennungskarossen mit dem Stern auf der Kühlerhaube abspenstig machen wollte. So etwas höre ich andauernd in den letzten zwei Tagen. Hinter vorgehaltener Hand natürlich. Weil man ja nie etwas sagt. Sondern immer nur redet.
Ich stoße die Tür zum Kellerklo auf und lasse mir dort von Johnny einen blasen. Nicht dass es sich richtig toll anfühlen würde. Es ist eher eine Pflichtübung für mich. Weil die stinknormalen Menschen in der Kleinstadt da draußen tausendmal schlimmer als Termiten sind. Und die Antwort auf alles doch 42 lautet. Oder – und ich denke an die Matheaufgabe, die Mohammed vor ein paar Tagen für mich gelöst hat – die Quadratwurzel davon. ♦
Die Nacht, der Tag und andere Komplizen
Thriller
Sie sind wohlhabend.
Intelligent.
Erfolgreich.
Gutaussehend.
Sie sind verschwunden.
Und haben nichts hinterlassen außer
Ihr dunkles Geheimnis.
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 146
„Seit 4000 Jahren erzählen wir uns gegenseitig, was wir wissen zu müssen glauben – dass man alle Ungeheuer besiegen kann, wenn man weiß, wer sie wirklich sind.“ A. L. Kennedy, Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Teil 1 – Der Duft von Regennächten ...
Es war eine dieser melancholischen Nächte, in denen alles Mögliche passieren konnte – und dann doch nichts geschah. Ein verregneter Juniabend mit Wolkenbänken über der Stadt wie im Oktober. Die ideale Nacht, um jemanden draußen vor der Stadt zu begraben. Jemanden wie meine Katze zum Beispiel. Die rot gestreifte Tigerkatze, die es nicht mehr geschafft hatte. 13 Jahre waren wir zusammen gewesen, länger als mit meiner Ex-Frau Agnes, einer Buchhändlerin für esoterische Literatur und ganzheitliche Ernährung. Mittlerweile über verworrene Kommunikationswege mit einem flämischen Hellseher aus dem Jenseits liiert – aber das war nicht die Geschichte, die hier gerade anfing. An diesem 13. Juni. Nachts gegen 22.30 Uhr. Draußen vor der Stadt. Auf dem Friedhof der Namenlosen. Außer den Toten war keiner hier.
Ich trank ein paar Schlucke Absinth, packte die tote Katze aus dem schwarzen Müllsack und warf ein paar letzte Blicke auf die Tierleiche. Isola würde nie wieder aufstehen und miauend davonlaufen, soviel stand fest. Sie lag da und verweste. In ihren Gedärmen begannen die Würmer zu fressen, und in ein paar Wochen oder Monaten würde sie nur noch eins mit der fetten Erde hier sein. Ich griff nach der Schaufel, hob neben einem Kindergrab eine noch kleinere Grube aus und legte Isola in die fette Flussufererde. Murmelte so etwas wie ein Gebet. Trank noch ein paar Schlucke Absinth aus dem Flachmann. Der hohe Alkoholgehalt und das Thujon wirkten so zuverlässig wie ein Stich in die Augen. In meinem limbischen System begann die Grüne Fee einen langsamen Walzer zu tanzen. Allein. In sich selbst versunken. In einem leeren, fensterlosen Saal ohne jede Bedeutung.
Nachdem sich das rhythmische Ticken im Schädel gelegt hatte, griff ich wieder zur Schaufel und schippte Erde auf das tote Tier, glättete den kleinen Erdhügel und rauchte das ungefähr zwanzigste Zigarillo des Tages. Hinter dem Erdwall und jenseits der kleinen Aufbahrungshalle, die auch für nichts mehr gut war, tutete eine Schiffsirene. Ein rumänischer Frachtkahn passierte den Alberner Hafen. Und wenn schon. Meine Katze war tot, und ich fühlte mich seit langer Zeit wieder allein. Wie ein abgestelltes Gepäckstück, das niemand mehr haben wollte. Ungefähr 55 Jahre alt, mit tiefen Falten im Gesicht und schütteren Haaren. Von Beruf Privatdetektiv, also einer von jenen Kerlen, die in den Angelegenheiten anderer Leute herumschnüffelten, meist im Auftrag deren idiotischer Partner. Scheidungsfälle, Missbrauchsvorwürfe, Verdacht auf veruntreutes Familiensilber und anderen Unsinn mehr – wofür die Leute bereit waren, ohne Bedenken Geld auszugeben. Gegen ein paar handfeste Fotos und sachdienliche Angaben, die vor einem Richter dicht genug waren, um das eingeklagte Recht zugesprochen zu kriegen. Es ging nur um Recht, nie um Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit gab es nicht mehr auf dieser Welt, sie war längst auf einer Müllkippe entsorgt worden und verweste unter all dem anderen Schrott wie meine Katze unter den paar Schäufelchen Erde.
Während ich meinen alten Toyota zurück in Richtung Innenstadt lenkte, prasselten die Abendnachrichten wie schiefer Regen an meiner Trägheit vorüber. Morde, Vergewaltigungen oder ein Börsenkrach irgendwo. Ein Krieg, der nicht und nicht aufhörte. Dieser betrunkene LKW-Fahrer, der letzte Nacht drei Menschen niedergemäht hatte. Als ob sie Grashalme gewesen wären. Und jetzt waren sie alle ebenso tot wie meine Hauskatze Isola, Insel auf Italienisch. Warum ich dieses Vieh so genannt hatte, wusste ich nicht mehr. War jetzt auch schon egal. Meine Insel gab es nicht mehr. Sie war vor ein paar Tagen zugrunde gegangen. Und ich hatte sie soeben beerdigt. Auf dem Friedhof der Namenlosen. Unter all den Wasserleichen und Selbstmördern. Eine gute Umgebung für eine Insel, die es nun nicht mehr gab.
Es war kurz nach Mitternacht, als ich in meine Wohnung im ersten Bezirk zurückkam. Okay, es war keine riesige Bude, eher ein Loch, nicht einmal vierzig Quadratmeter groß, im Mezzanin über einer Änderungsschneiderei gelegen, in der ich manchmal meine ausgeleierten Anzüge aufbessern ließ. Nebenan gab es eine Frauen-WG, in der es zuging wie in einem Taubenschlag. Türen auf, Türen zu, Gelächter, Kampfgeräusche, Geschrei wie bei einer Gruppenmasturbation unter Teenagern oder wenn jemand auf einem besonders schlimmen Trip war – egal. Es waren die besten Nachbarn, sorry, die besten Nachbarinnen der Welt. Die meisten kamen und gingen, tauchten auf und verschwanden innerhalb von wenigen Wochen. Namen gab es so gut wie keine. Ich hatte mich auch nie vorgestellt. Auf der Wohnungstür stand „Hartmann“, das genügte. Ein kleines, vergoldetes Türschild aus längst vergangenen Zeiten. Ich hatte keine Lust herauszufinden, wer sich hinter diesem deutschen Namen verbarg, ein SS-Offizier, ein unbekannt gebliebener Dichter, ein Bezirkspolitiker, egal wer. Ich hatte einfach den Namen des unbekannten Vormieters übernommen und nannte mich ebenfalls „Hartmann“. Privatdetektei Hartmann. Spezialist in Sachen Observation. Wer gerne etwas Schmutzwäsche über seine intimsten Freunde einsammeln wollte, war bei mir richtig. Schließlich hatte jeder – zumindest jeder Erwachsene – auf diesem Planeten etwas zu verbergen, womit man in die Schlagzeilen einer Boulevardzeitung oder ins Visier behördlicher Ermittlungen geraten konnte. Der eine hatte vor Jahren einen Totschlag begangen, der nächste betrog seinen Arbeitgeber, der dritte ging regelmäßig ins Bordell, obwohl (oder weil) er Religionslehrer war, der vierte schlug nachts im Wiener Wald mit einem Baseballschläger auf die ins Holz geritzten Namen seiner Vorgesetzten ein und so weiter. Jeder hatte etwas zu verbergen. Sogar ich. Der sich einfach Hartmann nannte. Und nicht einmal einen Vornamen besaß – außer jemand fragte danach, dann sagte ich Joe. Joe Hartmann. Höchstwahrscheinlich gab es auf diesem dritten Stern neben der Sonne keinen einzigen Arsch, der sich so nannte. Außer mir natürlich. Diesem Joe Hartmann von eigenen Gnaden.
Ich sperrte die Wohnungstür auf, warf den grauen Mantel Richtung Türhaken, verfehlte ihn, und das Stück lag wie ein verrückter Betrunkener am Boden, zerknautscht, fleckig und mitleiderregend. Von mir aus. Schließlich war ich aus gutem Grund etwas von der Rolle: ich hatte meine Katze im Friedhof der Namenlosen beerdigt. Neben dem Grab eines elfjährigen Kindes, dessen Leiche vor hundert Jahren aus der Donau gefischt worden war. Jetzt hatte der kleine Selbstmörder nach einem Säkulum Dauerschlaf wenigstens eine Katze zum Spielen.
Ich zuckte mit der Schulter, betrachtete mein vernarbtes Gesicht, die tiefen schwarzen Ränder unter den dunkelbraunen Augen, die noch immer diesen jugendlichen Schimmer hatten – mach dir nichts vor, Joe. Du bist alt geworden. Und wirst noch älter werden, es sei denn, der verdammte Absinth holt dich vor der Zeit unter die Erde. Unter derselben, in der jetzt deine Katze liegt. Deine Katze Isola.
Ich ging in die Küche hinüber und goss mir etwas von der Grünen Fee in den nächstbesten Becher. Fischte zwei Eiswürfel aus dem Gefrierschrank, warf die gletscherkalten Dinger in den Steingutbehälter und schlürfte am flüssigen Wermutkraut mit 68 Prozent Alkohol und der Extraportion Thujon. Der gute, alte Pernod. Niemand schien das Zeug mehr zu kennen, nur die Bartender der Stadt parfümierten ihre Cocktailgläser damit und der eine oder andere Haubenkoch verwendete das Destillat für seine verdammte Donaufisch-Suppe. Die übrigen 99,3 % der Bevölkerung schienen die grüne Fee vergessen zu haben. Ich trank einen Schluck, rauchte das letzte Zigarillo des Tages und fühlte mich auf wunderbare Weise verlassen. Der schnöden Welt da draußen abhandengekommen. Alles, was noch fehlte, waren Mahlers Kindertotenlieder. Nach diesen Friedrich-Rückert-Gedichten. Manchmal hörte ich mir sowas in meinem Wagen an. Während ich verdächtige Leute observierte. Mir etwas notierte. Und Absinth trank. Das nächste Zigarillo rauchte. So verging die Zeit, und mein Leben.
Unter dem schwarzen Festnetztelefon leuchtete die digitale Zahl „4“. Vier Kontaktaufnahmen in Abwesenheit. Mein Anrufbeantworter aus den frühen Achtzigern funktionierte immer noch einigermaßen. Ich drückte auf die locker gewordene Taste und hörte mir das Geschwafel an: ein Betrunkener, der sich nicht sicher war, in einem Bordell angerufen zu haben, ein gewisser Prinz von Zamunda, der mir ein unschlagbar tolles Geschäft über 5 Millionen Euro offerierte, wenn ich so doof sei, ihm vorab 50.000 an ein nigerianisches Treuhandkonto zu überweisen, und der dritte war ein falscher Amazon-Bote, der mir gegen Mahnspesen eine Sendung andrehen wollte, die es nicht gab. Es knackste im Anrufbeantworter, dann war Nummer 4 an der Reihe. Eine recht ansprechend klingende Stimme, dunkles Timbre, mitteldeutscher Akzent, ein Bankier aus Frankfurt, siebzig Jahre alt, aber immer noch im Hedgefonds-Geschäft, sicher vollgestopft mit Kohle bis obenhin, der mir trotzdem sein Leid aufs Band heulte, das die Familie seines einzigen Sohnes betraf. In Wien aufhältig, aber seit mehr als einem Monat verschwunden. Spurlos verschwunden. Ohne irgendwas hinterlassen zu haben. Keine Ankündigung. Keine Nachricht, nichts. Auf den Konten keine einzige Bewegung mehr. Funkstille.
„Es muss etwas Schreckliches geschehen sein“, vermutete die Stimme, „und ich biete Ihnen, Herr Hartmann, viel Geld an, wenn Sie das herausfinden könnten. Die Polizei tappt im Dunkeln (das tat sie sowieso in neunzig Prozent aller Fälle, wenn der Täter nicht innerhalb zweier Armlängen neben der Leiche herumstand und sich widerstandslos festnehmen ließ), ich möchte Gewissheit haben. Ich zähle auf Sie. Rufen Sie mich an. Jederzeit. Rund um die Uhr, hier ist meine Nummer, falls ihr Anrufbeantworter zu schwachsinnig ist, um…“
Es folgten zehn oder zwölf Zahlen, dreimal hintereinander wiederholt. Ich brauchte gar nicht erst mitzuschreiben. Dann knackste es, und ich hatte die verdammte Telefonnummer im Kopf. Unausrottbar. Wie den neuesten Ohrwurm in den Charts. Ich trank den Absinth aus. Sah auf die Uhr. Eine Viertelstunde vor eins. Ob ich den Kerl jetzt mitten in der Nacht anrufen sollte? Warum nicht. Er hatte schließlich „rund um die Uhr“ gesagt, „jederzeit“, „wann immer Sie wollen“ – er hatte mich sogar ausdrücklich dazu aufgefordert. Ich drückte die Zigarillo-Kippe im versifften Abwasch aus und wählte die Nummer in meinem Kopf. Es läutete viermal, fünfmal, sechsmal, dann hob jemand ab. Genau dieselbe hellwach klingende Stimme wie auf dem Anrufbeantworter. Ich fragte mich, welche Schönheitsfarm es hinkriegte, einen siebzigjährigen Knacker mit solcher Jugendlichkeit auszustatten. Vielleicht gab es wahnsinnig teure Injektionen dafür. Oder Bluttransfusionen. Oder eine andere teure Masche, um zumindest phonetisch das ewige Leben zu erlangen.
Der Bankier aus Frankfurt war jedenfalls dran. Seine Stimme klang begeistert, als hätte er nie in seinem mit Kohle zugenagelten Leben mit meinem Rückruf gerechnet. Aber ich hatte zurückgerufen, was dachte er denn: dass ein behördlich konzessionierter österreichischer Privatdetektiv der letzte Arsch unter dem Nachthimmel war?
„Schießen Sie los,“ murmelte ich in den schwarzen Hörer und goss mir die nächste Runde Pernod in die Tasse, grabschte nach zwei weiteren Eiswürfeln und hörte mir die Story an, die wie jede wilde Geschichte in meinem Leben mit einer Extraportion Absinth begann, und nicht mit einem verdammten grünen Salat.
Der Rap von der perfekten Familie durchflutete meine Wahrnehmung. Die jugendliche Stimme des alten Bankiers lullte mich ein wie die Stehsätze eines Provinzpolitikers bei der Eröffnung eines neuen Autobahnabschnitts: Das verschwundene Familienoberhaupt war der einzige Sohn des Herrschers über Millionen von Vermögenskonten und anscheinend ein erfolgreicher Immobilienentwickler, seine Frau eine Größe auf dem Gebiet der chirurgischen Gynäkologie (mein Stammhirn lieferte dabei ziemlich unglaubliche Bilder, zu jeweils der Hälfte aus Youporn und Onlyfans zusammengestohlen), der ältere Sohn ein Vorzeigestudent, die jüngere Tochter Ballettschülerin und lauter Einser schreibende Oberstufenprinzessin, dazu eine begabte Zeichnerin und anderen Unsinn mehr. Wohin man auch sah, überall brillierte hohe Intelligenz oder loderte das Feuer von Ausnahmetalenten – und trotzdem waren alle wie vom Erdboden verschluckt. Aus dem sogenannten Leben verschwunden. Nicht mehr auffindbar. Wie ein alter Frachtkahn im Alberner Hafen untergegangen.
Ich zündete mir eine Moods an und inhalierte den Rauch, während die Bergpredigt am anderen Ende der Leitung nicht aufhören wollte. Die Wohnung der verschwundenen Familie lag gleich hier um die Ecke, ich hätte, wenn ich gewollt hätte, hinpissen können. Neutorstraße, nahe der ehemaligen Börse, in einem sanierten Altbau, natürlich war es das Penthouse, ganz oben, sechster Stock, nach der Beschreibung des Bankiers eine Oase an entfesseltem Luxus. Ganz wie es das Geschäftsmodell eines gehobenen Immobilien-Entwicklers vorsah, mit dem obersten Gebot: du sollst keine anderen Wohnpaläste haben neben den meinen.
Der Zigarilloqualm in meinem Kopf verstärkte die Wirkung des fünften Absinths. Ich fühlte mich in einem Limbo zwischen noch nicht tot und gerade eben auferstanden, es war weit nach zwei Uhr früh als ich auflegte und der Bankier in seine Restnacht geflohen war. Auf jeden Fall war die Leitung tot, und ich hatte den verdammten schwarzen Hörer in der Hand, ein vorsintflutliches Modell aus dem analogen Zeitalter. Ich sah mich um und brauchte keinen Stilberater, um festzustellen, dass ich in einem erbärmlichen Loch hauste. Vierzig Quadratmeter heruntergewohntes Elend. Überall Aschenbecher mit ausgedrückten Kippen und leergetrunkenen Tumblern, in denen Myriaden von Fruchtfliegen Schnellpolka tanzten. Die Vorhänge zerschlissen, das ungemachte Bett ein übelriechendes Stillleben des Grauens. Die Toilette erinnerte an frühe Schüttbilder von Hermann Nitsch. Und in der Küche standen noch geöffnete Dosen mit Katzenfutter herum, die keiner mehr brauchte. Meine rotgestreifte Tigerkatze Isola war tot. In den letzten Tagen hatte sie kaum noch gefressen, hatte das Wenige erbrochen und Dauerdurchfall gehabt. Schließlich war sie letzte Nacht einfach umgefallen und wenige Sekunden später gestorben. Hatte einfach so dagelegen. In einer Lache aus irgendeiner Flüssigkeit, die aus allen Löchern getreten war. Kein sehr schöner Anblick, falls mich jemand fragen sollte, aber es war sowieso niemand da. Hier drinnen in der Küche roch es erbärmlich, nach abgestandener Luft und dreierlei Erbrochenem von der toten Hauskatze. Ich sollte all den Dreck wegräumen und vierzehn Tage durchgehend lüften. Aber vielleicht konnte kalter Zigarilloqualm auch einiges davon kaschieren.
„Ich überweise Ihnen eine gewisse Summe im Voraus, dann können Sie loslegen“, hatte der Bankier aus Frankfurt das nächtliche Telefonat mit einer neugierig machenden Verheißung beendet. Zwanzigtausend. Müssten morgen auf Ihrem Konto sein. Er nannte mir eine Zahlenkombination, die mir nicht ganz unbekannt war: die notleidende Soll-und-Haben-Station eines mittelmäßigen Versagers. Ich war ständig im Minus. Die Mietraten und Energiekosten stiegen wie Heißluftballone in ungeahnte Höhen, der alte Toyota verschlang immer mehr Sprit, der sechzehnjährige Sohn fing an teuer zu werden, und die Absinthflaschen waren auch nicht umsonst bei der Heilsarmee zu erwerben. Wie mies die Geschäfte auch gingen, auf das destillierte Wermutkraut konnte ich nicht verzichten. Der gute alte Pernod half mir, die Gegenwart zu ertragen, die Vergangenheit zu vergessen und die Zukunft für einen waghalsigen Akrobaten zu halten, der den dreifachen Auerbach gehechtet niemals hinkriegen würde. Mein Sohn dagegen schon. Philipp war begeisterter Wassersportler. Mittlerweile ein Meter achtzig hoch, dünn, aber trainiert, mit einem Po, der auf TikTok jugendliche Massenhysterien auslösen könnte. Keine Ahnung, warum ich jetzt daran dachte. Ich holte einen zerkauten Kugelschreiber aus dem Sakko und notierte mir ein paar Stichwörter auf einer ziemlich gebrauchten Serviette: Die perfekte Familie. Das Penthouse, nicht einmal dreihundert Meter entfernt. Der geheimnisvolle Bankier, der mir das Licht eines Auswegs in Form von zwanzigtausend Eiern in Aussicht gestellt hatte. Ich konnte den verdammten Underliner drehen und wenden, wie ich wollte, soviel hatte ich noch nie für einen verdammten Auftrag bekommen, schon gar nicht im Voraus.
Ich ging die paar ausstehenden Rechnungen in meinem Kopf durch. Die meisten meiner Klienten zahlten zögerlich, und wenn, dann in bar, ohne Quittung und alles. Den meisten waren die erteilten Aufträge peinlich, vor allem, nachdem sie erfahren hatten, mit welchen Psychopathen sie unter einem Dach auskommen mussten: mit dem heimlichen Crossdresser im Ehebett, einem drogenfressenden Stiefsohn, der dauerbissigen Dogge, und dem Postboten, der sie alle mit seinem Riesenpenis beglückte, Hund inklusive, wovon ich sogar Sequenzen im Darknet aufgetrieben hatte. Der normale Wahnsinn eben. Worauf die Leute abfuhren, wenn keiner so genau hinsah.
Diese Vorzeige-Familie aus dem Luxus-Penthouse war jedenfalls verschwunden. Vater-Mutter-Sohn-Tochter, allesamt weg. Ich ahnte, dass diese mysteriöse Geschichte Abgründe verbarg, die sich unter all dem oberflächlichen Glanz nach und nach auftun würden. Sobald die Bankierskohle mein Konto erstrahlen ließ, würde ich einen gewissen Küppers anrufen. Den Facility-Manager des Neutor-Straßen-Gebäudes, eine Art Hausmeister. Küppers, das klang nach einem Schokoriegel für Achtjährige oder einem zwielichtigen Tanzlehrer aus Mitteldeutschland. Ich warf skeptische Blicke auf eine Handynummer aus ziemlich vielen Sechsen und einer Null hintendran. Mein Ich war noch immer geflutet von der geschilderten Perfektion. Okay, welcher Vater denunzierte schon gern seine Familie, ich war auch stolz auf meinen Sohn und konnte meiner Ex-Frau kaum böse sein. Wir hatten uns einfach auseinandergelebt wie zwei traurige Clowns, die nicht mehr miteinander auftreten wollten. Ich frequentierte schwule Saunen wie andere Leute den Wirt nebenan, und Agnes betrieb eine esoterische Buchhandlung, deren Ladenhüter gegen das geballte Grauen im Alltag ankämpfen wollten: glatte Haut, schöne Gedanken, entgiftete Leber – Friede, Freude und Eierkuchen. Das Leben war ein rauschendes Fest ohne Alkohol, und der Planet eine verdammte Scheibe.
Wenn ich so nachdachte, war unser Familienleben völlig aus dem Ruder gelaufen: ich hatte eine Vorliebe für devote jüngere Männer entwickelt, Agnes versuchte die Welt mit ganzheitlicher Literatur zu retten, und Philipp wollte Staatsmeister über die 100 Meter Delphin oder Kraul werden. Wir drei passten ungefähr so gut zusammen wie ein blutiges Tomahawk-Steak, gesüßtes Schlagobers und ein angerösteter Stöckelschuh. Wenn jemand von uns dreien sprach, hörten die beiden anderen kaum zu. Dachten an ihre Eskapaden in der Römersauna, an einen Hochwald voll mistelschneidender Druiden oder an die verdammten Bahnen im Stadthallenbad. 37,3 / 38,5 / 39,0 / 36,9 – was nach erhöhten Körpertemperaturen klang, waren Philipps Durchgangszeiten über 50 Meter Delphin. Super – aber noch nicht Weltklasse. Der Junge war ehrgeizig wie eine Legion aus Elitestudenten. Woher er das hatte, wussten weder Agnes noch ich. Seine Eltern waren jedenfalls faul, demotiviert und trotzdem Burnout gefährdet. Gegen das Ausgebrannt Sein würde ich Einspruch erheben. Dafür konnte ich meinen Hang zu allgemeiner Bequemlichkeit mit einigen Ausrufezeichen unterschreiben. Und richtig motiviert war ich das letzte Mal als Elfjähriger gewesen, als ich das Onanieren in versifften Bahnhofstoiletten entdeckt hatte, unter der Aufsicht älterer – aber lassen wir das. Die Leute mussten nicht jeden Fussel aus meiner zerfransten Vorvergangenheit wissen.
