Unveröffentlichtes

 

Andawörld

Roman

Teil 1 – C’era una volta: il sud ...
Ich bin gerade vierzehn geworden, aber keine Glückwünsche bitte: an diesen Geburtstag möchte ich mein Leben lang nicht mehr erinnert werden. Er war eine Katastrophe. Ein Desaster. Das größte anzunehmende Unglück. Der Supergau. Eigentlich reicht kein Wort dafür aus, um diesen Anti-Event zu beschreiben.

Dabei hatte alles richtig nice angefangen. Die Ausgangssituation war perfekt: Vater und Ersatzmutter nach Hamburg geflogen. Der doofe Halbbruder bei den Großeltern. Niemand würde zuhause sein – außer die Hauskatze, und vor allem ich. Das ganze Wochenende lang. Genau zu meinem vierzehnten Geburtstag. Es war die Gelegenheit schlechthin – jetzt oder nie!

Ich versuchte die Party so gut wie möglich zu planen: bunkerte Bier, legte (für die Girls) zwei Kartons Billigsprudel beiseite und organisierte über mein dubioses Kumpels-Netzwerk eine Ladung Wodkaflaschen, ganze 16 Stück von 15 unterschiedlichen Marken. Dazu Dutzende Pringles-Rollen, Butterkekse, Schokolade, ich gab mein ganzes Taschengeld für drei Monate im Voraus dafür her – alles für diesen einen guten Zweck: meine Mega-Geburtstagsparty. Der Laptop war an die Hausanlage angedockt, Sonos und Spotify-Playlists überall, gta v auf dem Riesenscreen im Wohnzimmer.

Und dann die Einladungen: auf WhatsApp, auf Signal, auf Kik, auf Snapchat, Tiktok und Instagram, auf all meinen Accounts. Nicht nur an die üblichen besten Freunde – nein, an alle. An die ganze Welt da draußen. Ich plante etwas Großes, den geilsten Flashmob aller Zeiten, zumindest hier in dieser öden Kleinstadt in Kärnten.

Ich hoffte, mindestens 1000 Leute würden unser verdammtes Grundstück stürmen. Darunter 800 leicht bekleidete Mädels. Unter oder über 18 egal. Hauptsache w – wie weiblich und willig und was-weiß-ich-was. Drei Tage vor dem Riesenereignis hörte ich auf mit dem Wichsen. Duschte mich freiwillig fünfmal am Tag. Klaute Papa eine halbe Flasche Parfum aus dem Schrank (okay, es war nur Rasierwasser, aber es roch nach der Großen Welt jenseits der Karawanken, nach Männern mit Durchblick, nach allen anderen als mir jedenfalls). 150 Avatare sagten zu, 300 Trolle waren interessiert – auch wenn nur die Hälfte davon anrollte, wäre die Party perfekt. Der Ablauf der Feierlichkeiten war richtig geplant: Zuerst allgemeines Herumhängen, Musik hören und zocken, ein paar Longdrinks reinkippen und dann ab in die diversen Zimmer des Einfamilienhauses. Der Rest würde eine Orgie in wogenden Fleischfarben sein. Zumindest in meiner schrägen Fantasie.

Am Freitag fuhren die Ellis weg, die Großeltern holten meinen Halbbruder ab – und ich war endlich allein. Bereitete alles vor, brachte mich in Hochform. Sogar das Wetter war top an diesem Samstag im März. Keine Wolke am Himmel. Sie würden in Scharen kommen, die partysüchtigsten Wichser der Welt. Und zu allem bereite Mädels bis an die Decke hoch. Ich hatte nichts zu verlieren, außer meine verdammte Unschuld. Und die konnte die ganze Scheißwelt da draußen haben. For free.

Leute, ich mache es kurz.

Niemand kam, zumindest niemand, der es wert gewesen wäre zu kommen. Nur die üblichen acht traurigen Leute. Kevin, Mohammed und noch ein paar Verlorene aus meiner Klasse, dazu die zwei hässlichsten Mädchen der Kleinstadt. Die eine roch nach Nudelsuppe und die andere hatte vor wenigen Tagen zwei Schneidezähne verloren. Die einzig geile Person auf der Party war Jonathan a.k.a. Johnny, sechzehn Jahre alt, aber so schwul wie Miami South Beach.

Um sieben Uhr abends war allen klar, dass sie auf der lahmsten Party der Welt waren. Die Pringles-Rollen und die Butterkekse waren trotzdem irgendwann alle. Kurz vor dem Hauptabendprogramm kamen noch zwei Typen, die aussahen, als hätten sie monatelang in einem Müllcontainer geschlafen. Sie waren mindestens 19 Jahre alt und soffen alle Wodkaflaschen leer. Dann kotzte der eine den wertvollen Teppich im Wohnzimmer voll und der zweite randalierte im Flur. Wer noch ein bisschen bei Trost war, floh vor dem Chaos bevor die Polizei kam: in drei Streifenwagen mit Blaulicht und Folgetonhorn, immerhin. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr standen mehrere Cops mit gezogenen Pistolen im Wohnzimmer. Da ich vierzehn Jahre und zwei Tage alt war, hagelte es gleich ein paar Anzeigen. Der Postenkommandant rief meine Alten an, und deren Wochenende in Hamburg war auch noch versaut.

Gegen dreiundzwanzig Uhr war ich der meist gehasste Mensch auf diesem Planeten. Die Stimmen meiner Erziehungsberechtigten überschlugen sich vor ohnmächtiger Wut auf den verdammten vierzehnjährigen Sohn. Kein Taschengeld mehr in den nächsten zwei Monaten, Hausarrest und Internetsperre. Keine Freunde mehr nachhause bringen, nur noch lernen. Rund um die Uhr lernen. Du bist eh so ein mittelprächtiger Schüler. Schäm dich gefälligst.

Hmmm (Das ist übrigens mein Signature-Laut, der im Verlauf dieser Geschichte noch ziemlich oft vorkommen wird).

Knapp vor Mitternacht hatte ich die schlimmsten Spuren beseitigt. Jonathan hat auch mitgeholfen, obwohl er im Aufräumen nicht besonders gut ist. Eigentlich hat er mich die ganze Zeit nur angeschaut und mir dabei billige Komplimente gemacht. Irgendwann kam er mit ins Schlafzimmer, und den Rest brauch ich euch nicht zu erzählen. Ihr könnt euch die Kirsche auf der Torte des Desasters selber ausmalen. Auf dem Doppelbett meiner Ellis habe ich meine Unschuld verloren. Ausgerechnet an Jonathan. Geblutet hat es auch noch, und Flecken gemacht. Braune, rote und weiße Flecken. Ich habe die Deckenleuchte angestarrt und Jonathan stöhnen gehört. Wenigstens er hatte seinen Spaß.

Wenigstens er.

Was für ein verdammter Opener, werdet ihr denken, was für eine verschissene Party, was für ein trauriges Ereignis. Trotzdem ist es mein Geburtstag gewesen. Der vierzehnte, aber egal. Nicht mehr der Rede wert. Mit der Zeit verblasst auch die größte Niederlage. Außer wenn Geo auf dem Stundenplan steht, oder Mathe oder Info oder ein anderer Gegenstand, der mich bis zum Geht-nicht-mehr langweilt. Dann träume ich mich vor mich hin und sehe aus dem Nebel des Vergessens die Bilder aufsteigen, die verschrammten Bilder einer vollkommen danebengegangenen Party.

– Weißt du, wie die Hauptstadt von Bulgarien heißt?

Ich schrecke aus den Trümmern des Geburtstagsfestes hoch: umgekippte Wodkaflaschen, das Nudelsuppenmädchen und das Girl ohne Schneidezähne, die obdachlosen Säufer von der Müllhalde und der Polizeieinsatz, die aufgebrachten Stimmen meiner Ellis (live aus Hamburg dazu geschaltet) und das Schmatzen hinterher im Schlafzimmer. Als ob mein Halbbruder da wäre und Schokoladeriegel mampfen würde. Dabei wurde ich nur von Johnny gefickt. Im Doppelbett meiner Alten.

– Welche Hauptstadt, welches Bulgarien? – Keine Ahnung.
– So heißt sie leider nicht.

Die Lehrerin mustert mich wie einen Scheißhaufen auf dem Gehsteig. Unter ihrem abfälligen Blick fühle ich mich minderwertig und winzig klein. Mein Sitznachbar Kevin deutet auf die blonde Klassenbeste in der ersten Reihe ganz außen. Eine Zicke mit adretter Kleidung, dicken Gleitsichtbrillen und einer Manie zur Besserwisserei.

– Hmmm, Sofia? (Jede Wette, dass jetzt gleich ein Donnerwetter losbricht).

Die Lehrerin strahlt.

– Gut gemacht, mein Lieber.

Mein Lieber – dass ich nicht lache. Ich bin der größte Gangster bei gta v, falls ihr überhaupt schnallt, was das ist. Wahrscheinlich will mich die alte Brillenschlange einfach verarschen: Eine Hauptstadt, die nach der größten Streberin auf dem Planeten benannt ist? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Aber was ist schon normal mit vierzehn?

Immerhin kriege ich ein kindisches Sternchen ins Mitteilungsheft. Ein Achtungserfolg. Auch wenn mir Kevin dabei geholfen hat. Aber egal: Sternchen ist Sternchen.

In der Pause zocken am Handy. Eigentlich starre ich seit dreieinhalb Jahren mehr oder weniger permanent auf Spielkonsolen und Displays. Ab und zu gerät noch ein Mensch dazwischen: mein Vater zum Beispiel. Oder mein Stiefbruder, der Dolm. Meine richtige Mutter nie, die ist vor zwei Jahren wieder nach Neapel zurück gegangen. Scheidung auf Italienisch. Oder so ähnlich. Mich hat sie wie einen Jutesack hier in der Kärntner Pampa gelassen. Lieber wäre ich mit ihr nach Kampanien gezogen: laute coole Leute dort, alle saufen Wein, rauchen Kette und sind Tag und Nacht mit ihren Motorini unterwegs. Also diesen lauten Mopeds, mit denen man noch in der engsten Gasse voll mobil bleibt. Damit fährst du jedem Carabiniere davon. Fast jeder Junge ab 10 Jahren hat so ein Ding. Wäre echt steil, jetzt in Neapel zu sein. Auf die Schule wird dort sowieso meistens geschissen.

Hier bei uns leider nicht. Ganz im Gegenteil. Das hat auch mit Papas neuer Ersatzfrau zu tun. Dieser Angela aus Hamburg. Eine totale Schreckschraube und Spaßbremse. Ich war noch nie in Hamburg, aber diese Stadt muss das komplette Gegenteil von Neapel sein. Kalt, windig, reich, doof. Mit dem schlimmsten Futter der Welt: eingelegte Heringe, Eintöpfe, Linsengerichte. Minderes Zeug, das nie im Leben an eine Pizza Margarita heran reicht. Und erst recht an keine Pasta. Hamburg, Labskaus und Matjesfilets – ich könnte heulen vor Wut.

Angela übersetzt dicke Wälzer ins Deutsche. Das bringt zwar wenig Kohle ein, aber dafür ist sie – wie heißt das noch – gebildet. Genau. Und verlangt das von jedem in ihrer Umgebung. Daher auch von mir. Schule ist wichtig. Superwichtig. Für dich, für das Leben, für Was-weiß-ich-was. Du kannst der letzte Wichser Österreichs sein, Hauptsache, du kennst die Hauptstadt von Bulgarien. Leute, ich bin dabei. Für zwei Sekunden. Danach geht die Leier vom ewigen Büffeln wieder los. Ich bin voll schlecht in der Schule. Das Problemkind. Mit den langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen. Im Sommer wird meine Haut richtig dunkel, obwohl ich kaum in der Sonne bin. Dann sagen Kevin und seine Freunde Asylantensau zu mir und kriegen dafür ein paar in die Fresse. So läuft das bei uns ab¬: bei der geringsten Kleinigkeit gibt es eine 1-A-Keilerei auf dem Schulhof.