Ich schrak aus meinem Selbstgespräch hoch, aber es war niemand hier. Nur ich selbst, eine Flasche Absinth und fünf Millionen nutzloser Dinge. Meine rotgestreifte Katze ging mir schwer ab. Ihre kratzenden Pfoten und das klägliche Mauzen, wenn sie Hunger hatte, ihr sanftes Schnurren, wenn das Schüsselchen leergefressen war. Ich fühlte mich alleingelassen. Mit einer Kippe zwischen den Lippen und dem nächsten Tumbler in der Hand. Ich atmete schwer und schwitzte im Stehen. Man konnte Mitleid mit mir haben. Den nächstbesten Arzt rufen. Oder es einfach sein lassen. Ich entschied mich für letzteres, starrte auf die geöffneten Dosen Katzenfutter und spürte, wie sich die Einsamkeit wie eine riesige Boa Constrictor um meinen vergammelnden Körper schlang. Und draußen begann es wieder zu regnen.
*
Die Dachterrassenwohnung war groß. Mehr als das. Sie war riesig, von unglaublichen Ausmaßen. So einzigartig wie praktisch unbezahlbar. Und was einem sonst noch einfiel zu allgemeinem Größenwahn und Imponiergehabe. Zwei Stockwerke, jedes davon 30 Meter lang, in mehr als großzügige Räume unterteilt, und von zwei turmähnlichen Gebäudeteilen begrenzt, die ebenfalls zur Immobilie gehörten. Die Wände allesamt blütenweiß, dafür kaum mit Bildern behängt. Allein die Möbelstücke mussten mehr als so mancher Sportwagen gekostet haben: Rolf Benz, Minotti, Ligne Roset und wie die Lieblingsmarken blasierter Innenarchitekten so hießen. Ich brauchte einige Minuten, um den Luxuströdel als das wahrzunehmen, was er ohnehin darstellte: hin geprotzter Reichtum, der sich selbst genügte. Die inszenierte Wohlstandsverwahrlosung diente vor allem der eigenen Heiligsprechung, und ich wettete 10.000 Euro gegen ein Loch in der Hosentasche, dass die verschwundenen Luxusgestalten genau das vorgehabt hatten: sich über den Dächern Wiens einzigartig zu fühlen. Dass dafür einige Millionen Cash nützlich sein konnten, lag auf der Hand. Sogar auf einer so schmutzigen wie der meinen.
Mittlerweile hatte der mysteriöse Bankier tatsächlich die zwanzig Riesen rübergeschoben, mein marodierendes Girokonto wäre um ein Haar explodiert und in einer höheren Guthaben-Stichflamme aufgegangen. Meine Bankbetreuerin hatte todsicher hundertmal nachgesehen, ob mit der fetten Überweisung alles seine Richtigkeit hatte, aber wie sie es auch drehen und wenden wollte, die fünfstellige Zahl auf dem verfluchten Konto ging einfach nicht weg, sondern blieb auf der schwarzen Ziffernseite wie ein verdammtes Stück Kaugummi auf dem Trottoir kleben: hingespuckt, von einer unsichtbaren Schuhsohle auf den Kontorahmen gepresst und solange dort aufhältig, bis sich die Grundbedürfnisse des Kontoinhabers dieser Summe erbarmten: eine halbe Palette Absinth beim Getränkehändler meines Vertrauens geordert, einige offene Rechnungen in aller Stille beglichen, meiner Exfrau die eine oder andere irdische Freude bereitet und Philipp fünf Paar brandneue Sneakers gekauft, um ein bisschen mehr Vater zu sein, jener Typ Sugar Daddy, der auch einmal etwas springen ließ und nicht nur salbungsvoll von Ethik, Moral und anderen metaphysischen Umständen schwadronierte.
Wie ein Dieb, der vom Glanz der soeben aufgebrochenen Wohnung geblendet war, stolperte ich im Atrium herum, inspizierte die edlen Möbelstücke und überlegte, ob im Flügelaltar hohen Kühlschrank neben der offenen Schauküche ein paar Craftbier-Flaschen herumlungern würden, voller Sehnsucht nach einem Speed-Opener und einem durstigen Ermittler wie mir. Auf einer Marmorablage über dem Induktionsherd stand eine einsame Flasche Absinth, mein Durstgefühl wurde stärker, direkt proportional zur abnehmenden Bereitschaft, mich konzentrieren zu müssen. Der gute alte Pernod starrte mich durchdringend an, und ich schaute schuldbewusst und kleinlaut zurück. Der grüne Stoff war nur wenige Armlängen von mir entfernt, und doch lagen mehrere Welten zwischen uns: beinahe das gesamte Spektrum der verwahrlosten Wohlstandsgesellschaft. Die an der Oberfläche so untadelig wirkte. Womit wir wieder hier wären: in dieser riesigen Penthouse-Wohnung mit viel Marmor und ohne einen einzigen Staubfussel.
Küppers stand in der Nähe des Eingangs und ließ mich ungerührt reden. Ich fragte ihn ein wenig aus, aber viel hatte der Mann in mittleren Vierzigern nicht zu erzählen. Oder er wollte es nicht. Jedenfalls schien er die verschwundenen Bewohner dieser Räumlichkeiten nur oberflächlich gekannt zu haben. Der Vater sei redselig gewesen, wie es wohl typisch für einen erfolgreichen Immobilienentwickler war. Die Mutter wirkte dagegen eher zurückgezogen und scheu, aber durchaus attraktiv, eine gebürtige Portugiesin, die in Lissabon, Frankfurt, Paris und Stanford/Kalifornien Medizin studiert hatte. Die beiden Kinder, adrett und hübsch anzusehen, waren ziemlich intelligent, wenngleich auf beinahe schamlose Weise verzogen.
Irgendwie schien Küppers angewiesen worden zu sein, mir wenig als ein paar Allgemeinplätze zu verraten. Er rührte sich kaum von der Stelle, zog nicht einmal die Augenbrauen hoch, machte nichts. Stand einfach da und musterte mich misstrauisch. Wie einen ungebetenen Staubsaugervertreter. Oder den Leichenbestatter, der sich in der Tür geirrt hatte. Diese Wohnung hatte 850 Quadratmeter. ACHTHUNDERTFÜNFZIG. Mein Loch in der Sterngasse hätte hier ungefähr zwanzig Mal hineingepasst, und es wären immer noch einige Quadratmeter für einen Hund oder die Hauskatze (ein Stich durchquerte wie ein Kondensstreifen meine Herzgegend) übriggeblieben.
Ich inspizierte die Zimmer, allesamt mit blütenweiß gestrichenen Wänden, jeder Menge Led-Spots an der Decke – und mit Möbeln vollgestellt, die eine durchgeknallte Innenarchitektin in jahrelanger Feldforschung ausgesucht hatte. Wörter wie „gediegen“, „distinguiert“ oder „zeitgemäß luxuriös“ flanierten in meinem limbischen System herum. Ich bekam Lust auf den nächsten Absinth, einen Joint, eine Leberkässemmel, auf irgendetwas, das im Kontrast zu dieser versammelten Pracht und Herrlichkeit stand.
Küppers folgte mir wie ein frustriertes Schoßhündchen, das ein Leckerli zu wenig bekommen hatte, beinahe winselnd. Irgendwie hatte ich Mitleid mit ihm. Er war ein Lakai wie er im Buche stand, und zwar in einem ziemlich seltsamen Buch. Jeder Raum wirkte, als stünde er seit Monaten leer. Trotzdem war kein einziger Staubkrümel, kein bisschen Lurch zu entdecken. Eine Putzbrigade vom Feinsten musste hier täglich ver-, oder nein: gekehrt haben. Irgendwie begann ich mich zu fragen, wo die Kohle für diesen übertriebenen Luxury Lifestyle herkam.
„Immobilienentwicklung“, krächzte Küppers mehrmals wie ein dementer Papagei und rieb seinen juckenden Rücken gegen den Türrahmen eines der Jugendzimmer. Ich öffnete einen riesigen Einbauschrank. Ballettkleider, spitze Tanzschuhe und sehr enge Tops. Die Tochter sei eine emsige Elevin an der Wiener Staatsoper gewesen. Ich hob den Kopf und musterte den Lakaien ohne Gesicht. Küppers kleinkariertes Hemd war scheußlich, die Jeans verbeult und sein Tweed-Sakko hatte schon glücklichere Schafe gesehen. Ein Bild minderen Jammers unter all dem sinnlosen Luxus. Ich hatte die Hälfte der Räume absolviert. Alle sahen gleich langweilig aus. Man musste schon schräg drauf sein, um in diesen aseptisch wirkenden Räumen überleben zu können. Die riesigen Flatscreens waren so groß wie Garagentore und ersetzten die kaum vorhandenen Bilder. Wenn es etwas Gerahmtes gab, waren es Auszeichnungen wie ‚Immobilienagentur des Jahres‘, ‚Gynäkologin des letzten Jahrzehnts‘, ‚bestes Abitur ever‘ oder ‚Schulprinzessin 2023‘, was auch schon ein paar Jahre her war.
Auf einem riesigen Marmortisch im oberen Stockwerk lagen vier Fotoaufnahmen. Küppers hatte sie aus undurchschaubaren Gründen hier im Esszimmer deponiert. Zwei Weinkühlschränke starrten mich feindselig an. In ihrem Inneren surrte eine perfekt eingestellte Klimaanlage. Bezeichnungen wie ‚Sassicaia‘, ‚Domain Drouhin‘ oder ‚Chateau Palmer‘ wucherten wie Blumen des Bösen in meinem Stammhirn. Jetzt einen fetten kalifornischen Chardonnay köpfen, in einen dieser riesigen Zalto-Kelche aus dem Designer-Glasschrank blubbern lassen, sich die obersten drei Hemdknöpfe aufmachen und die tödliche UV-Einstrahlung auf der geräumigen Dachterrasse genießen – bourgeoise Gelüste malträtierten meine Wahrnehmung. Küppers lächelte dazu wie der letzte Unterstufen-Idiot. Im Laufe unserer Hausbegehung war er immer schweigsamer geworden. Winselte etwas von seinem niedrigen Monatsgehalt. Und erinnerte mich an einen verlotterten Rauhaardackel aus dem nächstbesten Tierheim. Einen Augenblick befürchtete ich, als höbe er sein Bein und würde meine letzte gute Stoffhose ruinieren. Zu meinem Glück ließ er dieses Vorhaben bleiben.
Von dieser Dachterrasse aus gab es Blicke, die in einem Journal wie Besser Wohnen als ‚überwältigend‘ oder ‚atemberaubend‘ beschrieben wären. Einfach pittoresk. Postkartenverdächtig. Instagrammable jedenfalls. Der gotische Dom im Hintergrund glich verblüffend seinem Ebenbild auf dieser pinkfarbenen Haselnuss-Schnitten-Verpackung: eine markante schwarze Silhouette, die den ersten Bezirk wie eine dunkle Verheißung bedrohte. Der Anblick des mittelalterlichen Memento Mori bedrohte meine Sterblichkeit zu Beginn des dritten Jahrtausends. Ich zündete mir das nächste Zigarillo an und begann mich etwas wohler zu fühlen, nur ein Tumbler mit der grünen Fee und einigen Eiswürfeln darin fehlte.
Küppers wirkte immer abweisender, als befürchtete er, ich würde angesichts der eingekühlten Weinschätze länger verweilen wollen. Alle paar Sekunden blickte er auf seine billige Quarzuhr und ermahnte mich, die verdammten vier Fotografien auf dem Marmortisch mitzunehmen. Die Bilder des Vaters, der Mutter, des älteren Sohnes und der jüngeren Schwester. Adrette, strahlende Gesichter in einer keimfreien Umgebung. Alles in diesen Räumen war blankgescheuert wie ein Säuglingshintern. Makellos. Genau das war das verdammte Wort, nach dem ich gesucht hatte. MAKELLOS!!! In Großbuchstaben hin gekrakelt und mit drei Ausrufezeichen versehen.
Ich sackte die Bilder ein und ging mit Küppers nach unten. Ohne seinen Protest abzuwarten, langte ich nach der Absinthflasche über der Kochinsel und genehmigte mir im Vorübergehen ein paar tiefe Schlucke Pernod. Die grüne Fee jubilierte kurz in meiner Mundhöhle, dann war die Euphorie schon vorüber. Ich drückte das angerauchte Zigarillo in einem Abwasch so groß wie ein Kinderplanschbecken aus und begrub die zerquetschte Kippe unter dem Wasserstrahl einer vergoldeten Küchenarmatur. Bewegungen und Gesten, die Küppers als unangemessen empfand. Aber er hatte sowieso nichts zu reden. Kein Mitspracherecht, nicht die geringste Befugnis zur Einwandbehandlung. Er war ein kleiner Lakai und sonst gar nichts. Wahrscheinlich hatte ihn die Familie wie ein Haustier gehalten. Komplett mit Leine, Brustgeschirr und einem rosafarbenen Napf für das Trockenfutter.
Kurz bevor er mich rauswarf, durfte ich meine Fingerkuppen auf einer Festplatte für den digitalen Türöffner abspeichern lassen. Damit ich ab sofort die verdammte Wohnung ohne Küppers träge Anwesenheit betreten konnte. 850 Quadratmeter. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Mindestens fünfzehn Räume, sechs Schlafzimmer, ein echter Hammam und weitere Saunaanlagen in den beiden Türmchen auf der Dachterrasse, die von zahlreichen Denon-Möbeln, dem Napoleon-Grill in X-Large-Ausführung, einer perfekt bestückten Außen Bar und einem guten Dutzend Stechpalmen vollgestellt war. In den Wohnsalons standen fette Lederfauteuils auf massiven Stahlrahmen herum, und ein Korridor beinahe so breit wie die Ringstraße führte zu Luxusküchen und Badezimmer, die der Innenarchitekt des russischen Diktators auch nicht geschmackloser hätte ausstatten können.
Im Aufzug Richtung Alltagselend hinunter fragte ich mich, wie man in dieser Luxuswelt überleben konnte. Ich hatte mich in diesem Dachausbau dort oben nach nicht einmal zwanzig Sekunden wie lebendig begraben gefühlt, mit einem Zettel am großen Zeh, meinem besten Anzug um den verwesenden Leib, eine blasse Leiche, wie man sie sich trostloser kaum ausdenken konnte. Immerhin hatte Küppers meine Fingerkuppen erfolgreich auf dem dafür zuständigen Server gespeichert. Ich drückte die rechte Zeigefingerspitze gegen das Lesegerät, irgendein digitaler Scheiß summte kurz auf, und eine riesige Glas-und-Stahl-Türe entließ mich wie einen elenden Hausierer ins Freie.
*
Eine halbe Stunde später saß ich in der Loos, in diesem Verschlag gleich vorne links neben dem Eingang, und nippte an meinem Absinth Sour mit Eiweiß, das schleimige Grün sah zwischen den Hoshizaki-Eiswürfeln richtig anziehend aus. Auf dem wackligen Hochtisch hatte ich die vier Fotografien ausgebreitet, als wollte ich mir selbst mit ein paar Tarotkarten die Zukunft prophezeien. Dabei ging es eher um die Vergangenheit dieser vier verschwundenen Leute. Warum sie sich über Nacht davongemacht hatten und warum es kein Lebenszeichen mehr von ihnen gab? Ob das Verschwinden aus freien Stücken passiert oder erzwungen war, und wenn letzteres stimmte, wodurch und von wem?
Der Absinth Sour roch ein wenig nach Grab, nach nassem Erdhügel oder welkem Laub, das im Herbst auf den teuren Marmor von Prominentengräbern in einem der nobleren Wiener Friedhöfe fiel. Ich unterdrückte dieses melancholische Gefühl der Vergänglichkeit und vergeudete mehrere Blicke durch das Fenster hinaus an Passanten, die vor der Loos vorüberstrichen wie Tote auf Pauschalurlaub. Männer und Frauen, Fremde und Einheimische, manchmal überraschend gut, die meisten aber nichtssagend gekleidet. Einige Male erkannte ich Leute, mit denen ich etwas gehabt hatte: die Frauen sahen ostentativ weg oder spielten nervös an ihren Handys herum, aber die Männer blickten zurück und schienen sich zu fragen, ob sie tatsächlich mit diesem schrägen Absinth-Konsumenten in einer Sauna gewesen waren und ob sie dieses Erlebnis nicht wiederholen sollten – wenn, dann sicher nicht mehr mit diesem heruntergekommenen Typen in der Loos-Auslage, der mit verkatertem Gesicht, grauen Bartstoppeln und Waschbär-Rändern unter den entzündeten Augen den nächsten Absinth Sour bestellte, während das verdammte Leben an ihm vorüberfloß wie ausgeschüttete Milch.
Eines von diesen Gelegenheitsgespenstern legte mir sogar seine Visitenkarte auf den Tisch, mit unkenntlich gemachter Firmennummer und darüber geschmierten Zahlen, die auf ein Wertkartenhandy hinwiesen, wohl jenes, das unablässig in seiner Sakkojacke summte, nervös und gefährlich, wie die Begegnungen da draußen auf den Schlachtfeldern des Begehrens so waren. Ich hatte zwar ausreichend Sex, aber viel zu oft mit den falschen Leuten. Diesen toxischen Typen der Nacht, die sich im Morgengrauen des nächsten Tages in harmlose Buchhalter, biedere Busfahrer oder Familienväter auf Abwegen verwandelten, die geleaste Mittelklassewägen fuhren, in freudlosen Supermärkten Rabattmarken einlösten, unaufhörlich Lotto spielten und zuhause in Ruderleibchen und ausgebeulten Shorts Andreas Gaballier hörten. Nackt, mit jeder Menge Poppers in den Nasenlöchern und in Begleitung der eigenen Geilheit waren sie in gewissen Dampfkabinen und Dunkelkammern durchaus begehrenswert gewesen, auf jeden Fall hatten sie mir ihren behaarten Arsch hingehalten und das bekommen, wonach sie hinter ihrer kleinbürgerlichen Fassade tatsächlich gierten, aber jetzt vor der Loos sahen sie wieder hilflos und kläglich aus, wie quengelnde Kleinkinder, die heimlich ihren nervösen Eltern entwischt waren – womit mein Blick wieder auf das Foto des gutaussehenden Mannes in den frühen fünfziger Jahren zurückgekehrt war: das verschwundene Familienoberhaupt. Längere hellbraune Haare, die wie Spaghetti-Fäden Richtung Schultern flossen, im Stil jenes griesgrämigen österreichischen Autors, der auch schon auf die Achtzig zuging und mittlerweile den Literaturnobelpreis eingesackt hatte. Ich konnte mich erinnern, in der Unterstufe mit dessen früheren Werken traktiert worden zu sein. Von einem Gymnasiallehrer mit Schnauz und längeren Haaren, der sich ebenfalls für einen Dichter gehalten hatte, allerdings dann doch nur der Autor von zwei dünnen Lyrikbänden im Selbstverlag geworden war.
Ich schlürfte am algengrünen Alkoholschleim – der gute alte Pernod schmeckte in jedem Drink zu jeder Tageszeit und in jeder erdenklichen psychischen Verfassung. Ich warf einen neuerlichen Blick auf das Foto: dieser Immobilienmensch mit dem Peter-Handke-Haircut war sportlich, keine Frage. Seine Haut glatt und dunkel gebräunt, wie die jener Tennislehrer, auf die ich schon als Junge in den frühen neunziger Jahren abgefahren war: braune Haut, kurze weiße Shorts, enganliegende Polos, ebenfalls in der verdammten Farbe der Unschuld. Die Härchen auf dem Armrücken waren von zahlreichen Einzelstunden unter einer gnadenlosen Sommersonne gülden gefärbt und die strammen, muskulösen Beine gerade richtig behaart. Die drei eingesteckten Tennisbälle in der rechten Shorttasche erinnerten mich ständig an den Drang, hinter irgendwelchen Plakatwänden oder blickdichtem Buschwerk onanieren zu müssen, meine vierzehnjährige Imaginationskraft verwandelte die Beule dieser drei gelben Bälle in einen fleischgewordenen Zauberstab, der quer in den Shorts lag und mir den versauten Himmel auf Erden versprach, zumindest solange ich hinter der blöden Plakatwand wichste und mein pubertäres Gehirn genauso kläglich wie das vergossene Sperma im einsetzenden Regen zu verfließen begann.
Keine Frage, dieser Mann auf dem Foto war begehrenswert, und er wusste das selbst nur allzu genau. Sein Lächeln war anzüglich, aber nicht vulgär, sondern strahlte eher eine erotische Selbstbezogenheit aus. Ein distinguierter Mann, in weißes Leinen gehüllt. Das Foto musste im letzten Sommer aufgenommen worden sein, auf der riesigen Terrasse jener Wohnung, die ich vor ein paar Stunden aufgesucht hatte. Auf dem Beistelltisch eine Ausgabe der Zürcher Tageszeitung und ein Tumbler mit irgendwas Bernsteinfarbenen darin, im Hintergrund der Stephansdom wie ein in den Himmel ragender Fluch. Der Mann lächelte sehr entspannt in die Kamera und hatte wohl allen Grund dazu. Seine Bankkonten waren gut gefüllt, die Blutwerte schienen perfekt zu sein, und unten in der Garage parkten Ferraris und Porsches unter seinem dreckigen Namen. Auf dem Foto schien alles so wunderbar in Ordnung zu sein, ich hätte vor Bewunderung loskotzen können. Weil mich der Typ so entspannt vom Foto herunter anmachte oder da draußen hinter der Loos-Scheibe die nächsten Schatten schlecht verdrängter Vergangenheit vorüberstrichen, wie verlorene Gespenster, die sich im Horrorfilm geirrt hatten.
Ich nippte an meinem Absinth, drehte das Foto mit dem entspannten Immobilienhelden um und konzentrierte mich auf seine Gattin, eine adrette Frau in den späten Vierzigern, hübsches Gesicht, pechschwarze Haare, einen weichen, üppigen Mund, sehr bestimmte Gesichtszüge. Diese Frau wusste genau, was sie wollte – mehr vom Leben. Mehr vom Geld. Mehr von allem, meiner Meinung nach. Dem Grübchen am Kinn zufolge musste sie ehrgeizig sein, vielleicht auch mit einem Hang zur Hysterie ausgestattet, wenn irgendeine Erwartung genauso kläglich ins Wasser geplumpst war wie dieser peinliche Onkel, der sich auf allen Familienfesten betrank und oft genug von der Feuerwehr aus dem Dorfteich gefischt werden musste, einen halben Augenblick, bevor er zur Wasserleiche mutierte. Wahrscheinlich besaß die Medizinerin auch eine Extraportion Humor, jedenfalls hatte sie mit Sicherheit eine genaue Vorstellung davon, wie die Welt da draußen funktionieren musste: nach ihrem Willen, ihrem Ehrgeiz, ihrem hohen Anspruch vor sich und den anderen acht Milliarden Menschen.
Nach außen eher zurückhaltend, war sie vielleicht von ganz unten gekommen und hatte inzwischen den Zenit der bürgerlichen Existenz erreicht, als erfolgreiche Gynäkologin und zweifache Mutter, Auszeichnungen hier, Auszeichnungen dort, Ehrendoktorat und jede Menge beeindruckender Boni inklusive. Ich hatte die gerahmten Urkunden in dieser riesigen Wohnung gesehen, Ärztin des Jahres, Gynäkologin des Jahrzehnts und so weiter. Dass sie niemals freiwillig auf dieses Leben verzichten würde, war so klar wie sechs Richtige im Lotto. Die gebürtige Portugiesin wollte alles vom Leben, die gesamte Torte mit sämtlichen Kirschen darauf – warum sollte ausgerechnet sie aus diesem makellosen Leben verschwinden?
Da war es wieder, dieses Wort „makellos“, das mich schon bei der Wohnungsbesichtigung heimgesucht hatte. Makellose Einrichtung, makelloser Glanz, makellose Sauberkeit, makellos war dort alles gewesen, bis auf Küppers und mir.
Nach weiteren motivierenden Schlucken vom algengrünen Absinth-Drink sah ich mir die beiden Fotos vom Nachwuchs an, des älteren Sohnes und der jüngeren Tochter. Beide trugen langweilige Markenpolos und Jeans aus dem hochpreisigen Segment, Etro-Hemden und Hackett-Chinos, Leinenschuhe von Logan, und das Mädchen Hollister-Jeans und eine Jacke von Johnny Choo, falls meine Absinth-trüben Augen nicht trogen. Das typische Outfit von Leuten, mit denen es das sogenannte Schicksal mehr als gut meinte.