Angela hat noch was mitgebracht aus Hamburg – etwas das hier gar keiner braucht. Am allerwenigsten ich. Der mickrige Zwerg heißt Sven, ist zehnkommafünf Jahre alt und altklug wie ein zerfleddertes Lateinbuch. Natürlich hat er eine Brille, so dick wie die Glaswand im Hallenbad. Und einen megahohen IQ. Kann alles, weiß alles – und verpetzt jeden. Mich alle paar Minuten zum Beispiel. Scheint seine Hauptfunktion als Stiefbruder zu sein. Seit Sven bei uns haust, ist die Gestapo bei uns. Jede gerauchte Menthol-Zigarette, jedes Herumwichsen, jeder Fluch, jeder Schluck Alkohol – wird alles von diesem Geheimpolizisten aus Hamburg registriert und an die Erziehungsberechtigen weitergeleitet. Jedes Frühstück, jedes Mittagessen, jedes noch so harmlose Beisammensein gerät zum Spießrutenlauf.

– Wisst ihr schon, was DER (rechter Zeigefinger in meine Richtung gereckt) wieder angestellt hat?

Dann folgen meine Heldentaten auf anders herum. Aus seinem Kindermund klingt alles richtig pervers. Mit der Stimme muss auch mein Gehirn entzweigebrochen sein. Ich komme mir vor wie ein minderjähriger Psychopath, der vorläufig noch frei herumlaufen darf. Nicht mehr lange, wenn der zehnkommafünfjährige Gnom weiterhin jede meiner Eskalationen mit der Genauigkeit eines Seismographen registriert.

Mein Vater nimmt das Ganze weniger tragisch. Eigentlich nimmt er überhaupt nichts ernst. Hauptsache, die Leute in der Kleinstadt kaufen seine verdammten Zweiräder. Ich glaube, er führt das Geschäft in der Bahnhofsstraße nur deshalb, um finanziell über die Runden zu kommen. Lieber würde er den ganzen Tag auf seiner orangeschwarzen Harley-Davidson in den Nockbergen herum düsen und dabei Motörhead hören. Der große Vorsitzende von denen ist zwar schon vor einigen Jahren abgekratzt, aber Motörhead sind immer noch ziemlich laut. Sehr laut sogar.

– Papa, stell bitte das knatternde Motorrad ab.
– Hey Junior, das ist “No Sleep till Hammersmith”, live aus der Stereoanlage.

Der Krach hört sich genau so an: wie fünf Tage durchmachen und sich nicht einmal waschen dabei. Irgendwie ist mein Vater schon Klasse. Den treibt nichts so schnell in den Wahnsinn. Nicht einmal seine Zweitfrau Angela aus Hamburg. Die Übersetzerin mit der schrillen Stimme. Einen Doppelnamen hat sie auch. Und ständig Migräne. Ihr Leben muss kompliziert sein. An ihrer Stelle würde ich es mit einer Überdosis Rudelbumsen probieren. Die Bachblütentherapie hätte da keine Chance mehr.

Der zehnkommafünfjährige Stiefbruder plärrt los wie eine Heulboje, was heißt wie eine, wie mindestens fünfzig.

– Rudelbumsen, er hat Rudelbumsen gesagt!

Der ausgestreckte Zeigefinger deutet noch immer unmissverständlich auf mich. Meine Blicke könnten jetzt jemanden locker umbringen, und wahrscheinlich ahnt ihr schon, wen. Fürs erste kriegt Sven einen mittelstarken Klaps auf die kostbare Gelfrisur, vom Style her Justin Bieber für den Kindergarten. Großes Geschrei. So läuft das ab bei uns jeden Tag. Eine irre Sitcom für Unterbelichtete. Die sonst kein anderes Publikum haben.

Die einzige Vernünftige in diesem Sauhaufen ist meine Schwester Teresa. Sie ist schon 20 Jahre alt, also richtig erwachsen. Sieht wirklich gut aus, wenn man auf Ältere steht. Dunkelblonde Locken – die Haarfarbe vom Papa, die Naturwellen von der Mama, wie sie sagt. Teresa lacht dauernd. Sie kann gar nicht anders als lachen. So richtig aus dem Zwerchfell heraus. Total nice irgendwie. Ich habe es auch probiert, aber davon nur Bauchweh gekriegt. Mein Lachen glaubt mir sowieso keiner. Ich bin 14 und muss eine Million Probleme haben. Was heißt eine Million, eine Milliarde. Zig Trilliarden von Problemen.

– Mama, er hat schon wieder was Unanständiges gesagt.
– Sven, krieg dich ein.

Teresa lacht los und alle lachen mit. Sogar ich. Lachen ist ansteckend. Wie Grippe oder der Tod. Nur auf halblustig eben.

*

Meistens halte ich sowieso die Klappe. Schweige wie ein Fisch vor mich hin. Habe den Kapuzensweater auf, sehe niemanden an, keiner soll mich anstarren. Natürlich passiert genau das Gegenteil. Alle mustern mich verächtlich, weil ich nicht mit hübschem Gesicht und zurecht gestriegelten Haaren aufkreuze. Ich habe mich damit abgefunden, eine einzige Beanstandung zu sein: deine Fingernägel, deine Frisur, deine dreckigen Jeans – na und – passt alles wunderbar zu meinen Gedanken. Seit einem Jahr bin ich noch dazu dauergeil. Als ob mir ein Unbekannter Cialis in den Tee kippen würde, und zwar zehn Tabletten täglich. Es ist echt verhext: ich sehe noch immer wie ein unzurechnungsfähiger Junge aus, aber im Runterholen bin ich Landessieger in der Profiklasse U16. Danach kommt die erste Freundin, hoffentlich. Oder die Gummipuppe. Oder die Klapsmühle. Oder alles auf einmal.

Ich habe Euch noch gar nicht mein Zimmer gezeigt, Leute. Mein Zimmer und davor noch mein BTX-Bike. Das Rad hat eine grasgrüne Lackierung und sieht richtig gefährlich aus. Man kann absolut jeden Scheiß damit machen. Sich tausendmal um die eigene Achse drehen, eine Treppe Vollgas hinunterfahren oder die steilsten Waldpfade in Null-komma-Nix absolvieren – alles kein Problem mit dem Bike. Tausend Prozent geländegängig, und das muss es auch sein. In unserer Einöde gibt es nur Gelände und sonst gar nichts. Komische Gegend. Ein paar Spinner machen hier sogar Urlaub (meine Ersatzmutter ist auf diese Weise hier gestrandet), aber egal. Sobald ich 18 bin, haue ich ab. Möglicherweise schon vorher. Eigentlich kann ich es gar nicht erwarten, dieser verdammten Kleinstadt den Laufpass zu geben.

Mein BTX ist trotzdem cool. Ich kann schon einige Kunststücke damit – vielleicht führe ich sie Euch einmal vor, wenn ich Zeit habe. Aber wann ist schon Zeit für die wirklich wichtigen Dinge? Ich bin zwar noch in der Unterstufe (was für ein erniedrigendes Unwort), aber mein Terminkalender könnte der von einem Manager sein: nach der Schule warten Gitarre-Stunden, der Tischtennis-Verein oder schnöde Bastelkurse auf mich – und was die Umwelt noch so alles vorhat mit mir. Jede Menge Arztbesuche zum Beispiel, Zähne regulieren und so. Mein Outlook-Kalender ist angefüllt mit Serienterminen und geblockten Nachmittagen, und wehe, ich lösche irgendwas davon. Dann gehen die Sirenen am Frühstückstisch im Dauerton los.

Mit dem Bike brauche ich höchstens fünf Minuten in die Schule, ich kann also gemütlich zehn Minuten vor dem ersten Läuten los radeln. Nach dem Unterricht benötige ich dagegen eine gute Stunde retour (kleiner Zigarettenaufenthalt im Stadtpark, über das große Leben schwadronieren und so). Den allergrößten Stressfaktor habe ich noch gar nicht erwähnt: meine 10.000 Messages muss ich auch irgendwann schreiben. Dazu Selfies machen und auf Instagram stellen. Im Schnitt kriege ich drei Likes dafür. Ich bin nicht gerade der Blogger-Star. Obwohl ich meine Haare andauernd style, jeden Tag in eine andere Richtung. Dazu löchrige Jeans, löchrige T-Shirts, löchriges Hirn. Irgendwie sehe ich alle paar Stunden anders aus. Vielleicht auch, weil ich gerade wie verrückt wachse: 1.65 – 1.69 – 1.73 – 1.76 – du kannst mir dabei richtig zusehen. Mein Vater ist 1.90cm. So groß will ich eigentlich nicht werden. Drei Zentimeter noch, so knappe 1.80 reichen. Vor allem bei 55 kg Gewicht.

Wie durch Zauberhand verändert sich gerade alles bei mir: der Rumpf, die Hände, die Nase, der Kopf, die Zehen. Vielleicht sogar auch die inneren Organe, das Gehirn, die Leber, die Lunge, das Herz. Richtig spooky ist das. Meine Stimme kiekst erbärmlich, ich bin geil hoch zehn, und mein Körper schnellt in die Höhe wie eine fleischfressende Pflanze. Voriges Jahr war ich noch 155 cm und der Liebling der Lehrer. Jetzt bin 176 und eine Art Eremit oder Aussätziger geworden. Ich habe auch nur wenige Freunde: Jonathan, Mohammed und vielleicht noch Kevin. Kein Mädchen weit und breit. Erst dreimal geknutscht, und das war mit einer Cousine in Neapel.

Vielleicht erbarmt sich ein Mädchen, wenn ich 25 bin und ein schnelles Cabrio habe. Oder zehntausend im Monat verdiene. Bis dahin ist es noch ziemlich weit: ich bekomme zwar 60 Euro TG im Monat, aber die brauche ich komplett für mich selber. Außerdem hat mein BTX nur einen Sitz. Also laufe ich solo herum. Bis ans Ende meiner Teenagertage. Zum Nasenbohren, zum Wichsen und zu unendlicher Langeweile verdammt.

Womit wir in meinem Zimmer wären – endlich. 15 Quadratmeter Einsamkeit, direkt unter dem Holzdach. Bett (90cm schmal – außer mir, dem Smartphone und einer Dose Pringles passt niemand hier rein), Schrank, Schreibtisch, Laptop, Gitarre (eine billige Fender), Skateboard (eigenhändig in mindestens 200 Farben besprayt) und jede Menge herumliegender Kleidungsstücke. Seit 3 Monaten bin ich selbst für mein Zimmer verantwortlich (eine von Angelas Erziehungsideen) – und so sieht es auch aus. Genau wie mein Innenleben: alles liegt planlos herum, im ganzen Chaos finde ich nichts mehr, und manchmal komme ich mir hier selber abhanden. Halb so schlimm, weil ich fast immer dasselbe Zeug trage: schwarze Jeans, schwarzen Sweater, schwarzes T-Shirt, schwarze Socken (obwohl die einmal weiß waren, glaube ich halt).

Irgendwo müssen noch Kehrrichtschaufel und Besen herumliegen, aber vielleicht habe ich diese Tools auch schon unabsichtlich entsorgt. Eine Kanalratte würde sich hier extrem wohl fühlen. Ein Mädchen dagegen auf der Stelle ohnmächtig werden. Vielleicht sogar praktisch, weil ich dann etwas anstellen könnte mit ihr. Mädchen reden sonst immer zu viel, und meistens das Falsche. Außerdem wissen sie nie, wer in der Bundesliga ganz oben ist. Kennen Arnautovic nicht. Halten West Ham für eine Art Wurst. Umgekehrt kenne ich mich in der Mädchenwelt ebenso wenig aus: Ist Balenciaga nicht eine Sängerin aus Haiti? Miss Sixty die dicke schwarze Gouvernante aus dieser Netflix-Serie? Und Blütenscheu ein Insektenvertilgungsmittel? Mit dem blöden Reden kommen wir also nicht weit.