Der Sohn war zwar kein Junge mehr, aber ebenso wenig bereits ein richtiger Mann: glatte dunkelbraune Haare, penibel geschoren, zurecht gezupfte Augenbrauen, strahlend graue Augen über einen weichen, wie in einem Aquarell dahinfließenden Mund, dazu ein ironisches Lächeln in den Mundwinkeln als kleine sinnliche Draufgabe. Genauso hübsch wie durchtrieben. Irgendwie kam mir dieser Bengel sogar peripher bekannt vor, ich wusste nur nicht woher und weshalb. Vielleicht modelte er für irgendwelche Scheinmarken oder er war als blasierter Prinz in den ‚Seitenblicken‘ nach der ‚Zeit im Bild‘ aufgetreten, wo gelangweilte Millionärskinder auf bescheuerten Cocktailpartys peinliche Statements zu ihrem sorgenfreien Dasein abgaben. Wie auch immer, dieser junge Mann war wohlerzogen, gebildet, von seiner Umgebung hofiert, vielleicht auch bewundert oder beneidet. Das knappe ironische Lächeln hatte er sich von seinem Dad abgeschaut – schließlich musste er seinen beruflich mehr als erfolgreichen Erzeuger bewundern. Derselbe feste Blick in die Kamera, dasselbe anzügliche Lächeln, derselbe langweilige Style, dieselbe Langeweile, die alle vier Fotos wie eine verdammte Aureole umgab.
Die jüngere Tochter wirkte genauso distanziert – etwas kindlicher noch, weil sie erst 18 Jahre alt war. Trotzdem schien sie genau wissen, aus welch edlem Stall sie kam und wie hoch ihr Marktwert an der Stock Exchange des täglichen Begehrens sein musste – eine high performende Aktie mit fiebrigen Erfolgskurven nach oben. Eine Ballettelevin im Korps der Wiener Staatsoper, Vorzugsschülerin an einer dieser Eliteschulen namens Sacré Coeur, Theresianum oder Montessori Superior plus – egal wie skeptisch ich diese vier Fotos auf diesem wackligen Hochtisch in der Loos betrachtete, niemand aus dieser Familie wollte freiwillig die eigene Existenz aufgeben: alle vier Personen waren genauso makellos und gediegen wie ihre riesige Dachgeschosswohnung im ersten Bezirk, eine 850 Quadratmeter große Erfolgslandschaft aus schwerem Marmor, blank gescheuerten Böden und dutzenden Sitzgruppen in mindestens Fifty Shades of Grey. So makellos, dass es meinen Augen weh getan hatte. So gediegen und unangreifbar, dass man hinterher gern wieder abhauen wollte. In eine schwule Sauna, ein versifftes Bahnhofsklo oder einen schummrigen Darkroom, wo unsichtbare Münder und Schwänze wie Schlingpflanzen in einem Dorfteich wucherten. Ich packte die Fotos in einen Umschlag und fragte mich nochmals, warum zum Henker diese perfekte Familie verschwunden war. Ohne die geringste Spur hinterlassen zu haben. Eine Luxusentität, die gar nicht untergehen konnte. Wie dieser Dampfer vor mehr als 120 Jahren, der als unsinkbar gegolten hatte und dennoch an einem Eisberg zerschellt war. Ich musste herausfinden, wo es solche Eisberge gab. Zumindest hatte ich dies dem Bankier mit der jugendlich klingenden Stimme versprochen.
*
Ich traf meine Ex-Frau an einem neutralen Ort in der Nähe ihrer esoterischen Buchhandlung. Da Agnes wusste, dass ich mit ihrem ganzheitlichen Wahnsinn nichts anfangen konnte, zogen wir unser Date in einer leicht heruntergekommenen Bar in der Nachbarschaft durch. Wir saßen an einem wackligen Tisch am Fenster, sie nippte an einem Wellness-Smoothie herum, und ich leerte routiniert den dritten Pernod Absinth. Es mochte später Vormittag sein. Jedenfalls war hoch über uns eine im Dunst verfließende Sonne zu sehen. Im Wandspiegel über der Back-Bar waren Agnes und ich als ungleiches Paar zu erkennen, das sich zwischen einem Wellness-Smoothie und dem nächsten Absinth durch die elfte oder zwölfte Stunde des Tages stritt. Warum sie ausgerechnet mit einem flämischen Hellseher aus dem 18. Jahrhundert spirituellen Kontakt halten musste, einem gewissen Zacharias Brueghel, der die meiste Zeit seines Lebens in einem Sauerkrautfass verbracht und dort vor sich hin meditiert hatte. Meine esoterische Ex konterte mit peinlichen Fragen zu meinem Privatleben zwischen einem aus dem Ruder gelaufenen Absinthkonsum und heimlich verbrachten Nächten an den gewissen Orten sexueller Befreiung.
Immerhin: seit ich die offenen Rechnungen bezahlt hatte, war Agnes etwas freundlicher zu mir und verzichtete auf ihre giftigen Anspielungen aus dem Hinterhalt. Wenn man von ihrer Neugier absah, woher zum Teufel ich das ganze Geld hatte. Ich kam mir vor wie ein Kind, das gerade ein paar Kekse aus der Vorratsdose geklaut hatte, wurde rot im Gesicht und versuchte mich zunächst an halbseidenen Ausreden, um dann doch mit der sogenannten Wahrheit herauszurücken: dem Auftrag eines geheimnisvollen Bankiers, der die verschwundene Familie seines einzigen Sohnes suchte, bisher vergeblich, daher auch der hohe Vorschuss. Es klang trotzdem unglaublich. Wie im Absinth-Rausch erfunden.
Agnes runzelte ihre hohe Stirn und sah mir ganz direkt in die Augen. Versuchte ein paar Reste zerrüttetes Vertrauen aufzubauen und erntete doch nur Mitleid. Sie wurde immer dicker, warum wusste ich auch nicht. Aus dem fröhlichen Gesicht von früher war eine verhärmte Maske geworden, die früher wohlgeformte Brust hatte sich in einen unansehnlichen Hängebusen verwandelt und der Arsch erinnerte mich an ausrangierte Whiskyfässer einer schottischen Brennerei – ich wusste, ich jetzt alles andere als fair, aber schließlich nannte sie mich auch einen heruntergekommenen Versager, der in anderer Leute Unterwäsche herumschnüffeln musste, um sich irgendwie über Wasser zu halten: in seiner 40-Quadratmeter-kleinen-Müllhalde, die mit hunderten geleerten Absinth Flaschen vollgeräumt war und ein ideales Biotop für Kakerlaken darstellte. Kein Zweifel – das war meine Wohnung. Wenig mehr als ein Nachtasyl für besonders traurige Gestalten.
„Immerhin im ersten Bezirk,“ wandte ich ein, „Sterngasse 4, eine noble Adresse, und anstelle der schäbigen Änderungsschneiderei wird bald eine schicke Vinothek einziehen.“
Keine Ahnung, warum ich das gesagt hatte. Vielleicht um nicht ganz so heruntergekommen zu wirken. Der riesige Spiegel über der Back-Bar schien sich auf seine Weise über das ältere Ehepaar lustig zu machen: die Glaskarikatur einer esoterisch angehauchten Frau in den Wechseljahren und des Privatdetektivs im ausgeleierten anthrazitgrauen Anzug. Zerknittertes Hemd, zerfurchtes Gesicht, vier Tage alte Bartstoppeln, Absinth-Fahne. Ich sah aus wie der Oberkellner in einem Nachkriegs-Jazzklub gegen vier Uhr morgens. Keine Gäste mehr im Lokal, nur ein Haufen überquellender Aschenbecher neben einem liegengelassenen Saxofon. Und Joe Zawinul hatte Wien auch schon Richtung Manhattan verlassen.
Ich ließ meine Exfrau reden, weil ich noch etwas brauchte von ihr. Geld war es nicht, seitdem der Bankier mit der Anzahlung herausgerückt war. Zwanzigtausend, einfach so, ohne Beleg. Ohne Vorleistung. Ohne irgendwas. Dieser lebende Geldschrank musste verrückt geworden sein. Oder sein Schotter war so geheim wie verboten. In weitem Bogen am Fiskus vorbei manövriert. Was mir so egal konnte wie alkoholfreies Bier. Hauptsache, ich konnte die ausstehenden Rechnungen bezahlen und mir den Gerichtsvollzieher vom Leib halten. Vorläufig wenigstens. Ich bekam Lust, mir einen ordentlichen Ofen zu bauen. Hier in der Bar ging das nicht. Vielleicht später in meinem Toyota. Manchmal brauchte ich einen Joint, eine schnelle Tablette oder eines dieser kleinen Riechfläschchen. Letztere bekam ich in gewissen Saunen oder in einem ordentlichen Sexshop, in dem es nach Sperma, Hochleistungssex und räudigen Gedanken roch. Ich fessle dich an die Heizung, du Sau, und bewerfe dich mit Biotomaten. Wenn du dabei nicht hemmungslos stöhnst, pisse ich dir zur Strafe direkt ins Maul.
Ich schweifte vom Thema ab. Bestellte den vierten Absinth. Wartete das Ende von Agnes Fragestunde ab. Und kniff unmittelbar danach die Augen zusammen.
„Du kennst doch diesen Kurt,“ fragte ich meine Ex.
„Welchen Kurt?“
„Diesen neunmalklugen Spießer aus dem Juridicum oder wie dieser Knast für angehende Rechtsverdreher heißt.“
„Das ist einer meiner besten Freunde. Ein talentierter Wünschelrutengänger und Bienenzüchter. Und außerdem direkter Nachfahre von Zarachias dem Hellseher. Ebenfalls Flame. Und Gewinner der Goldenen Wabe für seinen Akazien-Waldblütenhonig.“
Ich gähnte. Es gab entschieden geilere Hobbys als Wasseradern aufzuspüren, wehrlosen Insekten den Honig zu stehlen oder der Nachfahre eines Hellsehers im Sauerkrautfass aus dem 18. Jahrhundert zu sein. Wie auch immer. Dieser Kurt war Lektor an der juridischen Fakultät, und genau deshalb brauchte ich eine Auskunft von ihm.
„Wann wirst du endlich Philip im Stadthallenbad besuchen?“, zischte Agnes und rührte in ihrer riesigen Handtasche herum, auf der Suche nach einem Smartphone oder nach der verloren gegangenen besseren Welt, „der Junge fragt die ganze Zeit nach dir. Er ist in dem Alter, wo er seinen Vater braucht. Auf der anderen Seite…““
„…Ja…?“
„… eignest du dich kaum als Familienoberhaupt. Eher… als…“ und dann kam wieder ihr Rap von einem Mann, der nicht erwachsen werden wollte, obwohl er schon Mitte 50 und mehr vom Tod als vom Leben gezeichnet war. Okay, ich hatte mich seit Tagen nicht mehr rasiert, roch nach destilliertem Wermutkraut und hatte nicht die ruhigste Hand. Dennoch war und blieb ich Phillips Vater. Ich dachte an den schlaksigen Jungen, einen Meter achtzig groß, dünn, aber definiert, weil er seit seinem achten Lebensjahr Schwimmen als Leistungssportart betrieb. Mittlerweile war er mehrfacher österreichischer Schüler- und Jugendmeister geworden. Soweit ich mich erinnerte, gab es in seinem Zimmer jede Menge Pokale, und über dem kleinen Schreibtisch neben dem Bett waren ein paar Zeiten auf einer Schiefertafel notiert: 49,45 – 46,86 – 56,88. Die Weltrekorde über 100 m Delfin, Kraul und Brust auf der Langbahn. Ich kannte kaum einen Burschen, der zielstrebiger als Phil war. Aber was zum Teufel hatte ich schon mit den jungen Leuten am Hut, ich wusste nicht einmal über die Schulfreunde des eigenen Sohnes Bescheid. Philipp hätte sich mit dem größten Abschaum abgeben können, und ich bekäme nichts davon mit. Akribisch malte Agnes einige Zahlen auf eine Papierserviette und schob mir Kurts Handynummer herüber.
„Frag ihm aber nicht zu viele Löcher in den Bauch.“
„In Ordnung.“
„Und besuche Philipp demnächst in der Schwimmhalle. Montags bis freitags, 14 bis 19 Uhr.“ Es klang nach den Öffnungszeiten einer Arztpraxis oder eines forensischen Zentrums für die etwas außergewöhnlichen Fälle.
„Lass dich bei Gelegenheit einmal von einem Arzt untersuchen. Du siehst irgendwie verbraucht aus.“
Die letzten beiden Sätze überhörte ich. Bedankte mich artig für die Handynummer des Lektors. Und nahm mir ernsthaft vor, bei Philipp im Stadthallenbad aufzukreuzen. Im 15. Bezirk, neben dem März-Park. Im Schatten dieser stalinistisch aussehenden Konzerthalle. Eine absolute Einöde aus Beton und Asphalt. Philipp fuhr stets mit dem Rad dorthin. Bei jedem Wetter, sogar im Winter, wenn die Straßen von ein paar Zentimetern Neuschnee bedeckt waren. Wie alt war der Junge jetzt wirklich? Fünfzehn, sechzehn, sechzehn ein halb? So um den Dreh herum. Langsam, aber sicher wurde aus dem unscheinbaren Jungen ein richtiger Mann. Ein gutaussehender noch dazu. Definierte Brust. Lange Beine. Leuchtende helle Augen. Breiter Mund. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mir zu den vagen Bildern in meinem Kopf einen runtergeholt.
*
Eine Stunde später traf ich Kurt in seinem Büro im Juridicum. Abteilung Strafrecht, irgendwo oben im dritten Stock. Der typische Paragrafen-Nerd mit Hornbrille und dem bohrenden Blick dahinter. Wehe, man konnte die bizarren Musterfälle in seinen Seminaren nicht exakt nach den einzelnen Vergehen sortieren. Ein Mann überfährt im Vollrausch eine schwangere Frau mit einem Kind an der Hand, steigt aus und ersticht einen zufällig vorbeikommenden Passanten. Bevor er aus der Tasche seiner Opfer alle Kreditkarten entnimmt und im Darknet dafür Drogen um 5.000 Euro ersteht. Analysen Sie die begangenen Verbrechen nach Schwere und Vorsatz.
Du meine Güte. Ich saß auf einem abgewetzten Stuhl diesem Dr. Kurt Vanderbilt gegenüber und fragte ihn nach einem gewissen Manuel. Manuel Schwartz. S wie in Spritzen, C wie in Chems, H wie in Heroin und so weiter. Jeder zweite Name konnte als Drogencocktail buchstabiert werden.
Kurt starrte mich an. Musterte mich wie einen demenzkranken Opa, der sich wieder einmal danebenbenommen hatte und nach der angerichteten Bescherung wie ein kleines Kind heulte.
„Er ist der talentierteste Student seines Jahrgangs,“ unterbrach Kurt meine Buchstabierversuche, „und kommt aus bestem Haus. Hat hervorragende Manieren. Sieht außergewöhnlich gut aus. Er verfügt über hohe Intelligenz, gepaart mit Charme und einem untrüglichen Gespür für bestes Ausdrucksvermögen.“
Es klang nach Mister Superman aller Klassen. Schön, edel, hilfreich und gut. Wie in einer Ballade aus der Weimarer Klassik. Kurt rief Manuels Noten vom Universitätsserver ab und las mir die Prüfungsergebnisse beinahe ehrfürchtig vor – als ob er den Teufel persönlich anbeten wollte. Lauter Einser natürlich. Nur einmal eine Zwei im römischen Recht. Was immer das war.
Laut Dr. Kurt Vanderbilt, einem gebürtigen Holländer, konnte Manuel Schwartz auch wunderbar argumentieren. Selbst in heiklen Fällen den eigenen Standpunkt vertreten. Mit dieser sympathischen Beharrlichkeit und seinem Durchsetzungsvermögen. Stets mit einem gewinnenden Lächeln auf dem Gesicht. Und dann diese schimmernden Augen – ich fragte mich, ob Kurt nicht in den verschwundenen Prinzen verliebt war. Noch ein paar Minuten Bewunderungsrap, und wir konnten uns gemeinsam einen absäbeln. Innerhalb von fünf Minuten wurde auch einem Dummy wie mir klar, dass Manuel ein Ausnahmestudent sein musste: hochintelligent, hervorragend gebildet, unterwegs zur Sub auspiciis-Auszeichnung und anderen akademischen Weihen. Ich unterdrückte ein Gähnen. Akademische Auszeichnungen waren mir so egal wie ein Furunkel am Hintern.
„Manuels Freundin“, fügte Dr. Kurt Vanderbilt mit einem so anzüglichen wie ironischen Lächeln hinzu, „ist aus demselben Holz geschnitzt: ein ebenso reizendes Mädchen.“
Das interessierte mich wieder. Nicht gerade brennend, aber ich fragte mich schon, woher zum Teufel dieser Lektor für Strafrecht und anderen Paragraphenkram wusste, mit welchen Mädels seine besten Studenten ausgingen.
„Sie hat öfters vor dem Seminarraum auf ihn gewartet. Ich glaube, sie besucht gerade den Maturajahrgang. Und tanzt nebenher im Nachwuchsballett der Wiener Staatsoper.“
„Wiederholen Sie das noch einmal, Kurt“ bat ich den Strafrechtsexperten und überlegte, ob ich ihm nicht das Deckblatt einer Masterarbeit und einen Kugelschreiber klauen sollte, um die neuesten Entwicklungen in dieser Angelegenheit festzuhalten, „Manuels Freundin tanzt tatsächlich im Korps des verdammten Staatsopernballetts?“
„Allerdings,“ bestätigte Kurt. Dieses ‚Allerdings‘ war eines seiner Lieblingswörter, neben ‚Ausnahmestudent‘, ‚charmant‘ und ‚hochintelligent‘ – zumindest, was unseren verschwundenen Manuel betraf.
„Seit sechs Wochen habe ich nichts mehr von ihm gehört,“ wiederholte der Lektor traurig und putzte dabei seine Nickelbrille, „es muss etwas Schlimmes passiert sein. Deswegen sind Sie hier, habe ich Recht?“
Natürlich hatte er das. Die Vermisstenanzeige vergilbte in den Polizeiakten, die internationale Fahndung hatte bisher nicht einmal Anhaltspunkte geliefert und die Behörden traten auf der Stelle herum wie ein älterer Herr, der dringend aufs Klo musste. Ich zuckte mit den Achseln und murmelte etwas von einem kurzfristig erteilten Auftrag. Von einem Bankier aus Frankfurt am Main, angeblich dem Großvater des abgängigen Studenten. Die ganze Familie war weg, einfach weg.
„Ist das schon früher einmal vorgekommen?“, fragte ich in die sich aufbauende Stille hinein. In unser gemeinsames Schweigen. Der Bundespräsident sah uns beiden von der Wand herab zu, würdig und nachsichtig, edel und gut, was im Augenblick nicht besonders hilfreich war. Aber es war nur ein Bild. Ein nicht besonders vorteilhaftes dazu. Wie die meisten offiziellen Bilder das Gegenteil von vorteilhaft waren. Genau deswegen waren sie offiziell.
„Was meinen Sie damit?“
„Ob Manuel hin und wieder weggeblieben ist? Ist doch eine sehr einfache Frage.“
„Ja, aber das hatte medizinische Gründe.“
„Was meinen Sie damit, Kurt?“
Dr. Vanderbilt sah sich im Raum um, als befürchtete er, jemand hätte hier über Nacht ein paar fette Abhörwanzen installiert.
„Ich glaube nicht, dass ich es Ihnen sagen darf. Es könnte gegen die Datenschutzverordnung, das Persönlichkeitsrecht und gegen noch mehrere andere Verordnungen verstoßen.“
„Verraten Sie es mir trotzdem,“ ermunterte ich Dr. Kurt Vanderbilt und zwinkerte dem Bundespräsidentenbild zu, warum wusste ich auch nicht. Irgendwie hatte ich Lust auf einen Drink, einen Espresso, einen Pernod, von mir aus auch einen Humpen Leitungswasser, aber Kurt kam gar nicht auf die Idee mir etwas anzubieten, so vergeistigt und von tausenden Paragrafen besessen, wie er war. Immerhin beugte er sich etwas nach vor, senkte dabei seinen Kopf und murmelte dabei ungefähr folgenden Text: „Manuel leidet an einer seltenen genetischen Krankheit. Sein Körper produziert ein Enzym zum Abbau von Fettsäuren nur auf äußerst geringem Niveau. Deshalb muss er strenge Diät halten und darf sich weder Hitze noch Kälte allzu lange aussetzen. In Grippezeiten wird es besonders schlimm, wenn der Körper erhöhte Energiezufuhr benötigt – dann besteht akute Unterzuckerungsgefahr, es kommt zu Ohnmachtsanfällen, unter Umständen auch zu einer Leberentzündung. Es konnte durchaus passieren, dass Manuel einige Zeit wegblieb.“
„Weshalb Sie nach Ostern noch keinen besonderen Verdacht schöpften?“
„Ganz recht, ich dachte, er würde wieder seine Traubenzucker- oder Insulin-Infusionen bekommen und sich die eine oder andere Woche Schonung auferlegen. Das war schon früher vorgekommen, aber…“
„…nicht so lange wie bisher.“
„Und ohne ein klärendes E-Mail, eine kurze SMS, irgendeine Form der Benachrichtigung. Unentschuldigtes Fernbleiben passt gar nicht zu ihm. Er hat sich immer sehr um sein Fortkommen an der Uni gekümmert. Nur wenn er krank war, wurde er äußerst lethargisch. Vor etwa drei Wochen habe ich mit ihm Kontakt aufzunehmen versucht.“
„Hat er irgendwie reagiert?“
„Nein.“
„Und was haben Sie gemacht? Einfach zugewartet?“
„Ich habe seinen Status für dieses Semester auf „ruhend“ gestellt. Da passiert nichts. Außer dass die Zeit verrinnt. Aber er versäumt keine Fristen und kann nach seiner Rückkehr problemlos weiterstudieren. Als ob nichts gewesen wäre.“
Aus Kurts schmalen Mund kam das alles sehr großzügig daher. Sein Entgegenkommen Manuel Schwartz gegenüber musste grenzenlos sein. Ich starrte einen Stoß Aktenordner an und bekam Lust auf ein Gläschen Pernod, wahrscheinlich weil alle Ordner denselben giftgrünen Umschlag aufwiesen.
„Wie Manuels Krankheit genau heißt, wissen Sie nicht?“
Keine Ahnung, warum ich diese Frage gestellt hatte. Weder Kurt noch ich waren Ärzte, selbst wenn er mir irgendein medizinisches Kürzel verraten hätte, wäre ich genauso schlau wie zuvor gewesen. Aber irgendwie lechzten wir beide nach der Gewissheit einer Antwort, und wenn sie noch so unverständlich daherkam.
„Ich fürchte nein, aber sie ist meines Wissens bereits in Manuels Kindheit festgestellt worden. Als er wegen Muskelkrämpfen mit dem Geigenspiel aufhören musste. Und er die erste Leberentzündung bekam.“
„Ist die Krankheit überhaupt heilbar?“
„Nein. Manuel wird sein Leben lang Diät halten müssen. Äußerst fettarm und kohlenhydratreich. Bei ernsthaften Infektionen kann es richtig schlimm werden. Möglicherweise wird er nicht einmal das 45. oder 50. Lebensjahr erreichen.“
Dr. Kurt Vanderbilt schluckte und strich sich mit dem Handrücken über das Vollbartgesicht. Schien ein paar Tränen vergießen zu müssen und wollte das natürlich verbergen. Männer weinten nicht so gern vor anderen Männern. Vor allem wenn es um einen dritten jungen Mann ging. So war das männliche Leben, das Leben von Eroberern, Feldherrn und Kriegern. Auch wenn Dr. Kurt Vanderbilt nur ein Lektor für Strafrecht und ich ein schmieriger Privatdetektiv war. Trotzdem. Im Grunde blieben wir alle Söldner unter der Fuchtel des einen Begehrens.
„Manchmal hat Manuel im Park hinter der Börse einigen Kindern Märchen vorgelesen. Sie saßen alle im Halbkreis um ihn und hörten seinen Geschichten andächtig zu. Manuel gefiel es sehr, dass die Kinder so mucksmäuschenstill und aufmerksam waren. Ich glaube, er malte sich aus, dass die zuhörenden Kleinen seine eigenen Kinder wären. Weil er spürte, selbst nie welche haben zu können.“
„Sie wissen aber ziemlich viel über diesen einen Studenten,“ unterbrach ich den Redefluss des Strafrechtsexperten. Griff in meine Sakkotasche, holte den Flachmann heraus und gönnte mir einen tiefen Schluck Absinth. So ein Pernod am frühen Nachmittag konnte Wunder bewirken. Oder zumindest das leichte Zittern der rechten Hand unterdrücken.