Irgendwie bleibt mir ohnehin nur das Eine übrig: was man auf Youporn so anstarren kann, wenn der Kinderfilter einmal abgedreht ist. Bei uns passiert das so gut wie nie, dafür sorgt schon der Hamburger Geheimdienst. Zum Ausgleich präsentiert mir Kevin seine Errungenschaften aus dem Darknet am Handy. Aufblende: ein Schwein auf der Wiese. Und ein Typ mit einem Riesenständer daneben. Meine Pupillen weiten sich und werden groß wie Mühlräder: das Schwein, der Typ, der Typ im….

– Kevin, was ist das für ein Schweinekram?
– Ziemlich abgefahren, oder?

Hinterhältiges Lachen in drei Tonarten zugleich. Stimm- und Hirnbruch in einem. So etwas ist mein drittbester Freund. Kein Wunder, dass ich bin zur Matura für Mädchen gesperrt bin.

*

Es ist jetzt fünf Uhr nachmittags, und ich habe eine knappe Dreiviertelstunde für mich ganz allein. Auf WhatsApp warten 121 ungelesene Nachrichten auf mich, auf Instagram 15 und auf Snapchat gar nichts. Facebook haben nur noch die Alten. Ich forste das Ungelesene durch, aber nach den ersten drei Messages lösche ich alles. Lege das Smartphone weg. Starre an die Decke. Durch das Fenster dringt das Sonnenlicht herein und erhellt die versaute Bude. Im Lichtkegel sind eine Million Staubfussel zu sehen. Die Zeit ist irgendwie stehen geblieben. Es scheint nie wieder später zu werden als 17.13 Uhr.

Obwohl die Zeit still zu stehen scheint, sind jede Menge Hausaufgaben zu machen. Mathe-Info-Englisch-Deutsch-Geo – warum schlägt keine Luft-Boden-Rakete in der Nachbarschaft ein und löscht uns einfach alle aus? Der amerikanische Präsident scheint etwas Ähnliches vorzuhaben. Komm, mach schon, alter Mann! Erkläre Mittelkärnten den Krieg. Du brauchst nicht einmal sagen warum, greif uns einfach grundlos an. Ich warte noch zehn Minuten. Leider hat #therealtrump im Moment Wichtigeres zu tun als Raketen in unseren Vorgarten zu schicken: Golf spielen zum Beispiel. Es ist einfach auf niemanden mehr Verlass.

Das Smartphone winselt wie ein verhungernder Zwergpudel. Mein älterer Kumpel Jonathan meldet sich via Kik und will Tel-Sex mit mir machen. Er hat sich nackt in sein Zimmer gesperrt und lächelt erwartungsvoll mein Pixelbild an. Ich erstarre zur Salzsäule und lege mir hundert Ausreden zurecht.

– Komm, sei kein Frosch. An deinem Geburtstag warst du richtig süß.
– Sorry Johnny, aber ich muss in zehn Minuten zum Gitarrenunterricht. Und habe noch nicht einmal etwas geübt dafür (wenn jetzt der zehnkommafünfjährige Fähnrich des Deutschen Bundeskriminalamtes hereinkäme, dann gute Nacht!).
– Macht nichts, du geiles Ferkel.

Ich denke an den fetten Kerl mit dem Wollschwein auf Kevins Smartphone. Und vertröste Jonathan auf zehn Uhr abends. Wenn hoffentlich jeder Idiot die letzte Viertelstunde des Champion-League-Viertelfinales verfolgt. Ich hoffe, dass es nie 22 Uhr werden wird. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht, denn ich habe eine Vision: ein Meteor so groß wie Zentral-Liechtenstein wird heute Abend unsere verdammte Kleinstadt auslöschen – während ich im Gitarrenkurs einen uralten R.E.M.-Song vorzupfen muss: g-c-d-g-c-a….piuuuuh, bääääng! Etwas großes Orangefarbenes leuchtet auf, ich sehe noch eine riesige Feuerwalze auf mich zukommen, und dann ich bin ich nur noch ein Häufchen Asche: verbrannte Geschichte.

– Zieh dich jetzt trotzdem aus.

Es ist 22 Uhr geworden, all meinen Hoffnungen auf das Jüngste Gericht zum Trotz. So ist Jonathan eben, vor allem wenn es später Abend geworden ist. Ich seufze und mache das, was er will. Aber nur dieses eine Mal. Ausnahmsweise. Weil du es bist. Scheiße.

Ein anderer Freund von mir heißt Mohammed. Wie dieser Prophet in Korea. Oder heißt es Koran? Mohammed hat jedenfalls die gleichen schwarzen Haare wie ich, das verbindet uns irgendwie. Seine Haut ist aber viel dunkler als meine. Als ob er in Kaffee gebadet hätte. Mohammed kommt aus Syrien, diesem Bürgerkriegsland. Im Fernsehen zeigen sie oft zerbombte Ruinen davon. Jedenfalls ist dieser Kumpel Muslim. Das bedeutet, wir müssen nach der Schule zum „Lustigen Kalifen“ gehen – und dürfen nicht in „Rudis Leberkäshütte“. Die Kebabs beim Kalifen sind so scharf gewürzt, dass einem das Maul brennt davon. Was uns aber nicht abhält, das große, verdammte Leben zu besprechen. Meistens das Leben der anderen Leute.

Mohammeds Vater repariert kaputte Schuhe oder kopiert verloren gegangene Schlüssel, aber in Syrien war er Arzt. Leider ist ihm in diesem Bürgerkrieg alles abhandengekommen: die Papiere, die Wohnung in Aleppo, der eigene Kleinwagen, Kleidung, Geld, einfach alles. Sogar Mohammeds kleinere Brüder, die vor dem Haus ahnungslos mit einer Tretmine gespielt haben. Ein gigantischer Böllerknall, und die kleinen Körper waren über die ganze Straße verteilt, wie in einem Splatterfilm, nur dass alles verdammt echt war. Mega spooky. Kaum zu packen für mich Wohlstandsverwahrlosten (ich esse den Kabab trotzdem auf, irgendeine dunkelrote Sauce tropft auf mein T-Shirt, aber nicht so schlimm, weil es eh schwarz ist).

Nachdem Mohammeds Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war, sind der Vater und der übrig gebliebene Sohn aus Syrien abgehauen. Zuerst in die Türkei hinüber, dann nach Bulgarien (die mit der Streberinnen-Hauptstadt Sofia), Serbien, Kroatien, Slowenien, und schließlich über die grüne Grenze (wahrscheinlich ein Wald) nach Österreich. Also zu uns. Hierher in diese verdammte Kleinstadt. Keine Ahnung warum. Nach dreitausendzweihundert Kilometer Fußmarsch fragt man nicht nach dem Warum. Vielleicht hat es das Schicksal so gewollt. Oder Allah. Oder beide.

Die österreichische Regierung jedenfalls nicht. Die will Mohammed und seinen Vater wieder los werden. Warum weiß keiner. Zumindest habe ich keinen blassen Schimmer wieso. Mohammed ist intelligent, hilfsbereit, nett, das komplette Gegenteil von Kevin und mir und der ganzen übrigen Brut. Ohne ihn hätte ich die letzten drei Mathe-Arbeiten nicht geschafft, und die zwei in Info schon gar nicht.

Dafür schreibe ich ihm die Aufsätze in Deutsch. Bin also Mohammeds Ghostwriter. Bis jetzt hat das keiner gemerkt. Weil ich ein paar arabisch aussehende Kringel an den Blattrand male (ich kann meinen Namen und zehn Flüche in Aramäisch hin kritzeln) und eine dosierte Menge Rechtschreibfehler begehe. Für einen Dreier reicht es auf jeden Fall: Inhalt super, äußere Form der schriftlichen Arbeiten so lala, die Rechtschreibung hart an der Erträglichkeitsgrenze. Das Ganze nennt man Strategie oder so. Tarnen und Täuschen.

Mohammed hat einen IQ von 160 – wie bei einem Massenpsychotest festgestellt wurde (meiner war gerade mal 119). Trotzdem (oder wahrscheinlich deswegen) wird der Junge jede Woche verprügelt. Weil er verdammt intelligent ist, eine dunkle Haut hat, aus Syrien stammt und nicht einmal das Bleiberecht hat. Was immer das ist. Von mir aus kann Mohammed hundert Jahre bei uns bleiben. Eher würde ich Kevin und die tausend anderen Grenzdebilen aus unserer Schule nach Syrien verfrachten. Kleine Wutbürgerzellen aufbauen dort unten. Als ob die dort nicht schon genug Bürgerkrieg hätten.

Bevor die Fremdenpolizei anrückt, wollen wir beide abhauen: Mohammed und ich. Das ist jedenfalls unser Plan. Einer unserer Pläne. Am besten nach Neapel. Zu meiner Mutter und den dreihundert Cousins, die alle Kette rauchen, auf die Schule scheißen und Millionen von Schimpfwörtern kennen. Neapel ist echt geil: richtig schön dreckig und voller Lärm, ein bisschen wie Afrika, aber aufpeppt mit Pizza, Pasta und Rotwein. Blöderweise darf Mohammed keinen Alkohol trinken, ich eigentlich auch noch nicht, aber ich scheiß drauf. Bis jetzt habe ich schon drei Riesenräusche gehabt: alle bei einem Feuerwehrfest. Bier, rote Spritzer und eine Art Nusslikör. Zuerst wirst du geil, dann redest du wie ein Wasserfall und zum Schluss schläfst du zwischen Traktorreifen und Kuhfladen ein. Mit vollgepisster Hose. Ein Anblick für Götter. Mohammed lacht. Ich grinse dreckig. Wir teilen uns eine Cola und sehen einander tief in die Augen, als ob dort ein Geheimnis geparkt wäre. Aber das ist keins. Oder eines, das ich noch nicht verstehe.

*

Der Hunger vertreibt mich aus meiner Müllhalde unter dem Holzdach. Es ist Sonntag, der absolut schlimmste Tag der Woche: alle treffen sich in der Wohnküche, so mittelmäßig heraus geputzt noch dazu (mit einer Ausnahme: ich in meinem schwarzen Selbsthass-Outfit). Mein Vater, der Zweiradhändler, seine neue Lebensabschnittspartnerin aus Hamburg, der zehnkommafünfjährige Dolm von Stiefbruder, der noch dazu Sven heißt, also wirklich. Und meine richtige Schwester namens Teresa. Ohne „H“. Nach Teresa de Sio, der Lieblingssängerin unserer neapolitanischen Mamma – mit Doppel-m natürlich, sonst gilt’s nicht. Wir fünf passen ungefähr so gut zusammen wie Würstchen, Schlagobers, Sellerie, Currysoße und Schokoladentunke. Ein Patchwork aus den seltsamsten Geschmäckern der Welt. Wir vertragen uns kaum, weil wir nicht richtig zusammengehören. Das fängt schon beim Essen an: Heringssalat und Kasseler Rippchen. Der fette Majofisch ist kaum runter zu würgen, und das Hauptgericht sieht aus wie ein Scheißhaufen mit einem großen Fleischbrocken drauf. Kulinarisch das Ende der Welt. Oder der ganze Stolz Hamburgs. Was ungefähr dasselbe ist.

Nach drei Würgeanfällen renne ich aufs Klo und kotze die Muschel voll. Halbwüchsiger Ekel und Trotz können fürchterlich sein. Ich verdrücke ein paar Tränen, weil ich beim Speiben an eine Pizza Margarita denken muss. Und an die Quartieri Spagnoli in Neapel. An meine Cousins, die mit 14 schon alle gefickt haben. Zumindest den Nachbarshund. Nur ich knie hier vor dem Wasserthron und kotze mir sämtliche Därme aus dem Leib.

Das Vanilleeis ist für mich heute gestrichen. Aufgrund meiner Essverweigerung bei der Vor- und Hauptspeise. Papas Ersatzfrau will ihre norddeutschen Prinzipien durchsetzen. Was mit meiner neapolitanischen DNA nicht zusammen passt. Mein Vater schweigt, aber hinterher wird er mir 20 Euro zustecken und sich damit aus seiner Feigheit rauskaufen.

Ich sperre mich in mein Zimmer und starre – wieder einmal – an die Decke. Die Holzlatten dort oben sind schon richtig zerschaut. Ich flüchte mich ins Zocken und werde zum Viertelhelden in einer Online-Zockerrunde von gta v. In der realen Welt wird es Abend, und alle kommen per WhatsApp oder Instagram aus dem Wochenende zurück: Hast du die Mathe-Hausaufgaben gemacht? Und Info gelernt? Für Geo gebüffelt?

Nö, ich habe mir hundertzehn Mal einen runtergeholt. Und an die Holzdecke gestarrt. Acht Butterkeksrollen verputzt. Mitten im Chat fällt mir wieder das Kotzen von heute Mittag ein. Das Hochwürgen von Dingen, die nur in Hamburg für essbar gehalten werden.

– Kocht deine Mutter auch so grauenhaft?

Ich schicke ein paar Beweisfotos auf Instagram los, und der digitale Verbündete ist aufrichtig entsetzt.

– Das sieht ja voll Scheiße aus, Alter.
– Schmeckt auch genauso.
– Du Armer.
– Egal. Immerhin kann ich jetzt „My Hero“ auf meiner Akustikgitarre spielen, und „Boulevard of Broken Dreams“ auch. Den Audio Stream reiche ich nach. Aber ich singe nicht dazu. Meine Stimme bringt seit Wochen keinen geraden Ton mehr heraus. Ist anscheinend in Millionen von Klangscherben zerbrochen. Hmmm.

Es endet immer mit diesem Hmmm. Keine Ahnung, warum. Ist einfach so. Ein Achselzucken, das war‘s. Im Achselzucken gehöre ich auch zur erweiterten Weltspitze. In meinen Kopfhörern wummern Technolab oder so. Eigentlich könnte es ewig so weiter gehen mit dem Butterkeks-Fressen, An-die-Holzdecke-Starren und Am-Pimmel-Herumspielen. Vielleicht noch etwas Zocken dazwischen. Das auf jeden Fall. Meine echte Mamma – die mit zwei m aus Neapel – meldet sich via FaceTime. Ihr fällt sofort auf, dass mein Zimmer seit Tagen oder Wochen unaufgeräumt ist. Inoltre: Deine Haare wuchern nach allen Seiten. Die Fingernägel sind schwarz. Und deine Zähne, deine Haut, die schwarzen Ränder unter den Augen – alles ein Bild des Jammers.

– So wirst du nie ein Mädchen betören.
– Mamma, was bedeutet in-fa-tuare?

Ich höre eine Sintflut an Wörtern, die das umschreiben, was ich mir sowieso längst gedacht habe: bumsen, schnackseln, nageln, ficken – als ob das alles mühsame Handwerksarbeit wäre. Sagen wir lieber betören dazu. Klingt romantischer. Nach einem blonden Mädchen mit langen Zöpfen und guten Noten. Einer Vorliebe für Erdbeereis und Ariana Grande. Ich hätte lieber eine geile Nutte mit Riesentitten for free. Ich glaube, ich lasse das mit dem Betören und widme mich der dreckigen Handarbeit. Spaß macht es keinen, weil ich dabei fast immer einen Krampf in der rechten Faust kriege. Trotzdem starre ich oft auf das Ding zwischen den Beinen: steif, heiß, groß. Also größer als normal. So wahnsinnig groß ist er leider nicht. Kevin, Jonathan und Mohammed haben bereits ganz andere Säulen errichtet.

Den Pimmel anfassen ist irgendwie super und gleichzeitig die totale Niederlage. Das Eingeständnis, dass du allein bist. So richtig allein. Manchmal werde ich so geil, dass ich eine lahme Großmutter im Altersheim anfallen könnte. Und dann vergesse ich wieder Tage lang, den verdammten Pimmel zu traktieren. Zocken ist auch super. Und Leute auf Snapchat verarschen.

Während ich so allgemein über das Leben nachdenke, ist meine echte Mamma vom Smartphone Display verschwunden. Sie redet immer italienisch mit mir, und ich antworte – sofern ich überhaupt antworte – auf Deutsch. Wir verstehen uns trotzdem prima – außer sie bildet sich ein, über meinen Style herziehen zu müssen. Ich finde das megastarke Gel in meinem Emo-Haar super. Weil dann kein Mensch merkt, dass ich seit fünf Tagen ungeduscht bin. Ist auch egal. Hauptsache, ich entkomme den Bullenbrigaden auf gta v und die Butterkekse gehen nicht aus.

Es ist schon Mitternacht vorbei, und der blöde Sonntag ist alle. Ich sollte längst pennen, hänge aber noch immer in einem Chatroom herum. Lauter 14jährige, die in echt über 50 sind – und sich wie Volksschüler aufführen. Ich erkenne sie daran, dass sie Rotwein trinken und keine Ahnung haben, was gta v bedeutet.

*

Der Montag frustet mich an, wie es nur Montage können. Draußen lacht uns die Sonne aus, drinnen in der Klasse ist es Mag. Eisenpichler: Rückgabe der Englisch-Schularbeiten. Ein einziges Schlachtfeld, Waterloo und Culloden zusammen. 15 Nichtgenügend werden verteilt, und ich bin natürlich dabei. Ganz vorne, bei den aussichtslosesten Fällen. Ich starre auf das viele Rot aus der Füllfeder des Englischprofessors und überlege mir Ausreden für zuhause. Nützen wird es nicht viel. Papas Deutsche Ersatzfrau wird ausrasten, und wie. Für sie ist Schule das Allergrößte. Das Allerwichtigste. Das Allerheiligste. Die letzte große Mission. Ihr ganz persönliches Power Up: Panzerung und Lebenskraft zugleich oder so. Auf jeden Fall ein ziemlich dämliches Detox-Programm.

In der Pause muss ich jemanden verprügeln. Ich brauche keinen Anlass dafür, ich habe einfach Bock, meine Faust in einer x-beliebigen Fresse zu parken. Ich suche mir Kevin aus, den Sohn des FPÖ-Bürgermeisters. Er sitzt in Geographie neben mir und spielt dann entweder auf seinem Smartphone oder an seinem Pimmel herum. Call of Duty oder Porno, das ist die Frage. Kevin hasst Ausländer wie sein Vater. Ist das jüngste Mitglied einer Pennäler-Burschenschaft. Säuft Bier wie andere in unserem Alter Seven-Up. Beschimpft jeden Mitschüler als Wichser und holt sich selber fünfmal am Tag einen runter. Ein Nachwuchswutbürger und Ego-Shooter. Will der übernächste Innenminister werden und ist praktisch Analphabet. Das österreichische Schulsystem versagt kläglich bei ihm. Bei mir übrigens auch. Irgendwie bei uns allen.

In der großen Pause gehe ich auf Kevin los. Draußen im Schulhof neben den Mülltonnen. Mein Opening: eine kleine erste Beleidigung. Seine Standard-Antwort: Scheißwichser.

Ein Aufschrei meinerseits, und dann fliegen die Fäuste. Kevin kriegt mächtig was ab und ich auch. Einige Zwölfjährige bilden einen Halbkreis um unsere Keilerei und feuern uns an. Nach dreiminütigem Gefecht trennt uns der Religionslehrer. Meine Unterlippe ist aufgeplatzt, das schwarze T-Shirt mit der Aufschrift „Feuer frei“ ist zerrissen. Kevin hat ein schiefes Maul, ein blutendes Ohr und schielt irgendwie komisch. Nachdem uns die Schulsekretärin notdürftig verarztet hat, stehen wir kleinlaut vor dem Schuldirektor, einem hundert Kilogramm schweren Klumpen aus Vorwürfen und unbeherrschtem Geschrei. Ich halte ein Taschentuch vor dem Mund, und Kevin hat ein Riesenpflaster auf dem Ohr. Sieht wahnsinnig komisch aus, zumindest für uns. Für den Tyrannosaurus Rex vor uns weitaus weniger. Es setzt eine Standpauke vom feinsten. Der fossile Aufreger will alles wissen: wieso, warum, warum, wieso?

– Hmmm (wieder einmal). Keine Ahnung. So halt. Weil Montag ist. Wer mag schon Montage? Ich habe einen Fetzen in Englisch kassiert und musste meinen Frust in Kevins Fresse loswerden.

So einfach ist das. So einfach wie logisch. Finde ich halt. Ich überhöre die Vorhaltungen des Schuldirektors und denke daran, dass ich gestern um diese Zeit gta v in meinem Zimmer gezockt habe. Ich hatte mir Franklins Rolle ausgesucht und wartete mit einem Scharfschützengewehr auf Trevor und Michael, die mit einem geklauten Helikopter zum IAA-Headquarter flogen. Überall auf dem Screen waren Polizeiautos, Flammenwerfer, Granaten, Panzerfäuste – ratterratter-knall-rumsbums, einfach super. Ich war der Nachwuchs-Hero im Spiel. Bis ich von einer schrillen Stimme zu Kasseler Rippchen gerufen wurde. Dem schlimmsten Fressen auf Gottes Erdboden. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen und etwas Konversation mit dem Doppeldoktor hinter dem Schreibtisch zu führen.

– Haben Sie gestern auch solchen Fraß runterwürgen müssen?
– Waaaaaas?

Mist, diese Frage ist mir jetzt einfach herausgerutscht. Die Antwort ist 42. Sagt mein Vater immer. Keine Ahnung warum. Meistens hat er dabei ein dreckiges Handtuch auf der Schulter und streckt den Daumen hoch. Wahrscheinlich irgend so ein Insiderjoke. Die Fünfzigjährigen sind alle plemplem. Hören Motörhead, AC/DC und ZZ Top. Mein Alter zumindest. Wenn ich ihn so anschaue, hört die Pubertät nie auf. Na super. Die nächsten vierzig Jahre werden wohl genauso dämlich verlaufen.

Der Direktor hebt zu einer Klage über den Sittenverfall im Allgemeinen und die Jugend von heute im Besonderen an. Mit letzterer sind wir gemeint: Kevin und ich. Der übernächste Innenminister, der alle Flüchtlinge ausrotten wird, und ich, der anonyme Held aus gta v-LTS (Last Teen Standing). Die allerletzte Version, kurz bevor die Typen von Rockstar North ins Hospiz eingeliefert werden. Ich muss unbedingt nach Schottland fahren. Dort gibt es Whisky, Trolle, Spieleentwickler. Und fassgelagerten Cider.

Der Direktor verdonnert mich zur Mitwirkung bei der nächsten Schultheateraufführung im Herbst. Oh Mann, es gibt nichts Schwindligeres als die hauseigene Laienspielgruppe. Bei der letzten Vorstellung des krassen Ensembles bin ich nach zehn Minuten eingepennt. Ich weiß noch, dass ein Typ aus der Oberstufe an einem Fuchsschweif herumgespielt hat. Das öde Stück hat in einem falschen Wald gespielt und Sommernachtstraum geheißen. Ende Oktober bringen sie „Die Räuber“ heraus. Von einem gewissen Schiller oder so. Vielleicht kann ich da meine Grand-Theft-Auto-Erfahrungen einbringen. Die Räuber, das klingt wenigstens geil kriminell: nach bewaffneten Auseinandersetzungen auf offener Bühne, nach Verfolgungsjagden und Messerstechereien. Vielleicht können wir sogar die bescheuerten Zuschauer als Geiseln nehmen. Ich hoffe, das Drehbuch liest sich einigermaßen spannend. Am besten wenig Dialog, viel Geballer und Action. Eine sehr moderne Inszenierung. Viel Hoffnung auf ein Mega-Entertainment mach ich mir nicht. Der Regisseur ist nämlich der fossile Schreibeutel vor mir.

Kevin hat es allerdings noch schlimmer erwischt: er muss 14 Tage lang Klofrau spielen und jede Verunreinigung auf den Knabentoiletten melden. Dass in der letzten Kabine die Wichse von Wänden herunterläuft oder so ähnlich.