„Er hat sich mir manchmal anvertraut,“ kramte Kurt in einem unsichtbaren Topf mit der Aufschrift ‚Ausreden aller Art‘ herum. Der in die Jahre gekommene Lektor stand auf Manuel, das war so klar wie draußen die Sonne vom Himmel herunterkotzte. Vielleicht handelte es sich auch nur um eine Brise pädagogischen Eros oder platonisches Herumtun zwischen Sokrates und Kierkegaard, also schön sublim und hinter hehren Worten versteckt. Wenig Leib, dafür umso mehr Seele. Ein bisschen katholisch kam mir der verkappte Pater des Strafrechts ohnehin vor. Wahrscheinlich ging auch er manchmal in gewisse Saunen und frönte dort der einen oder anderen lässlichen Sünde. Was mich so wenig anging wie ein nepalesischer Sherpa in Halbschuhen. Ich steckte den Flachmann wieder ein und stand auf, weil ich das Gefühl hatte, genug erfahren zu haben. Dr. Kurt Vanderbilt sah mich beinahe erschrocken an.
„Ich frage mich immer wieder, was mit Manuel passiert ist,“ flüsterte der Lektor kaum hörbar in die unangenehm gewordene Stille hinein, „er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.“
Womit er nach Newton, Einstein und Max Planck nicht ganz unrecht hatte, bei letzterem wäre ich mir allerdings gar nicht so sicher. Gemeinsam mit Manuel war auch der Rest dieser noblen Familie verschwunden. Der Immobilienvater. Die Gynäkologen-Mutter. Und die jüngere Schwester, die kurz vor der Matura stand und gleichzeitig Elevin im Ballettkorps der Wiener Staatsoper war. Genau wie Manuels Freundin, sofern mir Dr. Kurt Vanderbilt keine verdammte Lüge aufgetischt hatte. Aber dafür waren seine Tränen zu ehrlich gewesen. Zu groß. Zu salzig. Zu zahlreich. Solche Tränen waren der Wahrheit geweiht. Dieser verdammten Wahrheit der Liebe.
*
Als nächstes war das ‚Haus am Ring‘ dran. Manuels Schwester und dessen Freundin gehörten anscheinend zu den Nachwuchstalenten im Ballett der Wiener Staatsoper. Ich kannte jemanden aus der Verwaltung des Musentempels gleich neben dem Bristol-Hotel. Eigentlich war es eine stinknormale Darkroom-Bekanntschaft. Mit einem ebenso erfahrenen Dampfkammern- und Saunaanhänger, nur meistens den jüngsten hinterher geifernd, quietschend und grabschend. Im zivilen Leben unausstehlich mit seinem arroganten Tuntengehabe. Man brauchte kein flämischer Hellseher in einem Sauerkrautfass zu sein, um herauszuhören, dass ich Daniel kaum ausstehen konnte. Er war einer von jener Sorte, die sich im Gynäkologenstuhl durchficken ließen und dabei italienische Arien im Kopfhörer hörten: ‚Nessun dorma‘, ‚Dalla mia pace‘ oder ‚Sì, mi chiamano Mimi‘ wahrscheinlich. ‚Mimi‘ war auch Daniels Spitzname in den Spezialbehandlungsräumen schwuler Kaschemmen wie dem „Sling“, dem „Adlerhorst“ oder dem „Hardcore“. Wo es richtig zur Sache ging. Kein Herumreden, kein Blümchensex, keine angebliche Migräne mehr. Nur das eine und Einzige, das Allerechte und Wahre.
Vor dem Juridicum zündete ich mir die erste Moods seit gefühlten drei Monaten an, dabei waren es höchstens vier Stunden. Aber Gefühle unterschieden sich allzu oft von der sogenannten Wirklichkeit ab, scherten wie Alkohollenker um zwei Uhr früh auf einer schnurgeraden Landstraße aus und rasten dem nächsten Kastanienbaum entgegen. Und dieser verdammte Baum wich todsicher keinen Millimeter zur Seite.
Ich holte mein Notizbuch aus dem verbeulten Sakko, fügte Kurts Handynummer unter den Familiennamen mit dem Anfangsbuchstaben „V“ dazu und blätterte weiter zu Daniels privatem Eintrag, einem geheimen Wertkartenhandy. Wann immer dieses verdammte Ding in der Hosentasche vibrierte, bekam Daniel diesen Röhrenblick und begann haltlos zu zittern. Anscheinend konnten die wahnsinnigsten Leute dran sein, von der Kripo angefangen über diverse Dealer bis hin zu halbseidenen Strichern. Ich wählte also die Nummernkombination und malte mir aus, in welcher Situation ich diesmal Daniel erwischte. Es war drei Uhr nachmittags, und ich wusste, falls er ranging, konnten wir uns innerhalb weniger Minuten irgendwo treffen. An irgendeinem verlorenen Eck in dieser lebenswertesten Stadt der Welt, die für einen Privatdetektiv oft in ihr genaues Gegenteil mutierte – zu einer Pforte direkt in die Hölle hinunter.
Diesmal war es eine U-Bahn-Station am nördlichen Wiener Stadtrand, vor der Trutzburg eines riesigen Gemeindebaus, der viel zu hoch geraten war und wie eine Kopie von Kafkas Schloss in der Billigausführung für Mindestrentner und Notstandsbezieher aussah. Links und rechts neben den Glastüren des U-Bahn-Eingangs lungerten einige Drogenabhängige und Kleindealer herum, die eine Hälfte minderjährig, die andere vierzig plus, gerade erst begonnenes und auf der anderen Seite längst im Abseits befindliches Leben wenige Wochen vor der endgültigen Löffelabgabe.
Daniel kam in einem engen schwarzen Anzug aus der Herrentoilette gekrochen, allein die verdammten Lederschuhe aus irgendeiner toskanischen Manufaktur hatten einige purpurfarbene Scheine verschlungen. Jetzt klebte der Lurch einer dreckigen U-Bahn-Toilette an den feinen Ledersohlen, Spermareste und Kokainspuren inklusive. Aber wahrscheinlich besaß Dr. Daniel Schober noch weitere zwanzig Paar Lackschuhe, mit denen er durch die Gegenwart stelzte, als eitelster aller Gecken aus dem obersten Segment der verwahrlosten Luxusgesellschaft. Im Hintergrund ging die Eisentüre zur Männertoilette auf und ein nicht mehr ganz manövrierfähiger Gartenzwerg stahl sich mit verzerrtem Grinsen ins Freie.
„Bist du verrückt geworden, der Typ ist nicht einmal…“
„Keine Zahlen, bitte,“ unterbrach mein Staatsoperninformant, schlug die Augen zu Boden und wurde nicht einmal rot dabei. Seine schräge Vorliebe für verbotenes Frischfleisch würde ihn früher oder später vor einen streng dreinblickenden Richter in einem Geschworenenprozess bringen. Aber noch war es nicht so weit, und Daniel stand hier, vor meinen entzündeten Augen, zwischen einer U-Bahn-Toilette und dieser Gemeindebau-Burg im Hintergrund.
„Worum geht es,“ fragte der Zegna-Anzug-Päderast leise. Ich zählte ihm zwei Vornamen auf. Kathy und Lisa. 18 und 19 Jahre alt. Die jüngere war die Schwester des Jusstudenten, die ältere dessen Freundin. Wie es schien, waren beide Mädels unter den Eleven der Ballettklasse an der Wiener Staatsoper. Beste Freundinnen genauso wie erbarmungslose Konkurrentinnen. Von dreißig Anwärterinnen kamen höchstens drei weiter. Der Kampf um die wenigen Plätze in den Tanzolymp musste gnadenlos sein. Ich stellte mir Mobbingaktionen auf TikTok und Instagram vor, Kratzattacken oder Pfeffersprayanschläge auf einer Mädchentoilette, aber danach waren die beiden wieder beste Freundinnen, die gemeinsam angetreten waren, diese idiotische Welt der unterbelichteten Jungs zu vernichten.
Dr. Daniel Schober nickte so dämlich wie ein Schaf vor dem Schlachtschussapparat. Rückte widerwillig mit ein paar wertlosen Informationen heraus, dem guten alten Lobpreisungsrap, den ich schon zuvor im Jurdicum vernommen hatte: hinreißend aussehende Mädchen, hoch talentiert, megaintelligent, beide aus bestem Haus. Und anderes Gestammel mehr. Warum zumindest Kathy verschwunden war, konnte Dr. Daniel Schober auch nicht erklären.
Im Hintergrund erkannte ich einen Dealer, der jemandem ein paar gefährlich aussehende Ampullen verkaufte. Dann schrie eine Großmutter, die einen Kinderwagen vor sich herschob, „Polizei, Stehenbleiben!“, holte eine Pistole unter der blütenweißen Decke hervor und sprintete zum Drogenverteiler hinüber, warf ihn der Länge nach um und legte dem Gestellten Handschellen an, während zwei weitere Cops in Zivil (eine dement aussehende Lavendelverkäuferin und der Zeitschriften-Abo-Checker vor dem U-Bahn-Eingang) dasselbe bei den zwei Stammkunden des Dealers durchführten. Die drei kleinen Fische zappelten schreiend im Netz und würden nach ein paar Anzeigen wieder in dieselbe Scheiße von vorher entlassen werden, in die sogenannte Freiheit, die genauso ein Gefängnis war, mit dem einzigen Unterschied, dass man zu deren Zellen vorläufig noch einen Schlüssel besaß.
„Was noch?“ fragte ich drohend und Dr. Daniel Schober blickte leicht entnervt zur dreifachen Festnahme hinüber. Kein Wunder, dass er sich momentan kaum in Sicherheit fühlte. Schließlich hatte er gerade etwas Zwielichtiges auf der Toilette erlebt. Natürlich nicht umsonst. Sondern gegen einen gewissen Tarif, der die Spiel-, Drogen- oder Pornosucht seines garantiert noch minderjährigen Opfers finanzierte.
„Die beiden waren Freundinnen,“ hob Daniel nach einigen Füllwörtern an, wie eine Amstel zur Brunftzeit im Frühsommer zu trällern.
„Na und? Eine Teenagerbeziehung wie sie alle paar Stunden vorkommt,“ entgegnete ich, „zusammen einige WhatsApp-Gruppen verwalten, für die Jungs aus der Nebenklasse schwärmen und sich gemeinsam die blond gefärbten Strähnen für das nächste Clubbing zurechtzupfen,“ versuchte ich mich in das Leben von Oberstufenschülerinnen hineindenken – es gelang mir so wenig wie der Versuch trocken zu werden. Dem Absinth abzuschwören. Mich von etwas anderem zu ernähren als zwei Flaschen Pernod und sechzig Zigarillos. Pro Tag.
„Sie waren miteinander intim,“ rückte das Orakel vom Ring mit bisher zurückgehaltenem Wissen heraus.
„Was meinst du damit?“
„Das fragst ausgerechnet du, der an jedem zweiten Tag in Dampfräumen und Saunen verkehrt?“
„Du meinst, Sie haben …miteinander…“
„…genau das, und noch viel mehr.“
„Und woher weißt du das? Das pfeifen nicht unbedingt die Spatzen vom Giebel der Wiener Staatsoper herunter.“
„Wer immer dir das gesteckt hat, von mir hast du’s nicht,“ antwortete Dr. Daniel Schober mit dem drittschäbigsten Grinsen der Welt und empfahl sich zur U-Bahn hinauf, „entschuldige bitte, aber ich muss unbedingt in meine geliebte Staatsoper zurück: heute ist Generalprobe von Richard Wagners Walküre. Die darf ich mir nicht entgehen lassen. Da geht es um Leben und Tod, nicht um das Lecken gewisser Körperpartien.“
Sprach’s, drehte sich um und verschwand wie der Leibhaftige in einer Wolke aus Schwefel und Pulverdampf, vielleicht war es auch nur eine Überdosis ‚Chanel No 5‘, mit dessen Düften Daniel seine immer noch lupenreine Haut imprägnierte. Der blasierte Typ war das genaue Gegenteil von mir. Oberflächlich, gutaussehend, unverbindlich und trotzdem ein Monster. Warum wir uns damals in diesem Provinzgymnasium angefreundet hatten, blieb mir ein Rätsel. Und weshalb wir uns immer noch kannten. Die sporadischen Begegnungen zwischen U-Bahn-Stationen und Schwulensaunen konnten unsere komplizierte Beziehung auch nicht erklären. Wir hatten vollkommen unterschiedliche Berufe, aber unser Privatleben vollzog sich an ähnlichen Orten. Der allgemeinen Öffentlichkeit gemeinhin verborgen. In abgelegenen Winkeln und Nischen, die schmutzig waren. Dirty as a rotten sinner in hell.
*
Ich versuchte meinen Toyota in unmittelbarer Nähe des Stadthallenbades zu parken, aber natürlich war im Spalier zwischengelagerter Blechhäufen keine einzige Lücke zu finden. Wie ein verirrter Satellit kreiste ich eine Viertelstunde lang um den Betonhallenkomplex, bevor ich den Wagen doch im Halteverbot abstellte. Sollte die MA Irgendwas meinen klapprigen Wagen zur Simmeringer Haide transportieren, wo ich ihn später bei hämisch grinsenden Parkplatzwächtern gegen 600 Euro in bar abholen konnte. Eine happige Summe, aber erstens hatte der mysteriöse Bankier brav seine Anzahlung auf mein Konto gebeamt, und zweitens, noch viel wichtiger, wollte ich meinen Sohn sehen. Philipp. Oder Phil, was er viel lieber hörte. Weil es für ihn männlicher, kumpelhafter, zurechnungsfähiger klang. Phil, der Vorzugsschüler und Hochleistungsschwimmer. Ein prima Junge. Ganz von allein groß geworden. Keine Ahnung, woher er seinen Fleiß, seine Ausdauer, seine Beharrlichkeit hatte. Und diesen verdammten Charm. Seitdem die Pubertät wie ein renitenter Untermieter in seinem Körper eingezogen war, fand ich ihn sogar attraktiv.
Jedenfalls war es beruhigend, einen so unkomplizierten Sohn zu haben, der verlässlich seine Einsen schrieb, im Schwimmen jeden Tag schneller wurde und ansonsten ganz bescheiden blieb: der gute, ruhige Junge aus der vorletzten Schulbank, immer mit einem Lächeln auf den breiten Lippen, und diesem strahlenden Blick, der mich jedes Mal umhaute. Als ob mir ein Blitz in die Augen fuhr, mit geschätzten 100.000 Volt pro Nanosekunde.
Ich warf einen Blick auf die Halteverbotstafel. Mit dem warnenden Hinweis darunter, dass jedes Zuwiderhandeln mit sofortiger Beseitigung des Fahrzeugs geahndet werden würde. Als ob das illegal abgestellte Vehikel eher verschrottet als zu diesem Abstellplatz auf der Simmeringer Heide gebracht werden würde, der ungefähr so weit von der Innenstadt entfernt lag wie die verdammte Milchstraße. Wie jeder durchschnittliche Loser überlegte ich ernsthaft, die Kiste im nahen Parkhaus unterzubringen. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr: es war kurz nach 18 Uhr, und wahrscheinlich würde Phillip schon längst auf mich warten.
In der riesigen Halle schien das Training noch im vollen Gang zu sein. In einem extra gesperrten Bereich zogen die jugendlichen Schwimmer ihre Bahnen, begleitet von den hektischen Anfeuerungsrufen der Trainer, ziemlich dickbäuchigen Männern in blauweißen Trainingsanzügen. Ich legte meinen abgetragenen Trenchcoat auf die verfliesten Stufen am Rande des Langbeckens und versuchte im kontrollierten Gewimmel der Nachwuchsschwimmer meinen Sohn auszumachen. Eine leichte Übung, denn Phil war genau in der Mitte, auf Bahn fünf – und seinen Kollegen um gute zwei Längen voraus. Es sah so leicht und mühelos aus, wie er dahinkraulte, alle paar Meter mit seitlich gelegtem Kopf und weit geöffnetem Mund einatmete und Länge um Länge wie in Trance absolvierte. Hätte mich einer seiner fetten Trainer ins Wasser geworfen, wäre ich auf der Stelle untergegangen. Vor lauter Absinth in den Venen hätte sich das Wasser grün eingefärbt, und mein Blick wäre irgendwo zwischen der Decke und der Anzeigetafel für immer zerbrochen.
Einige Minuten später saß Phil neben mir. Bibbernd, mit blauen Lippen und einem riesigen Handtuch um den Oberkörper gelegt. Auf der glatten Haut rannen die Wasserperlen in dünnen Bahnen Richtung Nabel. Phillip sah mich an. Direkt ins Gesicht. Ein Frontalangriff aus bubenhaftem Charme und einer Prise Unsicherheit. Seine riesigen blaugrauen Augen. Dieser offene Blick, der einem ansatzlos ins Herz stach. Der Junge freute sich einfach, dass ich mir für ihn Zeit genommen hatte und im Hallenbad aufgekreuzt war. Er wirkte noch immer so offen und unbefangen wie das Kind, das er schon längst nicht mehr war.
„Mama kommt auch kaum vorbei. Ihr beide habt so viel zu tun.“
Ich hörte eine Extraportion Ironie und Enttäuschung aus Phils kieksender Stimme heraus. Er hatte längst kapiert, dass Agnes eine überdrehte Esoterikerin mit einem Fable für verstorbene flämische Hellseher und ich ein abgehalfterter Privatdetektiv war, der in anderer Leute Unterwäsche herumwühlte, um ein paar Totschlagsargumente für Rosenkriege, Erbstreitigkeiten oder anderen Zivilrechtshöllen zu liefern.
„Aber danke, dass du mir das und das gekauft hast. Sogar in der richtigen Größe. Wäre gar nicht notwendig gewesen.“
Phil sah mich an und räusperte sich mehrere Male hintereinander. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was Phil unter ‚das und das‘ verstand, die brandneuen Sneakers oder den grünen Hoodie oder das knallbunte Etro-Hemd um 250 Euro wahrscheinlich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Junge etwas vor mir verbarg. Etwas, womit er nicht um die Burg herausrücken wollte. Ich fragte mich, was das könnte. In der Schule war der Junge top, im Schwimmsport fantastisch, er hatte jede Menge Freunde und … einen Augenblick, Kleiner. Ich senkte die Stimme und lächelte Phillip an wie ein Schulpsychologe, der hinterhältig grinsend mit der gefürchteten Frage anrückte: „Was steht es eigentlich mit den Mädels, Phil?“
Keine Antwort. Nur Schweigen. Ein halbes Lächeln, das in den Mundwinkeln zerschellte. Diese väterliche Frage nach den Mädels. Der kleinlaute Blick. Und das Schweigen als vielsagende Antwort. Phil musste gar nichts mehr sagen. Ich wusste es längst. Nahm den Jungen in den Arm. Und ließ ihn weinen. Einfach haltlos weinen. Er hatte es zugegeben und trotzdem weniger als gar nichts verraten. Eindeutiger als jedes Geständnis flossen die dicken Tränen aus Philipps Augen, er hielt sich nicht mehr zurück, lag in meinen Armen und weinte. Es war gesagt, ohne wirklich ausgesprochen worden zu sein. Philipp mochte die Mädels nicht. Er bevorzugte Jungen. Burschen in seinem Alter, vielleicht sogar Männer. Ich fragte nicht weiter. Ließ ihm etwas Zeit, um von den Emotionen herunterzukommen, wartete eine halbe Stunde in der nach Chemikalien riechenden Hallenbad-Lobby auf ihn und hoffte, dass mein Toyota in der Zwischenzeit nicht abgeschleppt worden war.
Zum Glück stand die Karre immer noch da. Wir gingen zu einem Baum in der Nähe, Philip befreite sein Rad von der Kette und wollte davonfahren, aber das ließ ich diesmal nicht zu. Verstaute den Drahtesel im Kofferraum meines Toyotas. Neben zwei Schachteln Absinth und einem zusammengefalteten Müllsack, der noch immer nach meiner toten Katze Isola roch. Schweigend fuhren wir beide in die Innenstadt und gingen dort einen heben. In die Loos, meine Lieblingsbar. Da es noch immer heiß war, saßen wir wie alle anderen Idioten draußen im Garten. Philipp nippte an seinem Soda Zitrone und ich versuchte nicht zu gierig an einem ‚Sazerac‘ zu schlürfen, der meine Vorliebe für die grüne Fee auf charmante Weise verbarg.
„Was ist da drin?“, fragte Philipp, „es riecht wie das Chlor im Stadthallenbad.“
„Cognac und etwas Absinth.“
„Das kann man trinken?“
„Ich versuche es zumindest. Komm, stoßen wir an, Philipp.“ Ich lächelte meinem Sohn zu, beobachtete wie er sein Glas mit dem sauren Sodawasser hob und sein hübsches Lächeln wieder zurückkehrte. Ich fragte mich, was er mit anderen Jungs angestellt hatte. Ob er es genoss, ob er sich ausgenutzt vorkam, mit wem er überhaupt zusammen war oder sein wollte. Lauter Fragen, die mich nichts angingen. Phil war hinter meinem Rücken erwachsen geworden. Auch wenn es noch nicht ganz danach aussah. Unsere Gläser stießen sanft gegeneinander, nur ein unterdrücktes Klirren, ganz zart.
„Prost,“ sagte ich, und mein Sohn antwortete lächelnd „Zum Wohl.“ Fügte ein kleinlautes „Danke“ hinzu, schloss die Augen und trank von seinem Soda mit frisch gepresstem Zitronensaft. Eine letzte Träne floss dabei seine rechte Wange hinab und zeichnete eine sanfte Spur des Begehrens auf die immer noch glatte Haut. Noch nicht einmal der Anflug von Bartwuchs. Wie jung mein Sohn war. Und was zum Henker alles in seinem hübschen Köpfchen herumspuken musste. An wen er dachte, wenn er nachts nicht einschlafen konnte. Mit wem er chattete, telefonierte, mit wem er sich freute und stritt, mit wem er sich ausschwieg und wem er sich vielleicht sogar unterwarf. Das Leben, sein Leben, begann ihm eine Frage nach der andern zu stellen. Und alles, was ich als Vater tun konnte, war aus den spärlichen Gesten und Andeutungen, aus Philipps Tränen und seinem mitreißenden Lachen so etwas wie einen Fall zu konstruieren, der vor allem seine Welt war: die mir noch unbekannte Welt meines Sohnes.
*
Die beiden Porsche standen verlassen in der öffentlichen Garage herum, gleich neben dem privaten Eingang ins Halleluja der riesigen Eigentumswohnung hinauf. Ein Cayenne und ein Panamera, jeweils 150.000 Euro schwer, todsicher mit der neuesten Topausstattung und der höchstmöglichen Motorenleistung versehen. Der Cayenne Silber metallic, der Panamera anthrazitfarben – und trotzdem nur zwei Varianten von einem leicht depressiv wirkenden Grau. Unschlüssig stand ich neben den beiden Karossen und starrte in das Innere der Fahrzeuge: blank poliertes Leder, kein Krümelchen Staub auf den Sitzen, als wären beide Fahrzeuge erst vor kurzem ihrem Käufer übergeben worden: diesem schick gekleideten Immobilienentwickler, der wie der Rest seiner verfluchten Familie bereits seit Wochen abgängig war.
Küppers stand etwas abseits und verfolgte meine angestrengten Blicke ins Wageninnere hinein. Ein bisschen kam er mir vor wie ein Drogendealer, der gerade von einer Zivilstreife kontrolliert wurde. An den Luxusfahrzeugen war sicher irgendwas faul, und Küppers wusste Bescheid. Oder hatte wenigstens eine leise Ahnung davon. Jedenfalls stand er etwas abseits und pfiff nervös eine Schnellpolka, einen Marsch oder was zum Teufel auch immer über seine geschürzten Dreckslippen kam. In seiner schweißnassen rechten Hand lagen die beiden Ersatzschlüssel wie die Wunden des Erlösers persönlich. Widerwillig hatte Küppers die verdammten Wägen entriegelt und verfolgte nun misstrauisch, wo meine Pfoten hin fassten, ins Handschuhfach, in die Mittelkonsole, an den Seitenvertiefungen. Nichts. Nichts. Und nochmals nichts. Trotzdem hatte Küppers vor irgendetwas Angst und pfiff immer lauter seine Carl-Michael-Ziehrer-Melodie. Aus ‚König Jerome oder immer lustick!` wahrscheinlich. Im Porsche Cayenne war nichts gewesen. Nicht einmal der Rest eines Schokoladenpapiers oder ein zerknüllter Strafzettel. Nur der Zulassungsschein und das Servicebuch lagen brav wie die Hausbibel im Handschuhfach, zusammen mit drei gültigen Tankkarten.