Nach diesem glorreichen Vormittag verlasse ich einigermaßen geknickt das Umerziehungslager und fummle vor der irren Anstalt an meinem grasgrünen Italo-Bike herum. Ein zwölfjähriger Junge sieht mich bewundernd an. Ich erkenne ihn wieder: er ist einer von den Jungs, die Kevin und mich im Schulhof angefeuert haben.

– War echt cool, eure Keilerei.

Es fehlt nicht viel, und der Kleine rollt einen roten Teppich aus für mich. Er sagt, dass er Christian heißt und gern mein Freund werden möchte. Für ihn bin ich der totale Hero: siebenhundert Tage älter als er, mit aufgeplatzter Unterlippe, zerrissenem T-Shirt und hunderten Löchern in der Skinny Jeans, gut die Hälfte von mir reingestanzt. Dazu obszöne Kugelschreiberbotschaften und Airbrush-Flecken. So was von cool. Für einen Zwölfjährigen halt. Ich schaue ihn an, ein bisschen so von oben herab, was nicht allzu schwer ist: 1,76 zu 1,45. Maximal. Ich weiß, dass seine Alten gerade geschieden werden und seine Sis eine der allergeilsten Oberstufenzicken ist, mit Töpfen so groß wie Grabhügel. Was würde ich dafür geben, um nur ein einziges Mal diese Möpse befummeln zu dürfen: meinen linken Unterarm (den rechten brauch ich zum Gitarre spielen, Zocken und Wichsen), drei von meinen vier Jeans, und die letzte Englischschularbeit. Mindestens. Von mir aus eine halbe Pringle‘s-Dose on top dazu.

Ich quatsche ein wenig mit dem Zwerg aus der Zweiten. Irgendwie ganz angenehm. Manchmal tut es richtig gut, wenn man nicht nur als wandelnder Scheißhaufen wahrgenommen wird. Wir teilen uns einen aufgeweichten Schokoriegel und kriegen dreckige Finger davon, die wir uns gegenseitig ablecken. Dann gehen wir die Boy-Liste durch: worauf wir abfahren und was wir auf den Tod nicht ausstehen können. Eigentlich mag ich im Moment so gut wie gar nichts. Christian dagegen voll viel. Er ist noch so begeistert vom Leben. Weiß schon ganz genau was er werden will (Architekt, Pilot oder Rennfahrer).

– Und DU? (Dauernd dieses nervige „Und-Du?“)

Keine Ahnung, kein Plan, keine Perspektive. Nur dieses große Irgendwie im Kopf. Falls ich überhaupt noch einen Kopf habe. Am besten, ich erschieße mich morgen bei den Mülltonnen. Mit einer geklauten Glock. Und einem Magazin aus hundert Patronen. Gta v färbt irgendwie ganz schön krass ab.

– Darf ich noch nicht spielen, sagt Chris.
– Klar darfst du das: wenn du einmal zu mir kommst.

Diabolisches Grinsen und Augenzwinkern. Dann setze ich nach.

– Ich treibe dir das verdammte Kindsein schon aus. In einem Monat wirst du nur noch zocken, dein Zimmer von innen absperren und dir Orgien mit deiner Schwester ausmalen.
– Was sind Orgien?

Bei Christian muss ich ganz von vorne anfangen. Wir gehen zusammen durch die öde Kleinstadt, ich schiebe sogar mein doofes Bike neben mir her. Keine Ahnung warum ich das tue. Vielleicht aus Mitleid oder so ähnlich. Wir teilen uns ein Eis vor dem Bahnhof. Chris leckt die Erdbeerkugel auf, und ich mache mich über die Pistazienseite her. Die Eistüte wandert wie ein Joint zwischen uns hin und her. Irgendwie riecht es nach guter Tat oder Infanterie. War jetzt das falsche Wort, glaube ich, aber egal. In meinem Kopf geistern sowieso nur die falschesten Wörter herum.

Am späten Nachmittag taucht Mohammed bei uns auf. Der Sohn des Schusters oder des Arztes, je nachdem. In Aleppo hat Mohammeds Vater Kiefer operiert, jetzt repariert er halt Schuhe. Neue Sohlen kosten 10 Euro. Oder er kopiert verloren gegangene Schlüssel. Auch für 10 Euro oder so. Mohammed soll mir Mathe beibringen. Mein Vater drückt ihm dafür einen rostroten Schein in die Hand. Wieder so eine 10-Euro-Geschichte.

Mich auf Mathe scharf zu machen ist ungefähr so aussichtsreich wie einen Rollstuhlfahrer zum Stabhochspringen zu überreden. Wir bringen beide nicht die besten Voraussetzungen mit, ich schon gar nicht. Mohammed faselt irgendetwas von Vektoren. Ist das nicht dieses feindselige Pack aus gta v? Ich überlege, ein paar virtuelle Panzerfäuste auf diese verdammten Vektoren los zu lassen. Raahhh wumms! Voll eins in die Vektoren-Fresse. Und noch eins. Und noch zehn weitere Salven. Ich verliere mich in den Weiten meiner dreckigen Fantasie, bis mir Mohammed derb in die Hüften boxt. He, Aufwachen, Faulpelz! Könnte fast die Stimme des schnöseligen Bundeskanzlers sein: Bewegt Euch, ihr Säcke, sonst wird Euch die Mindestsicherung gestrichen.

Ich schrecke hoch. Die Panzerfäuste sind weg. Die Brillantine im Haar, die großen Ohren und der knappe blaue Anzug lösen sich auf, und der blasierte Kanzler hat sich wieder in meinen Kumpel Mohammed verwandelt.

– Weißt du jetzt, was Vektoren sind?
– Hmmm. Hat irgendwas mit Pfeilen und Bewegungen im Raum zu tun. Ungefähr wie so wie Darts. Nur viel langweiliger.

Mohammed sieht mich an wie den Leibhaftigen. Dann beginnt er zu lachen, nimmt einen Zettel aus der Schublade und rechnet mir irgendwas mit drei Unbekannten vor. Der Kugelschreiber gleitet flink über das Blatt und füllt es mit seltsamen Zahlen und Zeichen. Ich blicke immer weniger durch und denke daran, dass ich schon zehn Stunden ohne Grand Theft Auto zugebracht habe – höchste Zeit für den nächsten kriminellen Auftrag vom Boss. Am besten, ich schlüpfe jetzt in die Rolle von Trevor: Einen Lamborghini klauen, ein paar Maschinenpistolen bei einem pockennarbigen Typen in der Hafengegend abholen und sich auf die Suche nach den zwei Tonnen Marschierpulver begeben, die der Boss für seinen illegalen Swingerclub braucht.

– Was kommt da heraus, fragt Mohammed und sieht mir tief in die Augen.

Unter der Schreibtischspitze lauert ein „x“ und ein „=“. Und dann nichts mehr.

– Hmmm, antworte ich, zehntausendzweihundertzwölf?

Ich komme mir ziemlich schlau dabei vor.

Mohammed schreibt eine Quadratwurzel und eine „4-2“ auf das Blatt. Die Antwort ist die Quadratwurzel aus 42. Knapp daneben.

– Du hast ja von Nichts eine Ahnung.
– Hmmm. Kann sein. Vom Nichts allerdings wahnsinnig viel.

Nachdem sich Mohammed seufzend getrollt hat, entert eine Indianerbande mit aufgeregtem Geheul und schwingenden Plastiktomahawks meine Müllhalde unter dem Dachstuhl. Sie nehmen den spielsüchtigen Psychopathen als Geisel und fesseln ihn mit Blechhandschellen. Ich könnte die zwei Nachwuchsindianer (meinen Stiefbruder Sven und seinen schrägen Kumpel aus dem Kinderhort, der wie Schweinchen Dick auf Stelzen aussieht) mit ein paar Tritten über die Holzstiege nach unten in die Diele befördern, aber ich lasse meine Aggressionen im Zimmer liegen, unter all den verwichsten Unterhosen und T-Shirts.

Mein Schicksal endet an einem Marterpfahl im Garten (also der Wäschetrocknerstange). Die zwei Indianer (mit Lippen-, Kajal- und anderen Stiften aus Angelas Schminkkoffer mehr beschmiert als bemalt) tanzen mit lautem Geheul um mich herum und beginnen mich zu martern (anspucken, hintreten, mich mit Papierfutzeln aus Kugelschreiberröhrchen beschießen). Irre präpubertär und doch irgendwie…geil. Gegen meinen Willen kriege ich einen Ständer. Vielleicht bin ich der größte Perverse auf dem Planeten. Wer sonst kriegt, mit Spielzeughandschellen an einen Wäschetrockner gefesselt, einen richtigen Ständer?

Schweinchen Dick spuckt mich an wie ein Lama. Mein Stiefbruder haut mir einige Male mit einem Haselnussstecken auf den Kopf. Irgendwann reicht es mir. Mit einem Ruck breche ich die Spielzeugfesseln entzwei und verhaue die beiden. Während ich auf den beiden Schmalspurindianern kniee und in ihre Weichteile boxe, kommt die Hamburger Bildungsministerin über mich und stellt mich zur Rede: Was fällt dir ein? Mit vierzehneinhalb auf Zehnjährige einzudreschen? Bist du noch zu retten?

– Die zwei Dolme haben aber zuerst angefangen.
– Du bist doch viel älter als sie und solltest es besser wissen.
– Zusammen sind die verdammten Pisser eh schon 21.

Angela hält mir meine Gossensprache, mein ungepflegtes Äußeres, mein ganzes verlaustes Dasein wie ein Sündenregister vor. Meine Einwandbehandlung scheitert spektakulär, und schön langsam beginne mich schuldig zu fühlen. Der eigene Nachwuchs ist einem doch näher als der Volltrottel von Stiefsohn.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich das hämische Grinsen von Sven. Ich nehme mir vor ihn bei nächster Gelegenheit auseinander zu nehmen wie ein verrostetes Fahrrad.

*

– Glaubst du, dass sie Mohammed wirklich abschieben werden?

Ich sitze mit Jonathan auf dem Dach einer Kapelle im Stadtpark und lasse die schlanken Beine ins Leere baumeln. Es ist cool da heroben. Wir können den ganzen Park überblicken. Manchmal werden wir von einer alten Frau angefaucht, weil wir das verdammte Heiligtum entehren. Ich rauche meine fünfte Marlboro und versuche so lässig wie Martin Garrix bei einem Tomorrowland-Auftritt zu wirken. In Wirklichkeit mache ich mich fast an vor dem zahnlosen Geschrei dort unten. Die Alte regt sich auf über die Jugend von heute. Über unsere Schamlosigkeit. Und dass wir alle nicht mehr wüssten, wo das Brot herkäme und so. Irgendwie will das Gezänk gar nicht mehr aufhören.

Wo waren wir noch stehen geblieben, genau: wer zum Teufel will Mohammed abschieben, und wenn ja – wohin? Ich stoße etwa achthundert Ringe hintereinander in die Luft und versuche dabei nicht zu husten. Meine Lunge kapituliert beinahe, aber ich gebe mich gelassen und hoffe, dass ich schön arrogant rüberkomme: as cool as fuck.

– Du schnallst echt gar nichts, lächelt Jonathan und versucht mir wieder tiefer in die Augen zu sehen.

Ich finde Johnny voll okay, aber für so tiefe Jungenblicke bin ich nicht wirklich gemacht. Ich steh doch auf Mädels. Rede ich mir wenigstens ein. Auch wenn mir das beste Stück zwischen den Beinen gerade etwas anderes vormacht.

– Die Bullen, antwortet Jonathan nach gefühlten einhundert Jahren, sie werden Mohammed wieder nach Syrien abschieben. Zusammen mit seinem Dad.

Johnny sagt nie Vater, sondern immer nur Dad. Wie ein amerikanischer Collegeboy, der nur auf trainierte Fleischberge über 40 Jahre abfährt.

– Und wieso, frage ich im Super-Slow-Motion-Modus zurück, als hätte ich keine fünf Marlboros sondern hunderte Joints inhaliert.
– Weil er und sein Dad (schon wieder!) kein Bleiberecht haben.