Ich seufzte und ging auf den Panamera los. Klappte die Sitze um, tastete den gestriegelten Boden nach Unebenheiten ab, untersuchte sämtliche Fächer und Vertiefungen im anthrazitgrauen Luxus. Küppers trat von einem Bein auf das andere, wie ein Kerl, der verdammt dringend aufs Klo musste. Er hatte zu pfeifen aufgehört, und die Schweißperlen tropften von seinen zitternden Händen zu Boden, wohin auch sonst. Noch war die Schwerkraft nicht von irgendwelchen Kreationisten für null und nichtig erklärt worden. So kläglich wie Küppers jetzt dreinsah, musste ich knapp vor dem Allerheiligsten sein: noch einmal tastete ich in der Konsole herum, meine Fingerkuppen erreichten gerade eine seitliche Vertiefung – dann hatte ich die verdammte Nadel im Blechhaufen gefunden: ein kleines Fläschchen, das ich nur allzu gut kannte. 24mm Inhalt. Für diverse Schnüffelaktionen in Darkrooms und schwulen Saunen erfunden. Ich unterdrückte ein Lächeln und tat so, als hätte ich erneut ins Leere gefasst. Steckte in einer schnellen Bewegung das Poppersgebinde ein und zuckte gespielt ahnungslos mit der Schulter.
„Nichts gefunden?“
Küppers strahlte wie ein betrunkener Firmling über das ganze Gesicht und hörte in der Sekunde auf, von einem Bein auf das andere zu treten. Nach ein paar Sekunden Funkstille begann er wieder seine verrückte Wiener Schnellpolka zu pfeifen. ‚Immer lustig‘, diesmal mit einem heiter gestimmten ‚-g‘ anstelle des originalen ‚-ck‘.
„Vielen Dank für Nichts,“ log ich dreist, um Küppers das Gefühl zu geben, mich überlauert zu haben, „die beiden Fahrzeuge sind sicher doppelt und dreifach gereinigt worden. Im Inneren stinkt es wie in einer illegalen Chemikalienfabrik.“
Küppers grinste wie ein Unterstufenschüler, der den schrulligen Lateinprofessor erfolgreich hinters Licht geführt hatte. Tarnen und Täuschen war im Leben mittelmäßiger Männer jeden Tag angesagt. Küppers log jedenfalls, was das Zeug hielt. Hatte nie etwas Verdächtiges gesehen, gehört oder bemerkt. Wahrscheinlich war er vor lauter Lügen längst taubstumm und blind in einem geworden. Wusste es aber noch nicht. Oder ignorierte die Symptome. Ohne weitere Fragen zu stellen, schickte ich ihn in sein Facility-Büro im zehnten Bezirk zurück und drückte die Aufzugstaste ins Penthouse hinauf. Der Lift kam brav wie ein Schoßhündchen angerückt und hievte meine Existenz binnen weniger Sekunden in die letzte Etage. Meine Fingerkuppen wurden vom elektronischen Tastgerät einwandfrei erkannt, ein leises Surren, und die Pforte zum blasierten Reichtum ging widerstandslos auf. Das Poppersfläschchen in der linken Faust fühlte sich heiß an. Ich überlegte mir eine Brise davon zu inhalieren, aber da sich nicht einmal die Andeutung eines erigierten Glieds auf den 850 Wellness-Quadratmetern befand, unterdrückte ich mein gar nicht so geheimes Verlangen.
Die nächsten 15 Minuten machte ich vor allem eine Tür nach der anderen auf und wieder zu, es waren sicher dutzende Türen. Sah in jedes verdammte Zimmer hinein. Überall dieselben langweiligen Möbel, die einfach nur teuer gewesen waren. Passend zu den ‚Castiglioni‘-Stehleuchten, zum blank polierten Sternparkettboden, zu den hunderten Leds in der Decke und zu zum makellosen Weiß an den Mauern. Alles war so perfekt, dass es beinahe surreal wirkte. Etwas stank hier gewaltig gegen den Himmel, aber ich wusste noch nicht, warum und weshalb.
Die Familie Schwartz konnte sich jedenfalls nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Im 21. Jahrhundert war das Status ‚spurlos verschwunden‘ praktisch unmöglich geworden: überall lauerten öffentliche Kameras, elektronische Schranken und digitale Geräte, die jeden Passanten erfassten. Und trotzdem war keiner mehr hier, nicht einmal ein Kanarienvogel, ein Wellensittich, die Hauskatze oder ein Showhund, der mehr als zwanzigtausend Euro wert war. Auf den Konten, deren Auszüge mir der geheimnisvolle Bankier zugemailt hatte, war seit mehr als fünf Wochen keine einzige müde Bewegung mehr zu erkennen, nur die Daueraufträge wurden von einem Überweisungsbot, einem Algorithmus oder einer anderen höheren Instanz abgebucht. Keine Barabhebungen, kein Kreditkarteneintrag, keine Restaurantrechnung. Nichts. Falls diese Familie noch lebte, musste sie sich von Waldbeeren, Wurzeln oder erlegten Wildschweinen ernähren – was ein müder Blick auf die vier Fotos sofort widerlegte. Nach Preppern oder Überlebenskünstlern sahen die vier abgängigen Herrschaften wirklich nicht aus. Leute wie sie konnten nicht einmal einen verdammten Nagel in die Wand schlagen, eigenhändig Salatköpfe waschen oder Eier anbraten. Für solche Extravaganzen hatten sie Bedienstete angestellt, die bereits seit mehreren Wochen freigestellt waren. Die beiden Haushälterinnen, die Köchin und der Haustechniker waren zurück in ihre Heimatstädte nach Bosnien oder in die Vojvodina gereist. Bekamen ihre bescheidenen Monatsgehälter trotzdem ausbezahlt, freuten sich wahrscheinlich wie Schneekönige darüber und standen für eine nähere Befragung leider nicht zur Verfügung. Das „Leider nicht“ stammte natürlich von Küppers, diesem mehr als verdächtigen Kerl. Vielleicht wusste er auch nichts, sondern tat nur geheimnisvoll. Auf jeden Fall war er schräg. Ich zündete mir eine Zigarette an, weil sowieso niemand da war und die Rauchmelder deaktiviert schienen. Zumindest spendete kein Sprinkler irgendwelches Nass von der Decke herab, alles blieb ruhig, vielleicht auch nur, weil ich die Türen zur Terrasse geöffnet hatte und die dünne Rauchsäule meines Zigarillos unter den Rauchmeldern vorüberzog und folgenlos im Freien verpuffte.
Nach einer gewissen Zeit der Selbstreflexion riss ich die Kühlschranktüre auf und entdeckte ein paar Bouteillen Weißwein in den gekühlten Gemächern. In den Fächern des gewaltigen Schranks konnte eine Kleinfamilie tagelang ausharren, so riesig schienen die Kühletagen zu sein. Regalreihen und Abstellflächen wie in einer öffentlichen Garage. Ich nahm mir eine der verdammten Bouteillen, die allesamt nur verschraubt waren. Rieslinge aus dem sogenannten Rheingau, wo immer der lag. Höchstwahrscheinlich in der Umgebung von Frankfurt, dafür musste man weder ein As in Geografie noch ein flämischer Hellseher sein. Diese Familie hatte bis vor wenigen Jahren in der hessischen Großstadt gelebt, natürlich in Grüneburg, dem absolut teuersten Viertel. Lauter Bankiers, Zahnärzte, Edeljuristen. Samt Zweit- bis Fünftwägen, mehreren Hunden und – nicht zu vergessen – ihren verzogenen Kindern. Warum die Familie vor ein paar Jahren nach Wien gezogen war, hatte mir der Bankier mit der jugendlichen Stimme nur widerwillig verraten. Anscheinend hatten die Eltern neue Spitzenjobs angenommen, die das Dreifache ihrer früheren Dienstverträge einbrachten. So lautete die Mär des Bankiers, der wenigstens redselig war, der alte Golfer und Gauner.
Ich schraubte die erstbeste Weinflasche auf und goss mir etwas Riesling in einen Kelch, der ungefähr so groß wie ein kaiserlicher Hofbrunnen war. Das Zeug schmeckte gar nicht so schlecht, nach Aprikosen, Weingartenpfirsichen oder Litschi Kompott. Zumindest fantasierte der Winzer auf seiner Etikettenlaudatio davon. Ich schnalzte mit der Zunge und genehmigte mir noch einen Schluck. Einen dritten und vierten. Goss wieder Wein nach und fühlte mich langsam betrunken. Auf einer Ablage über der Küche stand eine angebrochene Flasche Pernod, wahrscheinlich für die Zubereitung einer französischen Bouillabaisse bestimmt. Um ein Haar bekam ich die verdammte Absinth Flasche nicht auf, weil die Kapsel vor lauter kristallisiertem Zucker mit dem Gewinde eins geworden war. Ohne viel nachzudenken, goss ich den Pernod mit dem Riesling auf oder umgekehrt. Jedenfalls harmonierten die beiden Flüssigkeiten im riesigen Kelch auf rätselhafte Weise miteinander und erfrischten mich mehr als jede der beiden einzeln davor. Ich leerte das ballonförmige Glas, schloss die Augen und sinnierte den gemeinsamen Aromen von französischem Absinth und deutschem Riesling hinterher. Wie gut die beiden Nationen harmonierten, zumindest wenn man Weißwein und Anisschnaps miteinander vermengte.
Plötzlich riss ich die Augen weit auf, weil mir etwas ganz anderes eingefallen war: in den Schlafzimmern fehlte ein bestimmter Gegenstand. Einer, der verflucht nochmal in jede Wohnung gehörte, außer man stand darauf im Stehen zu pennen. In diesen privaten Luxusgemächern fehlten die intimsten Möbel in einer Wohnung – es fehlten ganz einfach die Betten.
*
Ich zog die Vorhänge in meiner Wohnung zu, drehte das Licht ab, rauchte am Küchentisch mein Zigarillo und nippte am Steingutbecher mit meinem Pernod auf ziemlich viel Eis. Eine Limettenscheibe schwamm auch noch in der gekühlten, giftgrünen Brühe herum, wie ein Stück Treibholz in einem nördlichen Fjord. Es war Samstagabend, und hinter den Vorhängen tobte das soziale Leben im ersten Bezirk. Die Leute gingen aus, unterhielten sich, tranken Alkohol, gingen miteinander ins Bett und erwachten am nächsten Morgen mit Sodbrennen, Kopfweh und einem Anflug von Scham, weil man vor lauter Alkohol und einer Überdosis Geilheit wieder einem Idioten aufgesessen war, der laut im Bett schnarchte und sich davor als erotische Nullnummer offenbart hatte. Das typische Wochenend-Schicksal. Unter dem Einfluss von harten Drinks, leeren Versprechungen und anderen schrägen Substanzen.
Ich selbst war in der Römersauna gewesen und hatte mich dort in der Dampfkammer dem Götzen der allgemeinen Geilheit geopfert, hinterher an der Bar mein Bierchen getrunken und mit nichtbinären Wesen über die letzten Gewinner des Eurovisionssongcontests schwadroniert. Mich dabei herrlich schwul gefühlt: ein Mann, der auf Männer stand, und hier am Sauna-Tresen den Mädels beim Schnattern zugehört hatte, jenen Mädels, die in Wirklichkeit Jungs gewesen waren. Wie auf einer Gänsefarm, nur etwas greller und weniger tödlich, vorläufig wenigstens. Vielleicht würde uns allen irgendwann doch der Kopf umgedreht werden, wenn die falschen Leute an die Macht kamen – wer wusste das schon?
Jetzt gegen 23 Uhr saß ich in meiner Sterngassen-Wohnung, rauchte das nächste Zigarillo und erwartete jeden Augenblick den Anruf des geheimnisvollen Bankiers. Für 20.000 im Voraus hatte der gute Mann aus Frankfurt jedes Recht, mich zum Stand meiner Erhebungen zu befragen. Sehr überzeugend waren die Resultate noch nicht, aber etwas hatte ich bereits in Erfahrung gebracht: hinter der schönen Fassade des üppigen Reichtums gähnte ein Abgrund, auf den ein paar erste Sachverhalte verwiesen: Die Staatsopernschwuchtel hatte eine intime Beziehung zwischen der Schwester und der Freundin des ältesten Sohnes angedeutet. Im Panamera seines Alten hatte ich ein Fläschchen Poppers namens ‚Iron Fist‘ sichergestellt. Und im palastähnlichen Dachausbau fehlten sämtliche Betten. Drei Punkte, die vielleicht nichts miteinander zu tun hatten. Und mir trotzdem aufgefallen waren. Drei erste Fragmente in einem Puzzle aus tausenden Teilen. Wie ein Satz, der aus jedem Zusammenhang gerissen schien und etwas andeutete, das später auf einen ganz anderen Sachverhalt verweisen konnte.
Ich warf einen Blick auf die vier Fotos vor mir. Der Vater. Die Mutter. Der ältere Sohn. Die jüngere Tochter. Offene, hübsche Gesichter, die älteren beiden schon etwas verbraucht und von den Nebenwirkungen luxuriösen Lebens gezeichnet, die jüngeren glatt und offen. Neugieriges, ironisches Lächeln. Sich ihrer eigenen Bedeutung bewusst. Sexy waren sie obendrein. Zumindest begehrenswert. Ich bekam eine Latte in der verdammten Stoffhose, obwohl ich meine Männlichkeit ein paar Stunden zuvor in einer dunklen Dampfkammer mehr als ausgelebt hatte. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, ich war besessen von gewissen Praktiken und Vorlieben. Lief mit einem knappen Handtuch um die Lenden jedem größeren Schwanz hinterher. War um keinen Deut besser als all die anderen ‚Size Queens‘. Nur dass ich mir obendrein noch diese Kleinfamilie aufgehalst hatte: eine verhärmte Esoterikerin namens Agnes, die immer dicker wurde, je heftiger sie das sogenannte System zu bekämpfen versuchte, und den perfekten Sohn, der mir vor ein paar Tagen eingestanden hatte, dass auch er auf das eigene Geschlecht stand. Auf andere Jungs oder Männer. Was sich wie ein Paukenschlag in einem Schweigeorden anfühlte. Bis vor kurzem war Philipp für mich nur ein kleiner Junge gewesen, der seine Lieblingseissorten hatte, wie ein Berserker das Stadthallen-Schwimmtraining betrieb, in der Schule hervorragend war und ansonsten kaum einen Mucks machte, es sei denn, sein Geburtstag oder Weihnachten oder sonst ein geschenkträchtiger Feiertag nahte. Ein Danke aus seinem Mund war mehr wert als jeder Millionengewinn. Und diese strahlenden Augen – verdammt. Wie konnte man nur so wunderschöne Augen haben, wenn die eigene Mutter eine Buchhandlung für Esoteriker, Wünschelrutengänger und andere Erleuchtete betrieb und Papa dieses gebrannte Wermutkraut in rauen Mengen vernichtete? Ich seufzte. Starrte auf den schwarzen Telefonapparat und hoffte, er würde nie wieder zu läuten beginnen. Aber natürlich tat er das ein paar Herzschläge später. Sogar laut und durchdringend. Wie in einem alten amerikanischen Film. Kurz bevor die Handlung ins Durchgeknallte abgleiten würde. Ich hob ab und murmelte meinen Namen, der nicht einmal mein eigener war. Agentur Hartmann, Joe am Apparat. Kein Mensch auf diesem Planeten nannte sich so, aber dem Bankier auf der anderen Seite der Verbindung war das anscheinend so egal wie ein Furz auf dem Mond.
„Schießen Sie los,“ forderte er mich auf, und ich drückte die Zigarillokippe an der bräunlich gewordenen Küchenwand aus und begann zu erzählen.
*
Sich unbefugt einer österreichischen Schule zu nähern, bedeutete etwa dasselbe wie illegal eine Kaserne zu entern. Die Bundesgebäude der Alpenrepublik hatten sowieso ihre besondere, militärisch angehauchte Atmosphäre. Jeder, der nicht zu den Stakeholdern dieser Institutionen gehörte, schien sich allein durch seine Fremdheit verdächtig zu machen. Wurde angesprochen. Kontrolliert. Auf eventuelle finstere Absichten hin befragt. Schließlich galt es, die Schüler*innen der Eliteanstalt vor sinistren Gestalten zu schützen – und ich war zweifellos eine zwielichtige Figur: verkatertes Gesicht, vier-Tages-Bart, ungesunder Mundgeruch, trübe Augen, das gesamte Gesicht loderte vor Alkohol und miesen Geschäften, und die Kleidung (verbeulte Stoffhose, nicht mehr ganz sauberes weißes Hemd, graues Sakko mit ausgebeulten Taschen) unterstrich das schäbige Äußere wie drei Ausrufezeichen. Keine fünf Meter nach dem Eingang sprach mich eine Art Hausmeister an, mit dem herablassenden Gehabe eines Blockwarts aus finsterster Zeit.
„Was wollen Sie an unserer Schule? Wer sind Sie eigentlich? Hier kann man nicht so einfach hereinschneien wie beim nächstbesten Branntweiner“ und so weiter und so fort. Ich drehte Däumchen und wartete geduldig, bis sich der Meister der Vorhaltung dem nächsten Satzzeichen näherte, nannte ihm rasch den Namen einer Professorin für Latein, Deutsch und allgemeine Empörung, der besten Freundin meiner Exfrau, vom selben esoterischen Schlag.
Keine zwei Minuten später saß ich tatsächlich in einem Besprechungszimmer, das mich entfernt an die Verhörräume in der Rossauer Kaserne erinnerte: spärlich eingerichtet, brutal ausgeleuchtet, mit einer Glasscheibe nach nirgendwohin versehen. Auf dem Tisch lagen mein mitgebrachtes Foto der Meisterschülerin aus dem Ersten Bezirk, ein Schularbeiten-Heft, das Klassenbuch der 8a und zwei Tassen Filterkaffee. Der strenge Blick der verdienten Pädagogin traf mich wie ein Blitz. Es war sonnenklar, dass sie mich bereits nach wenigen Sekunden wie die Pest hasste.
„Sie sind Agnes‘ Mann?“ vollzog sie den Eröffnungszug in unserem kleinen Rollenspiel, das auf nichts anderes als gegenseitige Vernichtung ausgelegt war. Zumindest, wenn es nach dem knallharten Charme der verdienten Altphilologin mit den fünfundzwanzig Dienstjahren ging.
Ich nickte devot wie ein Osterlamm kurz vor der Schlachtung und flüsterte „ja“. Schlug die Augen zu Boden und fühlte mich schuldig: die schlecht heruntergelebten Ehejahre, die vorzeitige Flucht aus den Verpflichtungen, die halbherzige Unterstützung, die mangelnde Aufsicht, was den gemeinsamen Sohn betraf und so weiter und so fort. Die Richterin über gute Noten, allgemeines Wohlverhalten und anderen Verwaltungswahn musterte mich streng und begann mit ihrem Amateur-Verhör für besonders Arme. Identitätsfeststellung, Intensivbefragung zu Ausbildung, Herkunft und Berufserfahrung, gefolgt vom eigentlichen Thema: warum ich Auskünfte zu einer bestimmten Schülerin begehrte, ausgerechnet jener, die lauter Einser geschrieben hatte, in ihrer Klasse so beliebt wie ein Gratis-Schokoriegel war und …
„…sich vor mehr als einem Monat irgendwohin vertschüsst hat, gemeinsam mit dem Rest Ihrer Familie.“
Genau das sollte ich herausfinden: Kathys verdammten Aufenthaltsort plus aktuellen Live-Status: tot oder lebendig oder irgendetwas dazwischen. Dafür hatte ihr verrückter Großpapa aus Frankfurt mittlerweile zweimal 20.000 im Voraus bezahlt und noch eine weitaus höhere Summe in Aussicht gestellt, falls ich die ganze dubiose Familiengeschichte aufklären konnte. Was immer dabei herauskommen würde. Abgeklärt wie ein Druide aus dem Zauberwald, lockte mich der Spendierhosen-Bankier mit den fetten Überweisungen ins Schlaraffenland der allseits gelösten Probleme.
Ich war also motiviert, reichlich Kohle will doch jeder halbwegs Gierige auf sein Konto gespült kriegen. Während ich mir in Gedanken sämtliche Finger in Erwartung des bevorstehenden Reichtums ableckte, ergötzte sich die Mittelschullehrerin für alte Sprachen und einer Menge Freudlosigkeit noch immer an der Makellosigkeit der abgängigen Klassensprecherin: So ein liebes Mädchen, so eine fantastische junge, vielversprechende Frau – und so weiter. Kein Anflug von irgendeinem Fehler, sogar die Pubertät schien an Kathy vorübergezogen zu sein, ohne einen Kratzer auf der kindlichen Fassade hinterlassen zu haben, sie war noch immer das liebreizende Mädchen, das kein Wässerchen trübte und jeden noch so gefinkelten Seneca-Text mit Bravour und Auszeichnung ins Gegenwartsdeutsche übersetzte.
„Und Sie haben nichts Verdächtiges bemerkt?“, wiederholte ich meine Standardfrage aus dem Lehrbuch für Privatdetektive, jeder Kollege von Mister Marlowe abwärts in meine Richtung hatte diese eine Frage drauf: „UND-SIE-HABEN-NICHTS-VERDÄCHTIGES-BEMERKT?“
Hatte die trocken gelegte Lateinlehrerin tatsächlich nicht. Oder sie flunkerte mich ungerührt an. Führte mich mit vorgetäuschter Aufrichtigkeit in eine dunkle Gasse hinein, in der sie mir hinterrücks eins mit der gusseisernen Bratpfanne überziehen konnte.
„Kathy wurde manchmal von jemandem abgeholt,“ gab die misanthropische Lateinlehrerin schließlich widerwillig bekannt, ich hätte diesen Satz fast überhört, weil ich auf meiner Kaffeetasse den Spruch ‚Home is where your Cat is‘ entdeckte, nur ein paar Worte, die mir trotzdem den Rest gaben. Tränen traten wie ungebetene Gäste in meine Augen und sammelten sich dort zu allgemeiner Verzweiflung, ich spürte den berühmten Stich in der Brust, rang nach rettender Luft, schien aber nur den Stickstoff darin aufnehmen zu können, ohne ein Zigarillo oder ein paar Milliliter Absinth in Griffweite, der dünne Kaffee aus der Tasse mit dieser einen Behauptung darauf musste reichen: Dein Zuhause ist dort, wo die Katze ist. Meine Isola lag auf dem Friedhof der Namenlosen, neben dem Grab eines elfjährigen Kindes, das vor hundert Jahren aus welchen Gründen auch immer in die Donau geplumpst war: Dem unbekannten Mug-Philosophen zufolge war dieser Friedhof der Namenlosen zu meinem zweiten Zuhause geworden: Ein Müllberg aus Leichen, die absolut nichts mehr besaßen, nicht einmal einen verdammten Vor- und Zunamen.
Ich verlor mich in gewissen Betrachtungen über die Endgültigkeit des Todes und überhörte beinahe die nächsten Sätze der hochgebildeten Frau, die mich wieder einmal daran erinnerte, die Schule kurz vor der Matura abgebrochen und keinen richtigen Beruf erlernt zu haben, außer den eines regelmäßigen Trinkers. Ich schnüffelte nebenher in dunklen Geheimnissen herum und wurde dafür eher schlecht als recht bezahlt, außer ein Bankier aus Frankfurt am Main rief aus dem Nichts an und versprach mir die purpurfarbenen Scheine von einem ziemlich bedeckten Himmel herunter.
„Von wem zum Teufel wurde die Prinzessin abgeholt?“, fragte ich nach mehreren Minuten Selbstreflexion, „von einem Mädchen, einem jungen Mann, vom heiligen Geist oder einem Kerl, der nur einen Haufen Sexspielzeug in einem schäbigen Pappkarton mit sich führte?“.
Die letzten zwei Verdächtigen schieden aus, übrig blieb die junge Frau und der etwas ältere Mann. Noch nicht ganz Mann, eher Junge. Ich rückte mit dem Foto des verdammten Vorzeigestudenten heraus – und natürlich war es genau dieser Typ: Kathys älterer Bruder.
Die Mundwinkel der Mittelschulprofessorin für diverse Orchideenfächer vibrierten. Ihr Blick verlor den Halt humanistischer Bildung, die Hände verkrampften sich ineinander. Lauter Hinweise, dass er es war: Manuel. Kathys Bruder, dessen Charisma sogar diese trocken gelegte Altphilologin betörte. Und dann noch ein Mädchen. Mit langen, brünetten Haaren. Todsicher die Freundin des Jusstudenten, mit der seine Schwester so etwas wie ein Verhältnis hatte. Eine intime Beziehung. Hatte mir dieser Doppeldoktor aus der Staatsoper verraten, weiß der Teufel, woher Daniel das gesteckt bekommen hatte. Sicher nicht im Orchestergraben seines ‚Hauses am Ring‘. War auch egal. Eine lesbische Beziehung. Ich stellte mir Tanzstangen in einem dreckigen Club vor, ein Schaumbad mit zahlreichen Körpern darin oder ein Wasserbett umgeben von schlüpfrigen Spielzeugen. Von irgendwoher war das Stöhnen in höheren Stimmlagen zu hören – die schwülstigen Fantasien eines älteren Herrn, der sexuell in seinem Leben zu kurz gekommen war.
„Ein Mädchen aus einer anderen Schule?“
„Kann ich ihnen nicht sagen.“
„Etwas älter bereits, Studentin vielleicht?“
„Ich habe sie nur ein paar Mal gesehen.“
„Wann zuletzt?“
„Vor Ostern möglicherweise, irgendwann im Februar, März. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe auch nicht besonders darauf geachtet.“
„Und warum fällt es Ihnen jetzt ein?“
„Weil ich das Foto gesehen habe,“ gab die früh vergreiste Pädagogin unverblümt zu, „das Foto von diesem jungen Mann, dem älteren Bruder. Das Mädchen, das Kathy mehrmals abgeholt hatte, muss dessen Freundin gewesen sein.“
Na bitte, da hatten wir schon so etwas wie eine Spur. Ein verdammtes Zwischenergebnis. Die Schwester des smarten Super-Studenten hatte eine Liaison mit dessen Freundin. Was auch nichts besonders Aufregendes war – es reichte mich daran zu erinnern, mit wem ich alles in der Oberstufe herumgemacht hatte. Mit Mädels, mit Jungs, mit älteren Herren, sogar mit dem einen oder anderen Hund. In diesem Alter war man so scharf wie eine entsicherte Handgranate, bereit, jeden Augenblick zu in einer einzigen Eskalation zu explodieren. Die Moral und die gute Erziehung wurden gemeinsam über Bord geworfen, und zurück blieb nur die neu erworbene Geilheit, die alle paar Stunden gewaltsam in Zaum gehalten werden musste, sonst verlor man mit Sicherheit den Verstand – oder was davon übriggeblieben war. Gesoffen wurde auch noch rund um die Uhr, und Dope geraucht. Kein Wunder, dass meine Matura in die Binsen ging und ich drei freudlose Jahre beim Bundesheer verbrachte. Und nach ein paar weiteren gescheiterten Fortbildungskursen in der Dreckwäsche anderer Leute zu schnüffeln begann. Wofür es sogar etwas Kohle gab. Die ich wieder in Absinth und leichte Drogen investieren konnte. Ein ‚endless circle‘, meine persönliche Möbius-Schleife.
Ich starrte zum Fenster hinaus. Die vielversprechende Schülerin. Der Ausnahmestudent. Die unbekannte Freundin dazwischen. Das Poppersfläschchen, das ich im Porsche Panamera gefunden hatte. Und die riesige Wohnung, aus der man jedes Bett entsorgt hatte. Nichts passte zusammen. Und doch begann sich hinter den dürftigen Spuren und Hinweisen die Konturen eines Bildes abzuzeichnen, und Leute: dieses Bild versprach ziemlich seltsam zu werden.
„Kathy hat auch wunderbar gezeichnet,“ fügte die Lateinlehrerin noch hinzu, bevor sie sich in die nächste Schulstunde empfahl. Altgriechisch in der sechsten Klasse. Die personifizierte Nachtmähr für die wichsenden Lümmel im dritten Stock. Die sich ausschließlich für Riesentitten, blanke Muschis und einen Ziegel schwarzen Libanesen interessierten, denen die Odyssee samt der Phalanx an griechischen Göttern scheißegal war. Die Pubertät loderte in ihren Köpfen wie das ewige Feuer. Unter all dem Pornomüll war der altgriechische Ablativ höchstens ein schmieriger Agent aus dem bürgerlichen Alltag. Später würden die Pickelgesichter sowieso Rechtsanwälte, Ärzte und Firmenchefs werden, ihr Weg war längst vorgezeichnet und schon jetzt von Lüge und allgemeinem Wahnsinn entstellt.
„Gezeichnet?“, fragte ich etwas belämmert zurück und bekam ziemliche Sehnsucht nach dem rettenden Ausgang. So eine verdammte Eliteschule konnte jemanden wie mich ziemlich herunterziehen, „meinen Sie etwa Aquarelle oder so einen Kram?“.
Ich war jetzt nicht besonders höflich, aber kurz vor der nächsten Schulstunde war das sogar dieser Professorin für mausetote Sprachen egal. Sie erlaubte sich ein zartes Lächeln, das ihre Schüler das ganze Jahr über nie zu Gesicht bekommen würden, und erzählte von perfekt gezeichneten Gliedmaßen, äußerst plastisch gestalteten Händen, hervorragend wieder gegebenen Beinen und anderen Körperteilen mehr. Ausdrücklich nicht jene, an die ich im Augenblick dachte. Keine anzüglichen Aktstudien, einfach nur bestimmte unverfängliche Körperteile. Ein Gesicht. Eine Hand. Eine Fußschaufel. Die Adern auf dem Sixpack eines jüngeren Mannes.
Wenige Minuten später schlich ich mich zur Türe hinaus. Eine Art Sommersturm empfing mich wie ein wütender Hund. Ich musste noch einmal in die Neutorstraße zurück, zur großen, luxuriösen Verlassenheit hinauf. Ich war mir sicher, irgendein Detail übersehen zu haben. Etwas, das von entscheidender Bedeutung war, um in diesem verfluchten Fall vorwärtszukommen. Es war das Gefühl eines Schriftstellers, diesen einen Roman zu beginnen, der ihn berühmt machen würde – er müsste nur anfangen ihn zu schreiben.
Und zwar genau jetzt.
*
Nicht nur die Täter trieb es regelmäßig an die Tatorte zurück, auch Ermittler wurden von solchen Orten angezogen, naturgemäß aus entgegen gesetzten Gründen. Die Täter genossen den Kick, die Schauplätze ihrer Untaten aufzusuchen, erlebten in psychotischen Schüben noch einmal die verübten Verbrechen, in einem flimmernden ‚Director’s Cut‘ mit kompletter Tonspur und allen Ungeheuerlichkeiten in Großaufnahme, im geräumigen Kinosaal des eigenen Wahns.
Der Ermittler dagegen wollte verstehen, was er noch nicht kapierte: Warum waren die Betten in dieser Wohnung entfernt worden? Wer hatte das Poppers im anthrazitgrauen Porsche platziert? Und wieso wusste der höhere Beamte an der Staatsoper vom intimen Geheimnis zweier Mädchen, von denen das eine gerade erst volljährig war? Nichts passte zusammen. Zwischen den einzelnen Mosaiksteinchen klafften riesige Lücken. Vom großen geheimnisvollen Bild dahinter war ich meilenweit entfernt. Ich ahnte etwas. Aber ich wusste von nichts.
Immerhin funktionierten meine Fingerprints noch. Die Tür zum gläsernen Lift in das oberste Stockwerk ging auf, ich warf einen letzten Blick auf den Panamera – und plötzlich stutzte ich. Das Fahrzeug klebte diesmal förmlich an der Mauer, nur wenige Zentimeter von der weißgetünchten Betonwand entfernt. So etwas machte man höchstens bei extremen Platzproblemen – oder man wollte damit etwas verbergen. Ich ließ den gläsernen Lift einen verdammten Aufzug bleiben und inspizierte die Mauer. Glatt und weiß verputzt, mit einigen Schleifspuren versehen. Eine völlig normale Betonwand in einer anonymen Parkgarage, die schamlose 50 Euro pro Tag für simples Abstellen verlangte. Der Porsche war so herausgeputzt, als hätten emsige Hände mehrere Stunden lang daran herum gescheuert, die Speziallackierung mit reichlich Chemie eingelassen und hinterher mit Rehlederlappen auf Hochglanz poliert. Trotzdem war hier irgendetwas faul. Ich spürte das im kleinen Finger der linken Hand. Am Wagen selbst gab es nichts auszusetzen, der war praktisch neu, wie direkt vom Porsche Headquarter in Stuttgart-Zuffenhausen geliefert. Aber er parkte so verdammt knapp an der Mauer.
Ich nahm eine Taschenlampe, die ich meistens bei mir trug, und leuchtete in den schmalen Spalt zwischen Fahrzeug und Betonwand. Nichts. Oder – einen Augenblick – vielleicht doch. Der Lichtkegel erfasste so etwas wie einen Schriftzug. Eigentlich waren es Zahlen. Dreimal die 6. Die letzte Ziffer war allerdings durchgestrichen und durch eine 1 ersetzt worden. Und dahinter stand noch ein „a“. 661a. Anscheinend war die Zahl für den Antichristen durch den Zifferntausch auf der Einerstelle unkenntlich gemacht worden. Aber was bedeutete das kleine „a“ dahinter? War mit „661a“ eine Straßenbezeichnung, eine Grundbucheintragung oder ein Autokennzeichen gemeint? Ich notierte mir die zwei Sechsen, die eine Eins und das „a“ in mein schwarzes Notizbuch. Die drei Ziffern mit dem kleinen ersten Buchstaben im Alphabet waren genau auf Stoßstangenhöhe hingeschmiert worden. Der Porsche Panamera touchierte die Nummer beinahe. Als ob jemand ein gewisses Interesse daran gehabt hätte, die hingekritzelte Kombination vor allzu neugierigen Blicken zu verbergen. 661a. Das nächste Mosaiksteinchen zu diesem seltsamen Suchbild der seit Wochen untergetauchten Familie.
Ich zündete mir ein Zigarillo an und paffte den Rauch gegen den Sprinkler über dem Porsche. Ein Pfeifsignal ertönte, und aus einer eingebauten Duschscheibe prasselten die Tropfen auf den anthrazitgrauen Panamera herab. So wie es hier von der Decke regnete, würde in wenigen Minuten die Berufsfeuerwehr anrücken – mit kreisendem Blaulicht und Sirenengeheul. Höchste Zeit für mich, den Lift hinauf in das Penthouse zu nehmen.
Oben angekommen, vibrierte mein Handy wie ein verrückt gewordener Defibrillator. Als ich auf das Display sah und die Nummer erkannte, spürte ich einen heftigen Stich in der Herzgegend. Nicht der geheimnisvolle Bankier, sondern Phillip rief an. Etwas, das er seit dem letzten Weihnachtsfest nicht mehr getan hatte. Wenn ich bei jemandem vor dem dritten Freizeichen abhob, dann bei ihm.
„Hallo, Sohn. Ich bin gerade in einem riesigen Penthouse im ersten Bezirk. Ein neuer Auftrag, ziemlich gut bezahlt. Eine Familie, die seit Wochen abgängig ist. Was machst du gerade?“
Philipps Stimme klang traurig. Ich kapierte, dass er gerne sein Herz ausschütten wollte, sich aber im letzten Moment doch nicht ganz traute. Um ihn etwas abzulenken, fragte ich ihn, wie es in der Schule so ging, aber da hatte Phil lauter Einser. Und im Schwimmen hatte er erst letztes Wochenende einen Jugendlandesrekord aufgestellt, er war nur noch achteinhalb Sekunden vom Weltrekord entfernt. ‚Ein Klacks‘, hatte ich geantwortet, ‚so lange brauche ich, um eine Moods anzünden.‘
„Da liegen trotzdem noch Welten dazwischen,“ seufzte Philipp in die Verbindung hinein. So niedergeschlagen hatte sich mein Sohn noch nie angehört. Ich nahm mir den gesamten Mut eines stolzen Vaters zusammen und fragte Phil, ob es jemanden in seinem heranwachsenden Leben gab, der Melancholie, Sehnsucht oder sonst ein Scheißgefühl zwischen Depression und Euphorie auslösen konnte.
„Ein Mädchen wird es wohl nicht sein.“
Schweigen.
„Ein Junge?“
Schweigen plus schweres Atmen. Vielleicht lief gerade eine Träne über die glatten Wangen hinab.
„Älter oder jünger?“
„Ach, Papa!“ gefolgt von einer unheimlichen Stille.
„Bist du noch dran?“
Keine Antwort.
„Phil!“
Maximal der Anflug eines Seufzers.
„Antworte bitte!“
Aufgelegt. Natürlich rief ich zurück. Einmal, dreimal, zehnmal, dutzende Male. Dann war die Verbindung blockiert, und eine Mailbox verriet, dass die gewählte Nummer der bescheuerten Telefongesellschaft unbekannt war. Scheiße. Scheiße hoch zehn. Ich rief meine Ex an und schickte sie schnell in die Wohnung. Phil hatte sich im Zimmer verbarrikadiert und machte keine Anstalten, die abgeschlossene Türe zu öffnen.
Ich fragte mich, was der Grund für seine Reaktion sein gewesen sein konnte. Wir hatten uns beim letzten Treffen in der Stadthalle doch gut verstanden, waren uns näher gewesen als jemals zuvor. Ich wusste nun, was der Junge begehrte, und Phil hatte verstanden, wem ich so hinterher war, wenn keiner herschaute. Wir mochten dasselbe. Den männlichen Körper. Einen Schwanz. Einen glatten Hintern. Einen Mund, der ordentlich saugen konnte. Ich hatte tausende Erlebnisse in Saunen, Dunkelkammern und Münzklos gehabt – aber Phil? Vielleicht eines, zwei oder drei – oder doch mehr? Warum hatte er jetzt aufgelegt, meine Nummer blockiert und sich in sein Zimmer gesperrt, wo er Agnes zufolge haltlos weinte. Ich hatte ihm doch nur gesagt, wo ich mich gerade befand: in diesem Penthouse im ersten Bezirk, das einer Familie gehörte, die seit Wochen verschwunden war. Philipp hatte darauf geschwiegen. Sein schweres Atmen war einige Sekunden lang am anderen Ende der Verbindung zu hören gewesen, kurz bevor er aufgelegt hatte. Ein nächstes Steinchen zu diesem Mosaik, das mir noch immer unbekannt war?
Ich drehte mich um. In diesen Luxusräumen war noch längst nicht alles erkundet. Ich machte mich daran, sämtliche Laden zu öffnen – und Leute, es waren verdammt viele. In der Diele, in der geräumigen Wohnküche, unter der Kochinsel und an den raumhohen Einbauschränken in jedem einzelnen Zimmer. Ich wühlte mich durch feinstes Bone-China-Geschirr, teuerstes Silberbesteck und riesige Weinkelche, inspizierte Kästen und Schubladen voller Designerkleidung, untersuchte dutzende elektronische Haushaltsgeräte. Nippes, Krimskrams und digitale Gimmicks im Wert von hunderttausenden Euros. Ich überlegte mir, ob ich nicht einen Zestenreißer, das vergoldete Cocktailset und ein paar Flaschen vom guten alten Pernod mitnehmen sollte. Mein Diebstahl würde kaum auffallen. Allein die Linn-Verstärker kosteten so viel wie ein Kleinwagen. Jeder einzelne von ihnen.
In einer Lade im Wohnsalon entdeckte ich einen schwarzen Telefonapparat. So ein Vintage-Ding mit originaler Wählscheibe. Wahrscheinlich bei einem dieser überteuerten Secondhand-Läden im ersten Bezirk erstanden. Offensichtlich der einzige Gegenstand, der sowohl hier als auch in meinem Appartement vorkam – wenn man von den giftgrünen Absinth Flaschen absah. Als ich den Apparat auf die Marmorplatte oberhalb der Lade stellte, bemerkte ich, dass er sogar noch angeschlossen war. Und dass es in der Lade einen scharf gestellten Anrufbeantworter gab, dessen Display eine Zahl zeigte: 31. Einunddreißig Anrufe in Abwesenheit? Auf diesem Uralt-Telefon, das aus welchen Gründen auch immer in einer Lade versteckt war? Ich spielte an den Tasten herum und hatte das Gefühl, die gespeicherten Aufnahmen frühestens im nächsten Leben abhören zu können. Meine Frau Agnes rief am Handy zurück und verriet, dass Phil aus seinem Zimmer gekommen war und mit dem Rad das Weite gesucht hatte. Wohin wusste höchstens der Südwind, der gerade über der Stadt tobte.
„Ich bin in einer Stunde zurück,“ hatte er seiner Mutter im Davoneilen zugerufen. Die Pubertät musste noch immer die reine Verdammnis sein, der neunte und letzte Höllenkreis auf einer verdammt räudig gewordenen Erde.
Ich goss mir etwas Absinth in den nächstbesten Weinkelch, ein mundgeblasenes Grand-Cru-Glas um mindestens zweihundert Euro. In der luxuriösen Dachgeschosswohnung gab es keinen billigen Gegenstand außer den veganen Bio-Hüttenkäse, den Philipp auch so gern mampfte. Mit ein bisschen Honig und Zimt gewürzt, damit es ein wenig Richtung Nachspeise schmeckte. Der Junge war so verdammt diszipliniert. Genauso sensibel wie ein zehnjähriges Kind, dem nur allzu leicht die Tränen übers Gesicht liefen. Warum hatten ihn meine flapsigen Bemerkungen über diesen Dachausbau in der Neutorstraße derart aus der Fassung gebracht? Wusste er etwas über die Familie, die seit Wochen abgängig war? Kannte er jemanden davon, aber wen? Der Vater und die Mutter schieden wohl aus. Und Mädchen interessierten ihn nicht. Blieb der junge Student, der auch eine Freundin hatte und wie ein Prinz aus Beverly Hills aussah: hochgewachsen, schlank, aber definiert, mit einem Blick, der Tote aus ihrem Dauerschlaf reißen konnte. Offiziell hetero, hinter den Kulissen etwas bi – so jemand stand wohl eher auf ein ausgewachsenes Kamel als diesen schüchternen Jungen, der nur das Schwimmen und die guten Noten im Kopf hatte. Aber was wusste der Vater eines 16jährigen über den eigenen Sohn? Wenig, was den Jungen wirklich betraf. Vor allem kannte er dessen Geheimnisse nicht, Phils unterdrückte Begierden, seine Sehnsucht nach etwas, das er selbst noch nicht aussprechen konnte.
Der Absinth begann wie ein Helikopter in meinem Kopf zu rotieren. Die Finger spielten aufs Geratewohl am Anrufbeantworter herum, und irgendwann, oh Wunder, hatte ich das Ding aus den 80er Jahren aktiviert. Nach ein paar Knacklauten ertönten verschiedene Stimmen – ein kurzes Hörspiel über den Reichtum durchspülte meine verstopften Gehörgänge. Ob man sich zum Golf oder in einer Weinbar verabreden wolle? Und das Angebot für eine Immobilie im 19. Bezirk noch immer aufrecht sei, das Staatsopern-Abo verlängert oder die Lieferung von 200 Flaschen Bordeaux-Weinen auf nächsten Dienstag verlegt werden sollte? Die ganze bürgerliche Fassade, die jeden Augenblick in sich zusammenstürzen drohte. Und das tat sie dann auch, mit der nächsten Stimme aus den krachenden Minilautsprechern: „Hier Zlatko aus dem Armony-Klub. Eure Kathy hat ihren verdammten Koffer noch immer nicht abgeholt. Die 2000 Euro hat sie bis jetzt auch ignoriert. Ich habe den Nuttenlohn in ein Kuvert gesteckt und bitte jemanden von Euch, die beiden Sachen möglichst schnell aus dem dritten Bezirk abzuholen. Ihr wisst schon wo. Zlatko wartet nicht gern. Schönen Tag. Ende.“
Ich musste diese Audioaufzeichnung ungefähr 30mal wiederholen, bis ich den Wortlaut wirklich inhaliert hatte. Studio Armony. Dritter Bezirk. Ein zurückgelassener Koffer. Und das Kuvert mit 2000 Euro für irgendwelche Sexspiele. An Kathy gerichtet. An die 18jährige Tochter dieser Vorzeigefamilie. Ich leerte den Rest der Absinthflasche und warf mich auf eine Liege neben dem Dachswimmingpool. Schnarchte ein paar Runden, bevor ich abends unter Sternen und einem Feuerwerk im Westen der Stadt zu mir kam. Wahrscheinlich nur, weil mein Handy angeschlagen hatte wie ein Kettenhund aus der Hölle.
Auf dem Display klafften dreizehn Anrufe in Abwesenheit und folgende Nachricht: „Habe dich öfters zu erreichen versucht. Pennst du schon tagsüber? Philipp ist wieder da. Lässt dir liebe Grüße ausrichten. Und dass du auf dich aufpassen sollst. Agnes.“
*
Das Studio „Armony“ – wohl nach einigen Konkursen mit diesem Kunstwort bedacht – befand sich im Erdgeschoss eines rosa angestrichenen Zinshauses, das wie das gesamte übrige Viertel im dritten Bezirk schon bessere Zeiten erlebt hatte. Hinter dem mit roten Lichtketten versehenen Eingang baumelte ein dreckiger Latexvorhang in der leichten Sommerbrise, dahinter lauerte eine Brandschutztüre mit Klingel an der linken Mauerseite. Ich drückte ein paar Mal auf den schwarzen Knopf und starrte in die Linse einer Überwachungskamera. Eines war so sicher wie der Gestank in einer versifften Toilette – hier kamen nur die wirklich schrägen Leute vorbei: ältere Herrschaften, die gerade etwas Staatsknete bekommen hatten, Lastkraftwagenfahrer, die nach 2000 Kilometer Autobahn einen engen Po brauchten und gewisse Geilspechte mit Gefährdungsprognose, die sich hier mit einem Koffer voller Keuschheitsgürtel, siebenschwänzigen Peitschen und Dildos mit Ausmaßen von korinthischen Säulen einfanden. Nach einem leisen Surren ging die Tür auf, und ich befand mich an einer Art Rezeption, in der ein tätowierter Kerl Anfang fünfzig seine Fingernägel mit einem Wurfspieß manikürte. Keine Frage, ich hatte schon in vertrauenswürdigere Visagen geschaut.
„Sie müssen Zlatko sein,“ versuchte ich das Gespräch, das keiner von uns beiden wollte, in die Gänge zu bringen.
„Holen Sie endlich Kathys bescheuerten Koffer ab?“, fragte der Typ und nickte zu einer vergilbten Getränkekarte hinüber, „wenn Sie schon so dreist sind, die Sachen mitzunehmen, dürfen Sie auch eine Flasche Sprudel spendieren. Keine Sorge, in diesem Kuvert sind 2000 Euro in bar.“
„Was hat meine Nichte hier so gemacht?“, spielte ich den verblüfften Provinzonkel, der gerade die dunkleren Seiten seines Patenkinds zu entdecken begann. Auf der schmuddeligen Faltkarte waren drei Schaumweine gelistet: einer hieß ‚Metternich‘, der zweite ‚Mussolini‘ und der dritte ‚Geldermann‘, wie die Namen dreier gesuchter Verbrecher aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Ich deutete auf den deutschen Sekt im niedrigen dreistelligen Bereich, und jemand der sich Lola nannte, aber garantiert keine Frau war, schenkte uns diesen Geldermann ein: drei schlecht gereinigte Acrylflöten, mit trübem Schaumwein befüllt.
„Was Kathy hier gemacht hat? Was glauben Sie: Lego gespielt? Den dreibeinigen Hund Gassi geführt?“
Der Bosnier mit dem Fünf-Tages-Bart und mehreren Narben im Gesicht lachte so hinterhältig wie zynisch. Einen Augenblick befürchtete ich, er würde seinen Wurfspieß in meine Richtung schießen, aber er griff nur überraschend schnell nach dem Glas und sah grinsend zu, wie ich meine Zeche aus dem Kuvert der abgängigen jungen Frau beglich. Danach schloss er die Augen und kippte das perlende Zeug in einem Schluck hinunter. Ich nippte am zwielichtigen Sprudel wie ein kleines Mädchen an einer Hostie bei der Firmung oder so ähnlich.