Wieso sind immer alle, die ich kenne, schlauer als ich? Ich schaue auf meine löchrigen Jeans – vor allem aber auf Johnnys Hand, die sich meinem Sperrbezirk nähert. Ich weiß seit mindestens einem Jahr, dass Jonathan schwul ist. Normalerweise haue ich mich darüber ab wie alle anderen Hetero-Jungs. Man lacht immer gern über etwas, das man nicht kennt oder noch weniger begreift. Bis zu meinem Geburtstagsfest war mir das auch sowas von wurscht. Dann kann die Episode im Doppelbett meiner Alten, und seitdem ist mein heterosexuelles Ich durcheinandergeraten. Mein Körper hat mitgemacht oder wenigstens so getan als ob.

Ich zucke wie gewohnt mit den Achseln und denk mir, dass Johnny doch hin greifen soll, wenn er so drauf abfährt. Fühlt sich gar nicht so mies an. Mein heterosexuelles Ich habe ich längst in den Stadtfluss geworfen. Mädels, ich pfeif jetzt auf Euch: für einen halben Nachmittag werde ich schwul. Mit Jungs ist sowieso alles einfacher: wir wissen so verdammt genau, was wir jetzt wollen. Johnny vor allem: er presst seine Jeans-Schenkel an mich. Die rechte Hand hat bei mir angedockt und beginnt mich zu streicheln. Zum Glück ist die alte Frau nicht mehr da.

Meiner heterosexuellen Erwartung zum Trotz finde ich es geil, auf dem Dach der Martinskapelle ausgegriffen zu werden. Von Bleiberecht und Syrien ist keine Rede mehr. Jetzt geht es richtig zur Sache. Oh, Mann, ich darf gar nicht hinsehen. Johnnys Kopf bewegt sich auf und ab, und dort, wo sonst nur gepisst wird, stimulieren weiche Lippen die fünf Millionen Nervenzellen. Oder was sonst noch dort ist. Das Zentrum der Geilheit wahrscheinlich.

Echt krass, welche Kunststücke so ein verdammter Mund vollbringen kann. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus, und irgendwann passiert genau das, was ich vermeiden wollte: ich komme. Und zwar richtig. Wie in einem Porno für die ganz schrägen Leute. Der Druck aus einem Feuerwehrschlauch ist ein Scheißdreck dagegen.

– Du bist eine geile Sau, grinst Johnny und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab. Natürlich leckt seine Zunge meinen letzten DNA-Rest von den üppigen Lippen.

Ich glaube, er verwechselt jetzt was, aber ich antworte nichts. Am liebsten hätte ich kläglich versagt. Keinen hoch bekommen oder so. An dutzende Mädchen gedacht und ein paar Tränen verdrückt, aber leider war es genau andersrum, wenn ich ehrlich bin. Aber ehrlich zu sein fällt mir seit Jahren schon schwer.

– Wir können es öfter machen, wenn du Bock hast.
– Hmmm, mal sehen.

Für Johnny ist Blasen anscheinend so harmlos wie über Straße zu gehen oder ein Glas Wasser zu trinken. In meinem Stammhirn dagegen bricht schon wieder dieser Daueralarm los: du bist anders, du bist schwul, du wirst nie Bundeskanzler oder Rennfahrer werden. Ich denke an den Kerl mit dem Riesenständer und dem Wollschwein auf Kevins Smartphone. Ich bin schon fast so pervers wie die beiden. Und trotzdem war das Blaskonzert geil hoch zehn. Vielleicht auch nur, weil es auf dem Dach einer geweihten Kapelle war. Ein Anschlag auf Anstand, Zucht und Ordnung zugleich. Verbrechertum pur. Dagegen ist gta v ein Furz auf Wolke sieben oder so ähnlich.

Eine Viertelstunde später ist Jonathans Offenbarung beinahe vergessen. Ich starre wieder gegen die Holzdecke in meinem Zimmer und versuche die Lage zu sondieren.

Fakt ist:
a) ich habe mir von Jonathan einen blasen lassen und dabei wie ein Hydrant gespritzt.
b) In Englisch bin ich eine Doppelnull.
c) Mohammed soll nach Syrien abgeschoben werden. Und
d) auf Kevins Smartphone geistern schweinische Videos herum.

Verrückte Welt. Ich blicke da nicht mehr durch. Vielleicht sollte ich eine Bubenpartei gründen, die sich um unsere wichtigsten Anliegen kümmert: Zocken und Wichsen rund um die Uhr, Butterkekse und Pringle‘s für alle. In einem zweiten Anti-Bildungsschritt würde ich sämtliche Schulen abschaffen. Und das bedingungslose Taschengeld einführen: zweihundert Euro im Monat. Ohne dafür das eigene Zimmer aufräumen oder Teller waschen oder den Müll zur Biotonne bringen zu müssen. Mädchen haben in unserer Partei nichts zu suchen. Vielleicht dürfen ein paar geile Zicken außerordentliche Mitglieder werden, aber nur wenn sie richtig herum sauen mit uns. Meine rechte Hand tastet nach dem Symbol der Jungspartei: der Spielkonsole natürlich.

Auf dem Display (maximal dreißig Zentimeter von meiner Augenstarre entfernt) flimmert der Boss. Er hat wieder einen Auftrag für mich: organisiere mir die 30 Millionen aus dem letzten Drogengeschäft. Davon werde ich dir die Hälfte abtreten. Dann kannst du mit Jonathan und Mohammed für den Rest eures Lebens in der Karibik einen drauf machen – was immer das heißt. Ich bin mir nicht sicher, ob der Boss das wirklich gesagt hat. Aber ich mache mich auf den digitalen Weg. Ein schwarzer Lamborghini, zwei Maschinenpistolen und jede Menge feindlicher Cops warten auf mich.

Ich schiele zur Türe. Der doofe Indianer von nebenan ist längst pennen gegangen. Meine Ersatzmutter übersetzt in der Küche einen dicken Wälzer ins Deutsche. Mein Vater (und eben nicht Dad!) säuft das dreizehnte Bier und versucht nebenher seine Buchhaltung zu machen. Es ist zwei Uhr früh und wie in einem Horrorfilm oder in einem physikalischen Experiment: alle sind tot und lebendig zugleich.

*

Dann gibt es noch Sport, und zwar jede Menge. Sport ist das coolste, wenn man Pornos und gta v außen vorlässt. An der dritten Stelle meiner ewigen Bestenliste (die alle fünf Minuten aktualisiert wird). Sport ist irgendwie immer dabei.

– Jugendlicher Bewegungsdrang, grinst mein Vater.
– Zu dumm für ernsthaftere Dinge, entgegnet meine Ersatzmutter, die Übersetzerin.

Aber die stresst sowieso jeden voll an. Muss mit ihrer Migräne zu tun haben. Oder dass sie kein rotes Fleisch isst.

Sport ist jedenfalls nice. Er bringt mich auf andere Gedanken, oder eigentlich auf gar keine. Beim Sport bin ich nämlich fokussiert: Schläger, weißer Ball, grüne Tischplatte, Netz. Erraten, ich spiele TT (Tischtennis schreibe ich höchstens in einer saublöden Deutschschularbeit). Beim örtlichen TSC. Landesliga. Einen alten Chinesen gibt es auch, der uns die gemeinsten Aufschläge und die hinterhältigsten Returns beibringt. TT hat einen prima Vorteil: zwischen dem Gegner und mir ist ein Möbelstück mit Netz aufgestellt. Es gibt keinen direkten Kontakt mit dem Arsch auf der anderen Seite. Man kann einander voll befetzen und berührt den Idioten nicht einmal. Beim Fußball würde ich wegen permanenten Foulspielens binnen zwanzig Minuten rausgeworfen werden. Irgendwie habe ich mich kaum mehr unter Kontrolle. Bin jedenfalls nicht so abgehoben wie die sechzehnjährigen Stars in der örtlichen Kicker-Auswahl, die von einer Profikarriere bei Bayern München oder so träumen.

TT ereignet sich jeden Di und Do, zwischen 17 und 19 Uhr. Eigentlich zur Prime Time für jugendliche Zocker. TT hält mich davon ab, endgültig in der digitalen Verbrechen-und-Stress-Welt zu versumpern. Bevor meine Sicherungen in Los Santos vollkommen durchglühen, drücke ich auf Escape und verlasse den Nicht-Raum auf dem Display. Avatare wie X-Ray15, DerMackerMitdemEingeschlafenenGesicht und WorldWideMadness fluchen mir virtuell nach, aber es hilft nichts. Ich steige aus dem Kampf mit den Bullenschweinen aus, werfe mein Sportzeug in eine Camouflage-Tasche und düse mit meinem grasgrünen BTX zur Sporthalle. Verbringe die nächsten hundertzwanzig Minuten mit dem glatzköpfigen Chinesen aus Shanghai, der im Gegensatz zu Mohammed das Bleiberecht hat. Oder nein, sogar die Staatsbürgerschaft, weil er im vorigen Jahrhundert drei Europameistertitel für Österreich erkämpft hat. So geht das bei den Sportidioten. Sie retten das Vaterland, irgendwie. Beinahe wie die echten Soldaten.

Mit TT reißt du bei den Mädels gar nichts: bei denen musst du Fußball spielen, wie Justin Bieber aussehen und mindestens ein Mofa besitzen. An einer coolen E-Gitarre in einem versifften Proberaum herumfummeln bringt vielleicht auch etwas Sympathie ein. Mit meiner akustischen Billigklampfe darf ich mich ganz Hinten anstellen. Bei den pickelgesichtigen Dauerwichsern, Pringle’s-Fressern und Einsamkeitszockern – kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Aber in der verdammten Sporthalle fühle ich mich einigermaßen wohl.

Ich fetze die ersten hundert Bälle knapp über das Netz und fühle mich dabei wie der taiwanische Weltmeister im Doppel. Der Chinese (niemand von uns kann seinen Namen richtig aussprechen) korrigiert mich trotzdem andauernd. Er weiß, dass er mich damit angriffsfreudig und mittelgefährlich macht. Psychologie nennt man sowas, oder konfusianische Weisheiten. Funktioniert perfekt bei minderjährigen Vollidioten wie mir. Nach spätestens zwanzig Ballwechseln werfe ich wütend den verdammten Schläger zu Boden. In dieser Saison habe ich mindestens zwölf Stück verschlissen. Der Chinese grinst. Die anderen Jungs starren mich entgeistert an. Ich bin der einzige Gefährliche hier, ein richtiges Arschloch. TT bringt mir bei, dass ich genauso wie die anderen Opfer der Leistungsgesellschaft bin: ehrgeizig, übertrieben selbstbewusst und vor allem ein schlechter Verlierer.

Besonders bei den Meisterschaftsspielen.

Dann fahren wir in einem klapprigen Bus durch das halbe Bundesland, weil nur wenige Leute TT spielen. Meistens verzocke ich die Fahrt und komme geschlaucht in einem miefigen Schulturnsaal an. Die anderen Buben haben wenigstens gepennt, an ihrem Pimmel rumgespielt oder deutschen Rap angehört. Mädchen komme so gut wie keine zu den Spielen. Höchstens solche, die man nicht einmal aus Mitleid anrühren würde oder weil sie viel zu jung sind. Obwohl: für mich ist fast keine zu jung. Ich schaue sie alle an. Wenn mir eine die Zunge zeigt, kann ich ja achselzuckend weitergehen. Das erste Spiel gewinne ich in zwei Sätzen. Das nächste auch, obwohl ich im Doppel nicht der beste bin. Egal, gemeinsam ringen wir Wolfsberg nieder. Hurra. Auf der Rückfahrt penne ich wie ein Volksschüler. Brandgefährlich sehe ich im Tiefschlaf sicher nicht aus.