„Sie trinken nicht oft diese Puffbrause, oder?“ ergötzte sich der tätowierte Kerl an meinen nach unten gekurvten Lippen.
„Haben Sie Absinth da?“
„Sie meinen Pernod? Ein paar tschechische Lastkraftwagenfahrer stehen darauf. Die inhalieren das Zeug und werden dann so scharf, dass sie oft die kostbarsten Stellen meiner Mädchen hier ruinieren.“
Ich versuchte mir das Szenario bildlich vorzustellen und scheiterte kläglich. Das in die Jahre gekommene Wesen ohne bestimmtes Geschlecht schob mir eine verstaubte grüne Flasche mit dem weißen Etikett und der blau-roten Aufschrift herüber. Ich goss mir etwas von der guten Fee in den Geldermann und fühlte mich gleich etwas besser.
„Was hat mein …äh… Patenkind hier wirklich gemacht?“ bohrte ich hartnäckig weiter. Den verdammten Onkel dieser verruchten Prinzessin glaubwürdig zu spielen, fiel mir alles andere als leicht.
„Nur die dreckigsten Dinge,“ grinste Zlatko breit über das ganze vernarbte Gesicht, schabte mit seinem Wurfspieß am nächsten Fingernagel herum und fixierte mich zwischen der Geldermann-Flöte und einem an uns vorbeihuschenden Freier.
„Arschficken war Standard bei ihr, sie hat alle Körperflüssigkeiten geschluckt und…“
Mehr brauchte der tätowierte Experte für niedere Lebensformen nicht zu erzählen. Ich vernichtete die Kombi aus Pernod und Geldermann, beglich den noch offenen Rest und suchte danach das sichere Weite. Der Koffer in meiner Hand wog gefühlt eine Tonne. Außerdem war er knallrosa. Während ich das Ding in meinem Toyota verstaute, wurde ich von einer langsam vorüberfahrenden Polizeistreife gemustert. Wahrscheinlich überlegten sich die Cops, ob sich eine Anhaltung rentieren würde. Die Ampel sprang rechtzeitig auf grün, und die Bullen fuhren weiter, ihrer Stammpizzeria „Bella Napoli“ entgegen, von emigrierten Talibans betrieben, die sich als Sizilianer ausgaben. Die Welt war ein globales Dorf geworden, dafür längst aus allen Fugen geraten. Orientierungslos steuerte ich den Wagen durch die Straßen des dritten, vierten und ersten Bezirks, begleitet von Smetanas ‚Moldau‘, den ‚Vyserad‘-Teil, in Dauerschleife gespielt. Das Wetter war schön, die Leute auf den Gehsteigen hatten Sommerbekleidung an und leckten unbekümmert an ihren Eistüten. Keiner von ihnen schien auch nur das kleinste Problem mit seiner Existenz haben. Nur ich starrte den verdammten rosa Koffer auf der Rückbank an und stellte mir vor, welche grotesken Geheimnisse er für mich bereithalten würde.
*
Chlorgeruch und Trillerpfeifengeräusche. Die regelmäßigen Kraulbewegungen meines Sohnes und die mitgestoppten Durchgangszeiten, die auf einer Anzeigentafel neben der äußersten Schwimmbahn festgehalten wurden. Bahn Nummer fünf war wieder um dreieinhalb Sekunden vorne, Philipps Bahn, die Bahn meines Sohnes. Es war unglaublich, wie sehr sich der Junge mit meinem genetischen Code in den Zellen so verausgaben konnte: für mich stellten schon dreihundert Meter Spaziergang eine unmenschliche Höchstleistung dar.
Nachdem der Junge sein Intervalltraining beendet hatte, hörte er sich mit blau angelaufenen Lippen geduldig die Ratschläge seines Trainers an – ich hätte an seiner Stelle dem Fettwanst im schmuddeligen Jogginganzug eine geknallt, aber Phil war da anders – ein Sportler durch und durch, der vor Ehrgeiz nur so bebte und höchst konkrete Ziele vor den Augen hatte: zuerst Jugendstaatsmeister zu werden und danach auch in der allgemeinen Klasse zu gewinnen, um irgendwann bei den Europameisterschaften antreten zu dürfen – die Träume meines Sohnes waren in Sekunden zu messen. Was auch immer kommen würde, ich war schon jetzt stolz auf ihn. Sah Phil zu, wie er sich behutsam abtrocknete, mit kleinen Hüpfbewegungen das Chlorwasser aus dem Trommelfell schüttelte, wie er mit dem Handtuch die letzten nassen Stellen auf seinem glatten, definierten Körper betupfte, die knappe Badehose, die kecke Beule darin, der knackige Po beim Abgang in die Umkleidekabinen. Er war noch immer ein schüchterner Junge, andererseits aber auch schon der junge Mann, der seine Umgebung betörte, mit seinem Lächeln, seinen hochgezogenen Augenbrauen, seinem bergseeklaren Blick, seiner Direktheit, die noch nicht von zu vielen Lügen gebrochen war.
Minuten später saß er auf dem Beifahrersitz und lächelte mich von der Seite her an, es gefiel ihm, dass ich ihn jetzt regelmäßiger besuchte, an seinen Trainingseinheiten Anteil nahm, mich wenigstens oberflächlich für den Schwimmsport im Allgemeinen und für Phils fabelhaften Rekordzeiten in den Lagen- und Kraulbewerben zu interessieren begann.
„Es klingt blöd, aber ich möchte Weltmeister werden,“ flüsterte der Junge mit großen Augen, als hätte er nur einen einzigen Wunsch parat, und zwar genau diesen. Ganz oben zu landen. Als erster in einem WM-Finale anzuschlagen. Mit feuchten Augen die Nationalhymne auf dem Siegespodest zu verfolgen. Die Goldmedaille ungläubig an seiner definierten Brust zu bestaunen. Im anschließenden ORF-Interview den Sieg seinen schnöden Alten zu widmen oder nein, wohl eher dem mir noch unbekannten jungen Mann, dem Philipp anscheinend zugetan war.
Wir saßen in einem Steakhouse im fünfzehnten Bezirk, nicht weit vom Meiselmarkt entfernt, beinahe in Kriechweite von Agnes Altbauwohnung im dritten Stock eines Theodor-Bauer-Zinshauses. Nicht dass ich wusste, wer dieser Bauer gewesen war, ich hatte nur dessen Name auf einer Marmortafel über dem Eingang des abgewohnten Gebäudes gelesen. Dafür war die Miete niedrig, die Nachbarschaft auszuhalten und der Garten im Hof für kleinere Feste und Grillabende bestens geeignet. Nicht zu vergleichen mit meinem 40-Quadratmeter-Loch in der Sterngasse, erster Bezirk zwar, dennoch finster und heruntergekommen. In meinem Kühlschrank sah es aus wie in einem wissenschaftlichen Experiment und in der Küche liefen unkontrollierte Gärungsprozesse ab. Vielleicht sollte ich die vielen geleerten Pernod-Flaschen entsorgen, sämtliche Fenster zwei Wochen lang durchgehend geöffnet halten und einen fähigen Kammerjäger engagieren – bis vor wenigen Tagen hatte sich meine Katze um das Ungeziefer gekümmert. Dann war sie an einem Tumor oder so zugrunde gegangen und ich hatte Isola am Friedhof der Namenlosen neben dem Grab eines elfjährigen Jungen beerdigt, damit der Kleine ein Haustier zum Spielen hatte, das genauso tot war wie er selbst, nur etwa hundert Jahre später unter die feuchtkalte Erde gekommen.
Ich verlor mich in gewissen Betrachtungen zwischen französisch angehauchtem Existentialismus und dem Lied von der Zelle, nippte dazwischen an meinem Absinth und hörte halbherzig den Ausführungen meines Sohnes zu, der von Agnes skurriler Jenseitsbeziehung mit diesem flämischen Hellseher aus dem 18. Jahrhundert erzählte, unterbrochen von Schulausflügen, Exkursionen und Museumbesuchen. Phil redete von allem anderen außer sich selbst: seinem Innenleben. Und seinen Gefühlen. Ob er nachts heimlich in gewisse Lokale ging, ob er sich in Parks oder auf Schultoiletten vergnügte, ob er nach etwas männlicher Nähe hinter dem Chlorgeruch seiner Lieblingssportart suchte und dabei vielleicht maßlos enttäuscht worden war. Wer immer diesem Jungen auch nur den kleinsten Schmerz zufügte, würde es mit mir zu tun bekommen, früher oder später. Ich war zu allem fähig, was es die Versehrtheit jenes einzigen Menschen betraf, der meine beschissene Welt einigermaßen erhellte.
Wie der König aller Fleischfresser säbelte ich an meinem blutigen Steak herum, ignorierte die grünen Bohnen daneben, und sah kauend meinem Sohn zu, wie er vorsichtig die Panier von den Backhändelstreifen auf seinem Teller zu schaben begann, lauter überflüssige Kalorien, wie der Junge betonte, während er die goldgelb frittierte Panzerung des weißen Fleisches zu kleinen Haufen am Tellerrand türmte. Er liebte Salat über alles, hatte vorher drei Austern geschlürft, und wollte zum Nachtisch nichts als eine Banane haben, ein Vorhaben, das in der Restaurantküche bestürzte Ratlosigkeit auslöste. Irgendwann schickten sie einen Lehrling in den benachbarten Eissalon, um dort die verdammte Banane für Philipp zu organisieren.
In der siebenten Klasse Gymnasium stand der Junge in allen Fächern auf Eins, nur so am Rande erwähnt, um dazulegen, wie sehr sich Kinder von den eigenen Eltern abheben konnten. Lauter Einsen. Nicht einmal im ersten Schuljahr hatte ich lauter Einsen gehabt, und ab der dritten Klasse hatte ich mich mit praktisch jedem auf dem Schulhof geprügelt, war zwischen dem neunten und dem vierzehnten Lebensjahr täglich mit blutiger Nase oder blauen Flecken am ganzen Körper nachhause gelatscht, die Schulpsychologen hatten ihre dämlichen Köpfe geschüttelt, für die meisten Lehrer war ich ein schräger ADHS-Fall geworden und irgendwann verlor sich meine Spur als Schüler zwischen Klassenbucheintragungen und Relegationen in einem Labyrinth, das man die richtige Welt nannte. Die Welt der Erwachsenen. Des Alkohols und der Drogen. Des miesen Verbrechens. Nicht gerade jene Welt, die ich Phil überlassen wollte. Seiner Empathie mit den Mitmenschen. Seinem ungebrochenen, offenen Blick. Und der gerade erst aufgeflammten Gier nach dem Leben.
„Warum hast du dich vor einigen Tagen so seltsam benommen?“, wollte ich schließlich wissen, und Phil zuckte nur mit den Schultern.
„Manchmal reagiere ich eben komisch. Einfach so. Ich weiß auch nicht warum. Tut mir leid.“
Der Junge musterte den angehäuften Turm aus übriggelassener Backhändelpanier. Seine Mundwinkel zuckten. Sein dichtes braunes Haar fiel ihm dabei in die Stirn. Er trug ein Flinserl im rechten Ohr. Ein Detail, das mir erst jetzt auffiel.
„Du verheimlichst deinem alten Herrn etwas.“
Ein halbes Lächeln, aus der Hüfte geschossen. Der Junge strich die braunen Strähnen aus seinem Gesicht, bemühte sich um Haltung und Contenance. Wie zerbrechlich er jetzt wirkte, wie eine kostbare Vase aus der Ming-Dynastie. Dann schüttelte er seinen hübschen Kopf und versuchte mir einen Witz zu erzählen. Ein Vorhaben, das kläglich scheiterte, aber wir lachten trotzdem beide darüber. Phil war so ein verdammt süßer Junge. Und verbarg mit aller Kraft etwas Unaussprechliches vor mir.
Ich dachte an den rosafarbenen Koffer in meiner Wohnung. An dieses verdammte Gepäckstück, das ich in Zlatkos Puff im dritten Hieb übernommen hatte. Kathys Koffer. Samt einem Kuvert mit 1.800 Euro darin, zwei Hunderter hatte ich für eine Flasche Geldermann-Sprudel und einem achtfachen Pernod im Studio Armony hinterlassen. Der rosafarbene Koffer stand noch verschlossen wie eine Auster in meiner Wohnung herum. Ich brauchte wohl einen massiven Hammer und mehrere Meißel dafür, weil der Koffer mit einem Zahlenschloss versperrt war. Mit dem windschiefen Küchenmesser und meinem rostigen Taschenfeitel war ich bisher kläglich gescheitert. Phil malte mit seinen dünnen Fingern irgendwelche Figuren auf seine unbenutzte Serviette. Ich sah ihm dabei zu. Es schienen Zahlen zu sein: zwei identisch geschwungene Ziffern und eine sehr eckig aussehende Zahl.
„Zum Öffnen eines Koffers braucht man eine dreistellige Nummernkombination, oder?“ fragte Phil und sah mir direkt in die Augen. Sein Blick war irgendwo zwischen Trauer und heller Empörung angesiedelt, also im Nirgendwo seiner geheimen Gedanken. Ich hatte ihm eher beiläufig von diesem Koffer erzählt. Einem rosafarbenen Koffer, der Kathy gehörte, die mit ihrer Familie in diesem geräumigen Dachausbau in der Neutorstraße gewohnt hatte, bevor alle vier von einem Tag auf anderen von der Bildfläche verschwanden. Die Erwähnung dieser Wohnung hatte Phil völlig auszucken lassen. Und jetzt zeichnete er immer wieder dieselben Zeichen auf seine Serviette.
„Genau drei Zahlen“, bestätigte ich, und plötzlich konnte ich die geheimen Zeichen, die Phil mit seinem dünnen Zeigefinger auf die fleckige Serviette malte, entziffern: es waren zwei Sechsen, und es war eine Eins.
*
Das rosafarbene Gepäckstück lag offen vor mir wie ein enthülltes Geheimnis. Die Zahlenkombination, die Phil mit dem Finger auf die Stoffserviette gemalt hatte, war richtig gewesen. Und sie glich auch den Ziffern, die ich an der Mauer in der Tiefgarage neben dem Penthouse-Aufzug entdeckt hatte, ein paar Zentimeter von der Stoßstange des Porsche Panamera entfernt. Zwei Sechsen. Eine Eins. Das kleine a stand für etwas, das ich noch nicht dechiffriert hatte, aber ein paar Mosaiksteinchen schienen dennoch dazugekommen zu sein. Das große Bild dahinter war erst in wenigen Konturen zu sehen – dass es aber eine Art Hölle darstellen würde, schien mir immer klarer zu werden. Eine Hölle, die jedes einzelne Mitglied der verschwundenen Familie betraf. Und womöglich auch Phil. Meinen Sohn. Der in wenigen Tagen in ein Trainingslager bei Rom fahren würde. Phil hatte das Intensivtraining in Italien nur nebenbei erwähnt, gerade zu beiläufig. Ich hatte nicht weiter darauf geachtet, sondern mein blutiges Steak weggeputzt, einen dritten Pernod Sour genossen und in die Augen meines Sohnes geschaut. Diese Klarheit darin wahrgenommen. Jene Eindeutigkeit, die von der Lügenwelt da draußen kaum noch etwas erahnte.
Ich wühlte mich durch den Inhalt des Koffers. High Heels, kurze Leder- und Latexröcke, verschiedene Tops in den Generalfarben der Geilheit: Schwarz, rot und pink. Dazu Schminksachen in luxuriöser Aufmachung, jedes einzelne Fläschchen schien sauteuer zu sein. Kosmetikprodukte, die man sicher nicht in der Drogerie an der Ecke bekam. Vielleicht online oder irgendwo im ersten Bezirk, im Goldenen Quartier zwischen dem Park Hyatt und dem neuen Rosewood Hotel am Petersplatz. Je länger ich auf die ausgebreiteten Stücke starrte, desto intensiver hatte ich das Gefühl, auf falsche Fährten zu starren.
Zum Henker nochmal: Welches 18jährige Mädchen aus bestem Haus kam auf die Idee, sich als Nutte in einem heruntergekommenen Sexstudio zu verdingen? So fieberhaft ich auch überlegte, mir fiel kein einziges Motiv dafür ein. Wer in übertriebenem Luxus aufwuchs, hatte wohl kaum das Bedürfnis, den eigenen Körper Fernfahrern und Ausgleichsrentnern feilzubieten. Sich Männern auszuliefern, die von ganz unten kamen, und deren Ausdünstungen nicht gerade mit dem neuesten Duft von Chanel konkurrierten. Vormittags eine Elitesuche besuchen, dann die Ballettstunden an der Staatsoper mit Bravour absolvieren und nachts oder am Wochenende im ‚Studio Armony‘ eine abgefahrene Prostituierte zu spielen? Mit 18 Jahren? Einem IQ von mindestens 140? Und einem Millionenerbe vor den gierigen Augen?
Ich hatte selten gute Ideen, aber diesmal überfiel mich eine. Ich wählte Zlatkos Nummer und wartete endlose Minuten, bis der Typ abhob. Ein bulliger Glatzkopf, reich tätowiert, der seine Fingernägel mit einem verbotenen Wurfspieß manikürt hatte. Nebenher seinen Geldermann geleert und sich an meiner Unerfahrenheit mit seinem schäbigen Gewerbe delektiert hatte. Ein paar seiner Untergangssätze hatte ich sogar noch im Ohr. Alles ist ein verdammter Markt, Bruder. Die einen verfügen über einen jungen Körper, die anderen sind schon eher im Zentralfriedhof zuhause. Und spüren trotzdem dieses Jucken in den Eiern. Für ein paar Hunderter lösen sich ihre Probleme. Der junge Körper steht dem verwelkenden zur Verfügung. Manche Freier reden auch nur über die tote Ehefrau. Weinen sich aus. Lassen sich allerhöchstens einen abwichsen. Und kommen trotzdem vor lauter Dankbarkeit wieder.
„Was gibt’s?“ fräste sich Zlatkos Stimme in meine Erinnerung an den Ausflug in seine Kleinsthölle hinein. Ich fragte ihn, wie er zu Kathy gekommen war. Ich meine, für so ein Geschöpf aus der Luxuswelt gab es keine halbseidene Vermittlungsagentur. Keinen Katalog. Keinen Verbindungsmann mit fetten Goldkronen und zwanzig Vorstrafen. Wer also hatte diese Prinzessin an Zlatko vermittelt? Der Heilige Geist? Die Schulgemeinschaft vom Theresianum oder dem Sacre Coeur? Wohl kaum.
„Da war so ein junger Typ dabei,“ legte Zlatko nach ein paar Schweigeminuten los, „ein ganz schlimmer Finger, wenn Sie mich fragen.“
„Na klar frage ich Sie: wie hat der Typ ausgesehen? Passen Sie auf, ich schiebe Ihnen ein paar Stichwörter hinüber: Anfang zwanzig, dunkelbraune bis schwarze Haare, sehr akkurat geschnitten, markantes Gesicht, hohe Backenknochen, intensiver Blick aus grauen Augen, weich geschwungene Lippen und ein Grübchen am …“
„Genau so,“ unterbrach Zlatko meine Personenbeschreibung, „Sie brauchen mir gar kein Bild zu schicken, Sie haben diesen Spinner so genau wie eine digitale Kamera portraitiert.“
„Woher wissen Sie, dass er so etwas war?“
„Dass wer was war?“
„Dieser junge Typ: ein Spinner.“
„Das sah man doch auf den ersten Blick. Schleimiges Grinsen. Stechender Blick. Blasiertes Gehabe. Er wollte, dass sie anschaffte. Ihren Körper auslieferte und verbrauchte. Es gab ihm einen Kick, und die Kleine…“
„…ja…?“
„…spielte mit. Warum weiß ich auch nicht. Die Leute drehen heutzutage immer mehr durch. Sind einfach irre geworden vor lauter Koks und Amphetaminen. Die ganze Welt ist aus dem Ruder gelaufen.“
Zlatko setzte zu einer Brandrede über den Zustand des dritten Planeten neben der Sonne an. Ich legte auf, weil ich keine Lust auf den Weltverbesserungssermon des Wurfspieß-Bosniers hatte. Warf lieber noch ein paar Blicke auf die High Heels, die verdammten Latexröcke und knappen Tops, die jede noch so kleine Brust zu üppigen Fleischkugeln strafften. Dass mir einer dabei abging, konnte ich nicht gerade behaupten.
Ich kippte einen kurzen Pernod hinunter und zündete die nächste Moods an. In meiner Wohnung roch es genauso übel wie die Sache zum Himmel stank. Ein Student aus bestem Haus hatte seine gerade erst volljährig gewordene Schwester genötigt, sich als Amateurnutte in einem heruntergekommenen Sexklub zu verdingen. Von mir aus hatte dieses Manöver den jungen Mann angetörnt, aber warum hatte Kathy mitgespielt? Auf dem Küppers-Bild sah die Vorzugsschülerin aus, wie man sich eine Prinzessin live aus dem Märchen vorstellte: leicht anämisch, makellose Gesichtszüge, wunderschöne Haare, ziemlich sicher eine perfekte Figur, aus einer Familie, die eines mit Sicherheit nicht war: arm. Ganz im Gegenteil – wer in einem 850 Quadratmeter großen Penthouse in der Neutorstraße gegenüber der ehemaligen Börse aufwuchs, konnte gelassen Richtung Zukunft linsen: auch wenn man alle Schulen schmiss und außer Drogenkonsum und psychischen Ausnahmezuständen nichts auf die Reihe brachte, wartete im schlimmsten Fall ein fetter Nachlass auf einen. Die verzogenen Rechtsnachfolger in spe mussten nur ein paar Jahrzehnte zwischen Schönheitsfarmen und Technoclubs totschlagen, bevor ihnen nach dem Erbfall ein Notar den Zugang zur Kohle ermöglichen würde, in einem zweihundertseitigen Vertrag, den außer einigen Spitzenjuristen kaum jemand verstand. Niemand aus diesen Kreisen hatte es nötig, sich als Nutte oder Zuhälter in einem schäbigen Vorstadt-Bordell zu verdingen, unter Aufsicht eines bosnischen Gorillas, der sich mit einer pavesischen Hippe die Eier kratzte oder so ähnlich.
Warum also hatte die Vorzugsschülerin mitgemacht? War sie ihrem Bruder hörig gewesen? Wie ein entrückter Anthropologe starrte ich auf die ausgebreitete Latexwäsche, die Kosmetiksets um tausende Euros, auf die verdammte siebenschwänzige Peitsche und auf Dildos, die nicht viel kleiner als die Elfenbeinhörner afrikanischer Elefanten waren. Sex war schon eine saublöde Erfindung. Einerseits so notwendig wie Wassertrinken, andererseits von den meisten Religionsgemeinschaften dämonisiert und durch die Pornoindustrie in purem Gold aufgewogen – ein wenig naschte davon auch Zlatkos trauriges Bordell im dritten Hieb mit. Bedenkenlos zahlten Milliarden von Menschen mit ihren persönlichen Daten für die fleischfarbenen Clips oder bekamen ein paar Schekel für ihre schäbigen Dienste nachgeschmissen. Die Legionen zwischengeschalteter Vermittler dagegen verdienten sich krumm. Lachten sich einen Ast aus der Kehle. Und zählten rund um die Uhr das vergeudete Geld ihrer Kunden.
Diese allgemeinen Betrachtungen über den Irrsinn da draußen halfen mir auch nicht weiter. Meine paar Mosaiksteinchen verwiesen auf ein wirres Bild, das mir keiner für bare Münze abkaufen würde, am wenigsten der geheimnisvolle Bankier. „Wissen Sie, ihre Enkelin hat sich in einem Vorstadtbordell prostituiert, und ihr Zuhälter war der eigene Bruder, dieser Vorzeigestudent.“ Aufgelegt. Und nie wieder angerufen. Wenn ich Glück hatte, verzichtete der Unbekannte darauf, seine Anzahlung von zweimal 20 Riesen zurückzufordern.