Die TT-Heldentaten in Wolfsberg sind immerhin drei Zeilen in der Provinzzeitung wert, gleich neben den Todesanzeigen. Die Gleichung lautet: U16 + TT = lebendig begraben. Trotzdem geht mir fast einer ab, wenn ich meinen Namen in der Zeitung prangen sehe: ziemlich gut für das Ego. Auch wenn der Nachname falsch geschrieben ist und neben der Parte einer 96jährigen Uroma steht. Egal. Ich bin eine Art Leistungssportler. Sogar mein Vater ist jetzt ein bisschen stolz auf mich: warte nur, Papi, ein Jährchen noch, dann musst du endlich mit einer brandneuen 50er KTM herausrücken. Erst mit so einer Kiste, Leute, beginnt das richtig geile Leben: noch vor der ersten Ausfahrt werde ich eine Million Löcher in den Auspuff bohren, danach wird das Geschoss hundertzehn Dezibel laut und mindestens 95 km/h schnell sein. Nach nicht einmal zehn Kilometern werden mich die Dorfbullen zum ersten Mal aufhalten. Wie in gta v. Aber im Unterschied zum Computerspiel werde ich keine Panzerfäuste oder Maschinenpistolen dabeihaben. Höchstens mein Schweizer Messer.

– Apropos. Hast du schon das Neueste gehört?

Mein Spezialagent für Gossip in den Gerüchteküchen der Welt: Jonathan (oder Johnny) live aus dem Schulhof dieser traurigen Kleinstadt, via Skype. Ich drücke einen Perversen weg, der mir zum zehnten Mal einen Amazon-Gutschein für ein paar Schwanzbilder andrehen will. Die digitale Welt ist voller Verrückter.

Aus strategischen Gründen habe ich heute Halsweh und leichtes Fieber vorgetäuscht: in Mathe stehe ich auf einer glatten Drei, und für die anstehende Schularbeit habe ich nichts gelernt. Wichsen und gta v waren einfach wichtiger. Hundertmal wichtiger.

Mein homosexueller Spezialagent für die neuesten Vorgänge im Schulhof schwenkt sein Handy über Schülerköpfe und aufgeregtes Getuschel hinweg.

– Warum ist da so viel Blaulicht zu sehen, sieht ja aus wie in einem Update von Call of Duty, voll der geile Scheiß Mann!

Ich bin schon ein Glückspilz: da schwänze ich einmal in drei Jahren die Schule und schon entgeht mir eine originale Messerstecherei. Johnny geht wieder auf Sendung. Auf unscharfen Pixelbildern ist Kevin zu sehen, wie er von zwei Polizisten abgeführt wird, die Hände auf dem Rücken mit so Kabelbindern gefesselt. Die Jeans sind noch löchriger und fleckiger als sonst. Mit offenen Schnürsenkeln und so, gerade dem Schlimmsten entrissen. Hinter einem aufgespannten Leintuch liegt irgendjemand. Ein paar Notärzte kämpfen um das Leben des Opfers. Kohorten aus vermummten Cobra-Leuten treiben Schüler, Lehrer und Schulwart wie Weidevieh in die Lernkaserne zurück. Im Hintergrund rast die Funkstreife mit Sirene, Blaulicht und dem festgenommenen Kumpel davon. Johnny muss seine Live-Reportage abbrechen, weil er sonst sein Smartphone einem der vermummten Cops überlassen müsste. Das mit den drei Terrabytes schwuler Pornos in der Cloud.

Ich drücke die Skype-App weg und vernichte die nächste Rolle Pringle‘s. Überlege, wer Kevins Opfer gewesen sein könnte. Ich komme auf mindestens 300 Namen. Mein eigener ist auch darunter. Der Nachwuchskiller war mit praktisch allen verfeindet. Auf seinem Handy lagern die perversesten Videos der Welt, ich sage nur Riesenständer und Wollschwein. Nachdem ich die Pringles-Rolle verdrückt habe, trudelt das erste SMS ein, dann noch fünf weitere, und ein paar Herzschläge später sind es schon über 100.

In jeder zweiten Message steht der Name des Opfers. Ich kann es nicht glauben und hätte es ahnen müssen. Mohammed hat den Stich in die Herzgegend nicht überlebt.

Der Holzboden unter meinem Bett gibt nach. Ich habe das Gefühl, direkt in die Hölle zu stürzen. Starre fragend gegen die Holzdecke, aber anstelle himmlischer Heerscharen stürzen tausende Teufel auf mich ein. Die alle mein Gesicht haben und mit Heugabeln bewaffnet sind. Ich werfe die Decke über meinen zitternden Körper, das ganze Bett riecht nach abgestandener Wichse und hunderten Fürzen. Ich wimmere vor mich hin, versuche zu trauern und weiß nicht einmal genau was das ist. Sich hundeelend fühlen wahrscheinlich. So tun als wäre ich wieder sechs Jahre alt. Und gerade von einem Rudel älterer Buben verdroschen worden. Ein megatolles Gefühl ist das nicht gerade.

Ein paar Viertelstunden später laufen alle in meinem Zimmer zusammen: Papa, seine Hamburger Ersatzfrau, meine coole Sis Teresa (wie erschrocken die plötzlich dreinschauen kann), der zehnkommafünfjährige Dolm von Stiefbruder (Kaugummi kauend natürlich), dann der Hausarzt, die ersten Cops, ein Diakon und fünf weitere Seelsorger oder Psychologen für weiß der Teufel was alles.

Ein richtiges, mobiles Kriseninterventionszentrum. Schade, dass keine Nutte bei der Erstversorgung dabei ist. Das Ausfragen würde dann etwas lockerer ausfallen. Ein IT-Spezialist macht sich an meinen sozialen Medien zu schaffen. Alle Accounts werden gehackt oder sonst wie offengelegt. Schön langsam dämmert es allen, was für ein schräger Hund ich sein muss. Eigentlich war’s ja nur Spaß oder so. Irgendwas Pubertäres. Schließlich bin ich erst 14 Jahre zwei Monate alt. Gebt mir ein paar Legosteine und ich bin wieder harmlos so wie damals mit elf.

Mein Stiefbruder spuckt mir seinen Kaugummi in die Haare. Für einen Augenblick liegt ein Gewaltausbruch im Raum. Dem kleinen Pisser jetzt eine reinsemmeln, das wär’s. Ich hätte jetzt das richtige Publikum für das finale Desaster: Hausarzt, Psychologen, Seelsorger, Cops, alle da. Ich balle zwar ein bisschen die Fäuste, versuche aber gelassen zu bleiben: alles easy, Leute. Mich hat nur gerade der Todesengel gestreift. Um ein Haar wäre ich in der Hölle verrottet. Viel mehr bringe ich nicht mehr heraus. Draußen flirrt ein schöner, warmer Maitag über der Landschaft – anscheinend gerade richtig, um vom Sohn eines Provinzbürgermeisters niedergestochen zu werden.

Johnny kreuzt auf. Eine halbe Minute nachdem sich die erwachsene Meute aus meinem Zimmer verzogen hat. Einfach nach unten ins Wohnzimmer. Ich höre Stimmen, das Klirren von Weingläsern, und irgendwie nehme ich Weihrauch wahr. Ich verdrehe dich Augen und kotze einen halben Plastikeimer voll. Johnny geht damit aufs Klo und spült die tausend Einzelteile von dreimal Fastfood-Fressen hinunter, macht alles sauber. Irgendwie taugt er voll als Kindermädchen. Und wenn er noch Strapse anhätte, könnte er glatt in einem Nachtclub anheuern.

Er fragt mich, ob ich was essen will. Fehlanzeige.

– Oder ein Mineralwasser?
– Igitt.

Die Gouvernante mit den dunkelblonden Strähnen lässt nicht locker.

– Eine Zigarette tut manchmal auch gut.
– Scheiß drauf.

Am liebsten würde ich jetzt zwei Stunden TT spielen. In der Sporthalle drüben. Aber heute ist Mittwoch und da üben die Mädchen rhythmische Gymnastik. Alles ereignet sich immer zur falschen Zeit. Ich weigere mich vorzustellen, dass Mohammed in einem Blechsarg liegt. Sich nicht mehr rührt. Und dabei in Atome oder in noch was viel Kleineres zerfällt.

Johnny setzt sich zu mir. Er hat dieselben verweinten Augen wie ich. Nur auf blau. Meine dagegen sind braun. Diesmal bin ich es, der ihm tief in die Augen schaut. Ich würde zu gerne wissen, wie sich ein Messerstich anfühlt. Ich weiß, es klingt bescheuert, aber irgendwie möchte ich wissen wie sich das anfühlt, wenn mir eine scharfe Stahlklinge tief ins Fleisch gerammt wird. So etwas kommt in gta v dauernd vor, aber das ist ein Spiel, ein verdammtes Computerspiel, und sonst gar nichts.

Johnny sieht mich an. Streicht sich eine blond gefärbte Strähne aus dem Gesicht. Nice irgendwie. Er sieht gut aus, wie ein Mädchen beinahe. Ein Mädchen das sich knutschen, in den Arm nehmen und dann ohne Widerrede flachlegen lässt.

– Ob Sex die Angst vor dem Sterben nimmt, was meinst du, Johnny?
– Wir sollten es ausprobieren.
– Hmmm.
– Am besten jetzt gleich.
– In echt jetzt?
– Dann würdest du wieder wissen, wie sich ein Stich anfühlt.

Hinterhältig, geradezu schmutzig sein Grinsen.

Mein Ich verschwindet wie eine verstörte junge Katze unter den Kasten. Johnny hat ein richtig hübsches Gesicht. Stupsnase mit Sommersprossen. Viel zu rote Lippen. Und seine Fingernägel sind schwarz lackiert. Ich starre richtig erschrocken darauf.

– Warum machst du das eigentlich?
– Was denkst du?
– Ich habe echt keine Ahnung.

Verlegenes Lachen in zwei verschiedenen Tonlagen. Und dann ist das Zimmer abgesperrt. Wir haben uns ausgezogen und starren uns an. Dünne, eckige Körper. Unfertig, vorläufig, fragil. Morgen schon werden wir beide ganz anders aussehen. Nur blöd, dass Johnny einen viel Längeren hat.

– Ist doch egal, mein Schatz.
– Dein was? (Was muss ich entgeistert dreinschauen, jetzt).
– Ich mag dich halt einfach.

Schwulsein ist richtig kompliziert, zumindest am Anfang. Irgendwie geilt mich Johnny voll, und dann kotzt mich das blöde Schwanz-an-Schwanz-Reiben wieder an. Es ist der totale Widerspruch. Aber irgendwie nur mit mir selbst. Vielleicht sollte ich einfach meinen Widerstand aufgeben.

Johnnys Mund kommt näher und dockt wie eine Raumkapsel an. Eine fremde Zunge dringt in meine Mundhöhle. Fisherman’s Friends (die zuckerfreien und extrascharfen) treffen auf meinen Pringles-Atem mit Zwiebelgeschmack, eine seltsame Paarung: fremd und aufregend zugleich. Ich möchte aufstehen und davonlaufen, aber ich mache das Gegenteil: lege mich auf den Rücken, spreize die Beine und sehe Johnny ein bisschen zu erwartungsvoll an.

*

Das Irre ist: Kevins Totschlag bringt die verschissene Kleinstadt in die Schlagzeilen. Und zwar ganz hinauf, gleich nach einem Bombenanschlag in Bagdad. In der ZiB 1 ist unser verdammter Schulhof zu sehen, die Mülltonnen, die erschrockenen Gesichter der Mitschüler, die betretene Miene des Postenkommandanten und des Landesschulrates. Irgendwie sensationell und richtig spooky zugleich. Ungläubig starre ich auf die Aufnahmen wie aus einer anderen Welt: es ist unsere Schule, und dann doch wieder nicht. Es ist auch schwer, das Geschehene innerhalb von 2:30 Minuten zu begreifen.

Am späteren Abend interviewt ein anderer Moderator unseren Schuldirektor via Skype oder so. Das schreiende Fossil schwitzt vor Stress und Scham und ist ungefähr so kleinlaut wie Kevin und ich beim Rapport vor wenigen Tagen. Der Namen des Jungen wird im Fernsehen verschwiegen und sein Gesicht nur verpixelt oder mit einem schwarzen Balken vor den Augen wieder gegeben. Wer Kevin kennt, erkennt ihn trotzdem sofort.