Was ich bisher ermittelt hatte, ergab keinen Sinn. Vielleicht war irgendetwas in der verdammten Wäsche versteckt? Ich wühlte mich durch die Latexfetzen und befummelte die High Heels wie ein Perverser, der gewisse Körperflüssigkeiten daraus schlürfen wollte. Nichts. Nicht der kleinste Hinweis auf irgendwas. Warum hatte die Prinzessin diesen verdammten Koffer im Bordell gelassen? Ihren Anteil an der Schwarzkohle nicht abgeholt? War die überstürzte Familienflucht so überraschend gekommen? Ich hielt die Fläschchen gegen das Licht. Eines nach dem anderen. Die meisten waren kaum befüllt. Kathy musste das Zeug regelmäßig benutzt haben. Lauter französische Namen, die irgendwelche Düfte und Tinkturen enthielten. Das letzte Fläschchen war leer. Und als ich genauer hinsah, entdeckte ich etwas darin. Eine Tablette? Ein Stück Würfelzucker? Einen Schwangerschaftsabstrich? Ich öffnete den Verschluss und schüttelte den Inhalt auf meine Handfläche. Es war ein rechteckiges dünnes Stück aus recyceltem PVC. Eine – wie hießen diese Dinger noch – ach ja: eine SIM-Karte.
*
Das Büro der „Luxury-Living-Immobilien-GmbH“ lag direkt unter dem protzigen Dachausbau der verschwundenen Familie. Tagelang hatte ich nach dem Büro des abgängigen Projektentwicklers gesucht. Im Internet. Auf den Straßen des ersten Bezirks. Im gewerblichen Adressenverzeichnis. Eine Fehlanzeige nach anderen – bis ich die goldenen Schilder neben der Eingangstüre des Neutor-Straßen-Gebäudes zu inspizieren begann. Lauter Ärzte, Rechtsanwälte, ein Primar ohne Kassen und andere Golfspieler mit einem Handicap unter 10. Mittendrin im güldenen Gepränge entdeckte ich das unscheinbare Schild der „Luxury-Living-Immobilien-GmbH“. Endlich. Ich drückte aufs Geratewohl die Taste der Luxusagentur für mehr als besseres Wohnen: zu meinem Erstaunen summte die elektronische Türsperre freundlich und ließ meine Räudigkeit eintreten. Wahrscheinlich erwarteten die Immo-Experten da oben gerade den Pizzaboten, den Postzusteller oder ihren Kokslieferanten.
Oben im Office lief ich einem sportlichen Typ in die Arme, der ungefähr so aussah wie das abgängige Familienoberhaupt: längere Haare, Solarium gebräunt, markantes Gesicht, aufgeräumtes Lächeln über dem champagnerfarbenen Leinenanzug und einem Hemd in wildem Paisley-Muster. Schick anzuschauen, wenn man in Restaurants wie dem ‚Fabio’s‘ oder der ‚Cantinetta Antinori‘ verkehrte.
Natürlich fragte er sofort, was ich wollte. Gelassen ließ ich die ersten Informationen vom Stapel, beginnend mit meiner Privatdetektei bis hin zur abgängigen Familie, der ich im Auftrag eines hessischen Bankiers auf den Fersen war. Der Typ wurde ein paar Pantone-Farbtöne heller im Gesicht und verlor sein unverbindliches Grinsen wie ein Kleinkind die Milchzähne. Bugsierte mich in sein Büro, sperrte hinter uns ab, wuchtete seinen trainierten Leib auf einen Designer-Drehsessel und starrte mich durchdringend an.
„Eine äußerst rätselhafte Geschichte,“ begann er stockend wie ein lernschwacher Unterstufenschüler, der zur Konjugation unregelmäßiger lateinischer Verben vor die Tafel zitiert worden war, „und allem Anschein nach tragisch. Ich befürchte, nach mehr als sechs Wochen ohne das geringste Lebenszeichen vom Schlimmsten ausgehen zu müssen.“
Ich nickte solidarisch mit dem Kopf und hoffte, der Typ würde mir etwas zu trinken anbieten. So fassungslos wie der betuchte Solariumjünger wirkte, konnte er jetzt ordentlich Alkohol gebrauchen. Anscheinend beherrschte er die Kunst des Gedankenlesens, weil er innerhalb von zehn Sekunden seinen Kopf hob und mich mit hedonistischem Grinsen zu mustern begann.
„Entschuldigen Sie, wir beide brauchen jetzt einen Drink. Whisky? Rum? Cognac? Champagner?“ Er riss eine Tür zu einer Art Flügelaltar auf, der allerhand bunte Flaschen enthielt. In der zweiten Reihe entdeckte ich meinen alten Bekannten: Monsieur Pernod.
„Mit dem Absinth hinter den Single Malts wäre mir weiter geholfen,“ lächelte ich, und der Typ holte zwei Bleikristallgläser aus einem beige lackierten Wandschrank hervor, schüttete jede Menge Eiswürfel hinein und goss mir reichlich Pernod in den Eimer, während er das eigene Bleikristallglas mit einem 25jährigen Macallan befüllte.
„Auf die Lösung des Rätsels,“ versuchte er sich mäßig erfolgreich an einem Trinkspruch. Wir tranken ein paar tiefe Männerschlucke und bemühten uns nicht zu husten. Danach schloss der Immobilienentwickler Nummer zwei kurz die Augen, dachte angestrengt nach und stellte mir die üblichen Fragen: Wie lange ich mich schon mit diesem Fall beschäftige? Ob ich bereits in der Wohnung darüber gewesen sei? Was zum Henker ich bisher in Erfahrung gebracht hätte? Ungefähr in dieser Reihenfolge. Ich beschränkte mich auf ein paar dürftige Angaben und rückte dann etwas näher an den Magister für verkaufsorientierte Überredungskunst heran. Hermann Max stand auf einer Art Tischkarte in goldenen Lettern geschnörkelt. Was davon Vorname und Zuname war, erschloss sich mir nicht gleich auf der Stelle. War auch egal. Ich interessierte mich mehr für seinen abgängigen Kumpan, diesen Sebastian Schwartz, mit -tz am Ende des Nachnamens, ursprünglich aus Frankfurt, seit vier Jahren in Wien zuhause, genau über diesem verdammten Büro.
„Sebastian ist…naja, war…oder ist noch immer,“ begann der braungebrannte Single-Malt-Schnösel wie die berühmte Schnapsdrossel zu trällern, „…ein hervorragender Immobilienfachmann und Projektentwickler, gewinnorientiert, angemessen risikofreudig, ein sehr guter Netzwerker und bei praktisch allen Kollegen beliebt. Immer nett und trotzdem verbindlich, stets geradeaus, ohne irgendwelche Ausflüchte und Pseudo-Machtspielchen. Im Verhandeln ein As, äußerst abschlussstark, ohne dabei pushy zu wirken.“
Es klang schon wieder nach großer Liebeserklärung. Nach einem Ragout aus tiefer Bewunderung und einer halben Prise Neid statt dem Meersalz. Der Abgängige schien seinem Stellvertreter stets um eine Nasenlänge voraus gewesen zu sein, vielleicht auch um zwei. Möglicherweise waren die beiden sogar eher Konkurrenten als Kollegen gewesen, der eine hatte offensichtlich zwei Kinder, der andere vier, beide waren mit Frauen aus anderen Ländern verheiratet, der Abgängige mit einer Portugiesin und dieser in die Jahre gekommene Schönling vor mir hatte eine lupenreine Französin ergattert. Auf den Bildern am Schreibtisch war die gesamte Familie zu sehen. Rassige Ehefrau. Adrette Kinder im Pflichtschulalter, vielleicht dreizehn, elf, neun und sechs Jahre alt. Lauter Mädchen. Ich betrachtete die Fotos und fragte den Immo-Stellvertreter, ob er mit der abgängigen Familie engen Kontakt gepflegt habe.
„Nicht so intensiv wie Sie vielleicht glauben. Wir wohnen in einer Villa in Grinzing, und Sebastian hat diesen Dachausbau über unserem Büro bezogen. Er war besonders kundenorientiert und empfing die meisten Geschäftsfreunde gleich oben auf der Terrasse. Mit herrlichem Blick auf den Stephansdom und den halben ersten Bezirk. Eine äußerst rare Aussicht. Wissen Sie, dass diese Wohnung mehr als 10 Millionen wert ist? Wo wohnen Sie, wenn ich fragen darf?“
Ich verriet ihm meine Adresse im ersten Bezirk, eine Information, die den Immobilien-Magister sofort hellhörig machte. Mittlerweile hatte er schon den dritten Macallan intus und wurde immer gesprächiger, was nur zu meinem Vorteil sein konnte – beim Ermitteln war schweigen Bronze, und reden dafür pures Gold. Auch wenn ich die Ballade von der makellosen Familie bereits auswendig kannte, zumindest die ersten drei Strophen: ‚Der Prolog: Beide Kinder vielversprechend, um nicht zu sagen hochtalentiert: das Mädchen als Balletttänzerin und Portraitmalerin eher im Kunstbereich, ihr älterer Bruder ein angehender Jurist kurz vor dem Sub-auspiciis-Abschluss. Gesang Nummer zwei: Die Mutter der beiden ist eine hervorragende Gynäkologin, Spezialgebiet plastische Chirurgie im weiblichen Genitalbereich. Man glaubt nicht, wie sehr diese delikate Nische der Schönheitschirurgie nachgefragt wird. Außerdem eine mediterrane Schönheit, elegant, gebildet, humorvoll. Und Strophe drei kennen Sie schon, die geniale Geschäftstüchtigkeit von Sebastian Schwartz, Diplombetriebswirt und Master of…‘
„…the Universe,“ fügte ich grinsend hinzu, bevor mein Ton um ein paar Chilinoten schärfer wurde, „eines verstehe ich nicht: wenn alles so schön paletti war, aus welchem verdammten Grund sind dann sämtliche Familienmitglieder auf einen Streich verschwunden?“
„Wenn ich es nur wüsste,“ seufzte der Immobilien-Magister und knallte sich den vierten doppelten Malt in die Birne, „nicht die geringsten finanziellen Probleme, alle topfit, keinerlei psychische Auffälligkeit, bei keinem der Familienmitglieder.“
„Bei wirklich keinem,“ fragte ich sicherheitshalber zwischen zwei Schlucken Absinth nach und dachte an die beiden Kinder der Problemlos-Familie: die jüngere Tochter hatte heimlich als Prostituierte in einem miesen Sexstudio im dritten Bezirk angeschafft, während ihr älterer Bruder den Nachwuchszuhälter gemimt hatte – aber warum zum Teufel, wenn Geld tatsächlich keine Rolle spielte, die Psyche überall im Lot war und die Zukunft der beiden wie auf einem Reißbrett vorgezeichnet war?
Vielleicht hatte der durchgeknallte Bosnier namens Zlatko auch nur ein paar Mädchennamen durcheinandergebracht, aber immerhin hatte er auf dem versteckten Festnetzanschluss der abgängigen Familie jene Nachricht hinterlassen, die mich auf seine Spur gebracht hatte. Ich dachte an den rosafarbenen Metallkoffer voller Sexspielsachen und Reizwäsche, mit dutzenden teuren Kosmetikflaschen und dem einen oder anderen Fläschchen Poppers. Das alles passte so gar nicht zu den Ausführungen meines Macallan-Helden, der gerade wortreich die gemeinsamen Golfausflüge und Bootsfahrten am Wörther See mit der makellosen Familie seines Vorgesetzten beschrieb. Ich hörte kaum hin, goss mir noch etwas Pernod ins Bleikristallglas und überlegte, ob ich nach diesem Termin hinauf in die Wohnung schauen sollte, um dort nach einem Smartphone zu suchen. Ich hatte eine SIM-Karte in einem leeren Kosmetikfläschchen gefunden, und wo es eine SIM-Karte gab, mussten auch Handys sein, mindestens eines. Vielleicht hatte die Prinzessin mehrere Smartphones besessen. Reine Gedankenspielerei – aber wo es Rätsel gab, loderten auch die Flammen der Spekulation. Immerhin hatte mein Gesprächspartner ein paar mögliche Fluchtorte erwähnt: diese Villa am Wörthersee, ein Anwesen in der Toskana oder eine Immobilie auf den Azoren. Aber warum sollte sich diese makellose Familie über Nacht nach Irgendwo und Umgebung abgesetzt haben? Ohne den engsten Mitarbeitern und Freunden Bescheid zu geben und auch nur das winzigste digitale Lebenszeichen hinterlassen zu haben? Machte das alles Sinn? Die Antwort lautete klipp und klar – nein.
„Da ist etwas passiert. Hundertprozentig.“ Die Stimme des stellvertretenden Immobilienentwicklers schwankte zwischen ordentlich beschwipst und angemessen verzweifelt.
„Haben Sie schon die Buchhaltung auf Unregelmäßigkeiten durchforstet?“
„Das war das Erste, was wir getan haben. Nicht den leisesten Verdacht haben unsere internen Prüfer gefunden. Und das sind wahre Compliance-Spürhunde.“
„Fehlspekulationen vielleicht? Auf falsche Pferde im Darknet gesetzt? Irgendwelchen Kryptowährungs-Versprechen auf den Leim gegangen?“
„Wie ich schon sagte: nicht der geringste Hinweis, dass irgendetwas auch nur im Ansatz schiefgelaufen wäre. Die Familie ist einfach über die Osterfeiertage zu ihrem Haus am Wörther See gefahren und seither nicht wiedergekehrt.“
„Ist sie dort überhaupt angekommen?“
„Ich denke schon.“
„Ja oder nein?“
„Wenn Sie so fragen: ich habe keine Beweise dafür. Aber warum sollte die Familie Schwartz nicht in Dellach am Wörthersee angekommen sein?“
„Was macht man zu Ostern überhaupt dort?“ erlaubte ich mir den nächsten Einwand, „ist die verdammte Kärntner Pfütze nicht eher eine Sommerdestination?“
„Sebastian hatte kein einfaches Badehaus, sondern eine großzügige Villa direkt am See,“ erläuterte der trauernde Geschäftspartner, „fünfhundert Quadratmeter Wohnfläche, Indoor-Pool, Weinkeller, Privatkino. Da wird einem nicht so schnell langweilig. Wir haben sogar Küppers gebeten, dort Nachschau zu halten. Laut seinen Angaben gibt es dort nicht den kleinsten Hinweis auf irgendein Verbrechen.“
„Vielleicht hat die nette Familie Schwartz dort nicht einmal angehalten, sondern ist einfach weitergefahren,“ mutmaßte ich ins Grau meiner Theorien hinein.
„Schon möglich, wenn das Wetter nicht gut war. Sie hatten auch dieses Anwesen an der toskanischen Küste. Fest steht, dass sie mit dem Auto unterwegs waren. Keine gebuchten Flüge, keine Barabhebungen, und die Tankkarte ist nach dem Ostersonntag auch nur ein einziges Mal kurz vor der Grenze zu Italien benutzt worden. Mit vollem Tank kommt man mit diesem SUV ohne weiteres bis in die Toskana.“
„Vielleicht wurde später alles bar bezahlt,“ wandte ich ein und schenkte mir noch einmal Pernod nach. Die grüne Fee hatte auch am Ende der Fahndungsstange noch ein paar Argumente in petto.
„Und warum,“ erlaubte sich mein Golf-Magister eine Gegenfrage.
„Um Spuren zu verwischen. Und Nachforschungen zu erschweren.“
„Ich glaube eher, dass sie alle tot sind,“ würgte der Immobilienentwickler seinen bösen Verdacht ins Freie.
„Und warum denken Sie das?“
„Weil es überhaupt kein Lebenszeichen mehr gibt. Von keinem einzigen Familienmitglied. Seit guten sechs Wochen bereits. Heutzutage praktisch unmöglich. Jeder Kauf wird elektronisch erfasst, in jedem Kaff gibt es Überwachungskameras und im Internet hinterlässt jeder Klick Spuren. Nur Tote hinterlassen keine. Es wird etwas Furchtbares passiert sein. Leider muss ich jetzt bitten zu gehen. Ich spüre bereits den Alkohol und habe noch mehrere Geschäftstermine vor mir. Die halbe Flasche Absinth können Sie mitnehmen. Informieren Sie uns, sobald Sie etwas aufgespürt haben. Was immer es ist. Wir brauchen Gewissheit,“ schloss der Immobilienentwickler seine Ausführungen ab und wiederholte den letzten Satz nochmals eindringlich, „glauben Sie mir, Mr. Hartmann, wir brauchen Gewissheit. So können wir nicht weitermachen. Unsere Kunden warten auf Sebastian. Und wir warten genauso angespannt und verzweifelt mit ihnen.“
*
Ich war noch keine halbe Stunde in meiner Wohnung, als es draußen an der Eingangstür läutete. Ich überlegte, ob ich überhaupt aufmachen sollte. Manchmal randalierten betrunkene Jugendliche im Stiegenhaus und erlaubten sich dusslige Scherze. Ich versuchte das Geklingel zu ignorieren, aber wer immer da draußen vor der Tür stand, schien äußerst hartnäckig zu sein. Das Läuten wollte nicht aufhören. Mein Pernod vibrierte bereits mitsamt den Eiswürfeln im Tumbler. Ich seufzte, drückte die Zigarillo-Kippe aus und begab mich zum Eingang. Stolperte dabei über den rosafarbenen Koffer mit der Sexwäsche samt Dildos und Peitschen. Ein paar dieser Zauberstäbe hatte ich inzwischen selbst ausprobiert, es war gar nicht so ungeil, sich so ein Ding in den Hintern zu rammen und dabei einen Ständer zu bekommen. Sich übertrieben geil und männlich zu fühlen, wie ein Teenager, der zum ersten Mal in seinem Leben so ein Gerät ausprobierte. Heimlich um zwei Uhr früh, in seinem von Träumen und Fantasien aufgewühlten Bett, im sechsten Stockwerk eines Reihenhauses am Rande der Stadt. Eine so traurige wie hässliche Pubertät, die in neunzig Prozent der Fälle in einer freudlosen Ehe endete, die Kinder hervorbringen würde, die keiner wollte. Außer vielleicht der österreichische Staat.
Ich öffnete mit einem Ruck die Türe. Ein DHL-Bote war draußen und hielt mir ein Päckchen entgegen.
„Ich habe nichts bestellt. Muss ein Irrtum sein.“
Solche Ausreden schien der bärtige Typ aus irgendeinem osteuropäischen Land täglich zu hören. Klandestine Bestellungen aus dem Darknet, mit allerhand Verbotenem in den unverdächtig aussehenden Päckchen. Illegale Waffen. Suchtgifte. Sticks, die schlimme Filme enthielten. Was die Leute eben bestellten, wenn niemand so genau hinsah.
„Sie bekommen es trotzdem,“ lautete die kryptische Antwort. Der bärtige Bote warf mir das braune Päckchen entgegen. Eher widerwillig fing ich es auf. Als Empfänger war mein Detektivbüro angegeben, zusammen mit der korrekten Adresse. Der Absender war ein gewisses ‚Studio 3000‘.
„Sicher wieder eine dieser Sex-Bestellungen“, musste der Typ denken. Sein Grinsen wurde noch schmieriger, nachdem er einen Blick in meine Wohnung riskiert hatte.
„Sie wohnen allein, Mister?“
„Ja, ich habe vor ein paar Tagen meine rot gestreifte Katze am Friedhof der Namenlosen begraben. Ich bin sozusagen verwitwet.“
„Wir haben es alle nicht leicht, bitte hier unterschrieben, einfach so mit der Fingerkuppe. So ist es Recht. Vielen Dank, auf Wiedersehen. Und rufen Sie demnächst den Kammerjäger. Bevor Sie von der Krätze zerfressen werden.“
Weg war der bärtige Kerl mit den gutgemeinten Ratschlägen. Unten im Parterre hörte ich die schwere Holztüre ins Schloss fallen. Ich fragte mich, ob tatsächlich ein Bote vor meiner Tür aufgekreuzt war. Vielleicht hatte ich nur zwischen Absinth und Zigarillo schlecht geträumt und die DHL-Boten-Begegnung halluziniert. Das Päckchen lag trotzdem in meiner rechten Hand. Es hatte die Abmessungen eines verpackten Buches, war aber leichter. Ich überlegte, was zum Kuckuck es enthalten könnte und wer der getarnte Absender war. Ein Studio 3000 verschickte normalerweise Sexspielzeug oder Drogen. Ich drehte mich um, schloss die Wohnungstür ab und warf das Päckchen auf den Küchentisch. Es sah harmlos aus, zwischen dem Tumbler, einigen offenen Rechnungen und meinem gescheiterten Versuch, eine Tunfischpizza aus ‚Joe’s Italian Pub‘ nebenan zu essen. Ich nahm nicht besonders viel zu mir. An fester Nahrung wohlgemerkt. Hauptsächlich ernährte ich mich von Absinth und den Erdnussschälchen in der Loos. Wenn deren Barchef dran dachte, mir eines hinzustellen. Was auch nicht jeden Tag vorkam.
Kurz bevor das Bett nach mir rief, verlor ich die Geduld und öffnete das Päckchen. Wickelte einen dünnen, rechteckigen Gegenstand aus dicken Lagen gepolsterter Folie. Das Ding hätte man auch aus einem Überschalljet in 12.000 Metern Höhe abwerfen können – es wäre wohlbehalten auf der verdammten Erdoberfläche gelandet. Immer schön der Schwerkraft entlang.
Nach dem Entfernen von etwa fünf Kilometern Luftblasenpolster hielt ich ein dünnes Rechteck aus Kunststoff in der zitternden Hand. Ein Smartphone, dessen Display schon ziemliche Kratzer aufwies. In der rechten oberen Ecke klaffte sogar ein kleines Loch. Dieses Smartphone war sicher tausende Male zu Boden geplumpst. Gehörte höchstwahrscheinlich einem achtlosen Teenager. Ich kannte das von Phils Erzählungen. Mein Sohn besaß selbst ein penibel gepflegtes Handy, aber die Amateurhyänen aus seiner Klasse, die einander erbarmungslos mobbten, besaßen solche geschändeten Smartphones. Das Cover dieses Apple-Gerätes passte allerdings kaum zu einem pubertierenden Jungen. Es war rosa mit giftgrünen Wellen darauf. Eine äußerst hässliche Handy-Abdeckung. Billig. Grell. Irgendwie nuttig hoch zehn.
Nach dem nächsten tiefen Schluck Absinth hatte ich eine Idee. Griff nach meiner Brieftasche und suchte im Münzfach nach der SIM-Karte, die ich in einem von Kathys Fläschchen sichergestellt hatte. Organisierte mir eine verbogene Büroklammer aus dem Papierkorb und schob das rechteckige Ding in das vorgesehene Fach. Nahm ein Kabel aus einer Schuhschachtel, verband das Smartphone mit einem Aufladegerät und wartete eine halbe Stunde. Trank inzwischen meinen Pernod auf Eis mit einer Limettenscheibe aus und versuchte etwas Buchhaltung zu machen. Warf einen Blick auf mein Bankkonto. Und erstarrte. Der unbekannte Bankier hatte die dritte Rate überwiesen. Wieder zwanzigtausend. Langsam fing ich an reich zu werden. Wenn es so weiterging, würde mir eine verhärmte Bankberaterin demnächst einige bescheuerte Anlagemöglichkeiten unterbreiten. Lieber Herr Hartmann, auf dem Girokonto bekommen Sie kaum Zinsen, dafür hätte ich dieses und jenes in meinem Portfolio, exklusiv für Topkunden wie Sie.
Ich würde nicht hinhören. Mir war es egal, ob sich die Kohle am Konto vermehrte – oder auch nicht. Es war nur das Geld anderer Leute, das sich in der Kontonummer geirrt hatte. Wer war dieser unsichtbare Bankier, der einen schmierigen Privatdetektiv mit so viel Kohle versorgte? War es tatsächlich der Vater des untergetauchten Familienoberhaupts, wie der unbekannte Anrufer betont hatte? Seine paar Anrufe waren anonym gewesen, aber die überwiesenen Beträge schienen echt zu sein. Echt genug jedenfalls, um ganz gut davon leben zu können.
Ich warf einen Blick auf das reaktivierte Smartphone. Auf dem Display war das Foto einer schönbrunngelben Villa am See zu sehen, davor Liegestühle mit hübschen, jungen Leuten darin und einer Riesen-Schaumweinflasche im silbernen Kühler auf einem gläsernen Beistelltisch. Ich klickte auf „Einstellungen“ und las „Kathys Handy II“. Das inoffizielle. Genau das, wonach ich gesucht hatte. Mein Herz zuckte aus. Schweiß rann über das ganze Gesicht. Meine Hände begannen zu zittern. Das Handy enthielt tausende Fotos. Mehrere hundert Dateien mit Audioaufzeichnungen und einige Videos, die sich beim ersten Durchsehen als harmlos entpuppten. Aber ich ahnte bereits, mit diesem Handy weitere Mosaiksteine bekommen zu haben. Vertrauliche Hinweise, die mir erklären konnten, warum diese angeblich so makellose Familie bei Nacht und Nebel abgetaucht war. ♦