Mein Vater rührt sein Villacher Bier nicht mehr an, und seine manisch-exzessive Ersatzfrau starrt planlos ins Leere. Wahrscheinlich denkt Angela an die Abende, als Kevin bei uns zum Essen geblieben ist. Ein mittelnetter Junge mit knappen Bitte- und Danke-Antworten. Der noch kein Wässerchen trübte oder so. Und jetzt in irgendeinem Haftraum sitzt und vor sich hin bockt. Ich hätte Lust mit Kevin zu skypen. Das wäre etwas, so ein Chat live aus der Zelle. Bei abgedrehtem Licht und dem Rascheln kratzender Bettdecken. In grobkörnigen Pixelbildern. Wie in einem billigen Porno.

Irgendwann werde ich hinauf in mein Zimmer geschickt. Ich soll mir den ganzen Kram nicht anschauen, sonst träume ich schlecht. Schlafen tu ich schon seit Tagen kaum mehr. Meistens starre ich stundenlang an die Decke und frage mich, wie sich tot sein so anfühlt. Oder das Gekillt-werden. Und warum ich mir solche Gedanken antue.

Bevor der idiotische Morgen anbricht, zocke ich noch etwas gta v. Draußen ist alles dunkel und viel zu ruhig, als ob die Kleinstadt gar nicht mehr da wäre. Auf WhatsApp sehe ich, dass ein paar andere aus unserer Klasse auch noch on sind. Einer chattet mich an. Der nächste schickt mir ein Bild vom Skikurs im Februar. Als alles noch irgendwie easy gewesen ist. Kartenspielen bis Mitternacht, heimlich eine Dose Bier trinken, am Balkon eine Menthol-Zigarette rauchen. Einander in die Augen schauen. Und lachen, bis uns allen der Bauch geschmerzt hat. Ich sehe mir die Aufnahme genauer an. Kevin, Mario, Mohammed, ich. Einfach vier Jungs. Vier ganz normale Landeier in Saalbach-Hinterglemm. Im dritten Stock einer 40-Betten-Pension. Wir haben uns nicht einmal einen runtergeholt. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, aber was heißt das schon? Carven und Snowboarden waren saucool. Das Wetter war schön, und irgendwie hat es witzig ausgesehen, wie Mohammed zum ersten Mal auf den Schiern gestanden hat. Ein syrischer Junge ohne Bleiberecht mitten im österreichischen Schnee. Ich fang an zu weinen und weiß nicht warum und wieso, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Als ob man eine Wand hochlaufen wollte. Eine tausend Meter hohe Eiswand aus Millionen von Fragen.

*

Da ich weder als Emo noch als Punk trauern darf, muss ich zu diesem irren Friseur in der Bahnhofsstraße, der ungefähr 1980 den letzten trendigen Haarschnitt (einen Vokuhila zum Fremdschämen) kreiert hat. Der Typ ist etwa sechshundert Jahre alt, so breit wie hoch, mit richtigen Fettwurstfingern. Es ist klar, dass er meine kostbaren Side-Cuts gründlich versauen wird. Mit seinem summenden Schafsrasierer fräst er grenzdebile Einheitsfurchen in mein dichtes, süditalienisches Haar. Nach vierzig Minuten sehe ich wieder wie ein bescheuertes Kind aus. Ich hätte das Arschloch bei der Frisörinnung angezeigt, aber mein Vater zahlt ihm noch zwölf Euro für das Fiasko.

Mir gibt er fünfzig. Eine Art Schmerzensgeld sozusagen. Seit der Messerattacke ist mein Vater voll nett zu mir, so wie ich ihn höchstens an Weihnachten erlebe. Er tätschelt mir ganz seltsam die Wange und steckt mir einen Geldschein nach dem anderen zu. Wenn wir allein sind, versucht er auch noch ernste Gespräche zu führen. So von Mann zu Mann sozusagen. Wie peinlich. Da bin ich wirklich nicht scharf drauf. Der Totschlag im Schulhof verwandelt uns alle in Scheintote. Bei Angela und ihrem Stiefdolm ist mir das sogar recht. Irgendwie herrscht eine seltsame Stille zwischen uns, halb katholisch, halb pervers würde ich sagen. In den letzten 24 Stunden habe ich glatt auf das Wichsen vergessen.

Dafür kenne ich mich bei Särgen schon etwas aus. In unserer Kleinstadt gibt es ein Begräbnisinstitut, das seit Jahr und Tag drei Mustersärge in einem Schaufenster präsentiert. Wenn ich melancholisch drauf bin (noch immer keine Freundin, eine anstehende Klassenarbeit oder in TT eine peinliche Niederlage gegen Wölfnitz kassiert) schleiche ich dort vorbei und werfe ein paar Seitenblicke auf die Erdmöbel. Urnen haben sie auch ein paar lagernd, zwei davon in echt poppigen Farben. Wie Bonbondosen oder so. Als Kind habe ich mich dauernd gefragt, wie man den ganzen Toten da hinein quetschen kann. Bis ich das mit dem Anzünden im Sanatorium oder wie der verdammte Ort heißt erfahren habe.

– Wie bitte: Opa einäschern, der verbrennt doch dabei!
– Ist aber billiger, hat mein Vater lakonisch gemeint.

Typisch Geschäftsmann: wieso einen sauteuren Eichensarg, wenn man die Urne für ein Drittel der Summe haben kann? Mit Särgen und Urnen kommen wir allerdings bei Mohammed nicht weit. Er ist Muslim (gewesen – ich bring das doofe Partizip der Vergangenheit immer noch nicht freiwillig raus). Und nicht nur das: ein paar Stunden nach ihm ist auch sein Vater gestorben. Sein Herz hat nicht mehr mitgemacht. Der syrische Arzt ist noch in seinem Laden umgekippt, zwischen der Schlüsselkopiermaschine und dem Holztisch mit den Mustersohlen darauf. Seine Flucht war in diesem Souterrainlokal in der Wilhelm-Rudnigger-Gasse zu Ende.

Eine muslimische Bestattung verläuft vollkommen anders. Ich habe es herausgefunden, aber es war alles andere als einfach, Leute. Ich wusste nur, dass ich schnell sein musste. Tote Muslime kommen fast noch warm unter die Erde. Anzünden strengstens verboten. Irgendwie hat die Eile mit einer Art Taxiservice ins Jenseits zu tun. Der Todesengel nimmt nur die frischen Toten mit. Die noch ihre Seele drin haben oder so ähnlich.

Es gibt nicht viele Dinge, die noch bescheuerter sind als eine Religion. Egal welche. Für zehn Euro (schon wieder) erfuhr ich von Mujo (einem muslimischen Serben), wo die Leiche meines Freundes herumliegen muss. Im Totenraum der Moschee. Klingt ziemlich pompös, ist aber nur der hintere Raum eines Kellerlokals für islamische Freizeitgestaltung. So steht es zumindest über der Tür. Vielleicht auch nur falsch übersetzt.

Wenn du die Stufen hinunter gehst, stehst du in einem ziemlich leeren Raum mit einem uralten Billardtisch und einer Budel, wo fünf Wasserpfeifen verstauben. Auf der Straße gegenüber ist ein Münzwaschsalon, wo nur die Ausländer hingehen. Eine Ladung Wäsche waschen kostet dort achtzig Cent. Der Typ im Waschsalon trägt eine schwarze Augenklappe, riecht streng nach Raki und hört den ganzen Tag eine Art Rap, der dahin eiert wie ein LKW ohne Felgen. Der Augenklappentyp mit den Beats-By-Dr-Dre-Kopfhörern ist gleichzeitig der Imam, wie ich rausgefunden habe. Was immer das ist.

– Was willst du hier, fragt er mich barsch als ich im Hinterzimmer der Souterrain-Moschee aufkreuze.

Er baut sich wie eine unüberwindbare Steinmauer vor mir auf. Ich soll die beiden Leichname nicht sehen. Weil ich den falschen Glauben habe (eigentlich gar keinen) und weil ich ein verdammtes Kind bin (Kinder werden in allen Religionen gehasst: Kinder, unreine Tiere und der sogenannte Beischlaf).

– Ich bin – äh – ein Freund von – äh – einem der beiden dort drüben.

Viel blöder hätte ich die schräge Unterhaltung nicht starten können. Ich erkenne Mohammeds Haare und die in beiges Tuch eingewickelten Füße seines Vaters links und rechts von der islamischen Fleischmauer.

– Du störst die heilige Zeremonie der Leichenwaschung, beginnt mich der Imam aus dem Münzsalon zu tadeln.

Irgendwie leuchtet mir ein, dass der Betreiber eines Waschsalons auch Leichen reinigen soll. Aber was zum Teufel ist ein Imam?

– Ich bin der Geistliche der muslimischen Gemeinde hier.

Achso. Eine Art Pfarrer. Aber auf Amateurbasis. So wie ich für null Kohle in der Jugendmannschaft des TT-Vereins spiele.

– Du verschwindest jetzt besser.

So ein Imam duldet anscheinend keinen Widerspruch. Genau wie mein Vater oder jeder zweite Lehrer. Oder Angela, meine nervöse Ersatzmutter. Die immer beleidigt ist, wenn man ihre Kasseler Rippchen ins Klo kotzt.

Ich ziehe einen Schmollmund und setze mein allertraurigstes Gesicht auf. Der bescheuerte Unterstufenhaarschnitt von Frisörmeister Lechner hilft mir dabei. Meine Stimme beginnt wie ein halb verhungerter Wellensittich zu piepsen.

– Bitte. Nur für ein paar Minuten. Ich möchte einfach meinem Freund Adieu sagen. Da kann doch dein Allah nichts dagegen haben. Ich rühr auch nichts an, versprochen.

Eine riesige Träne kullert über die rechte Wange. Es ist wie in einer Netflix-Kinderstaffel. Die Folge mit dem Titel „Tränen der Rührung“. Draußen geht gerade die Sonne unter. Aus irgendwelchen Gründen ist das mein Glück.

– Na schön, ich darf jetzt eine Viertelstunde sowieso nichts machen, brummt der Waschsalon-Imam und geht auf einen Raki in den Lustigen Kalifen.

Er sperrt das Kellerlokal ab und lässt mich mit den beiden Toten allein. Es ist das erste Mal, dass ich Leichen aus nächster Nähe anstarren kann. Bei meinem Opa war es nur ein kurzer Blick in den offenen Sarg gewesen.

Hier aber gibt es gar keine Särge. Nur so komische Tücher. Und eine Haube ohne Gucklöcher. Anscheinend werden die Toten wie Pakete verpackt und so ins Paradies verschickt. Oder auch nur in eine Grube geworfen. Auf dem Stadtfriedhof gibt es eine Parzelle für muslimische Gräber. Gestern Abend habe ich dort zwei frisch ausgehobene Löcher gesehen. Wohl für die beiden da. Mohammeds Vater liegt schon fast fertig für die Ewigkeit verpackt, aber Mohammed liegt beinahe nackig auf dem Steintisch vor mir. Im Brustbereich ist so ein Verband, wo etwas Braunes durchsickert. Wohl das tote Blut oder so.

Ich starre auf Mohammeds Gesicht, das noch immer wie seines ausschaut aber einfach nicht mehr seins ist. Sondern kalt wirkt. Wächsern. Abweisend. Der Mund ein dünner Strich. Die Wangen hohl. Die Augen geschlossen. Es ist vollkommen klar, dass mein Freund tot ist. Mausetot.

Erstochen vom Sohn des Bürgermeisters, einfach so, in der großen Pause am Schulhof. Nach einem Streit. So banal, so gewöhnlich, so schrecklich, so dumm. Ob ich beten soll? Lieber nicht, ich kann höchstens das katholische Vaterunser – und selbst das nicht vollständig. Vielleicht mache ich diesen Allah nur wütend damit. Irgendwie ist der sowieso nicht gut auf seinen Kollegen Gott zu sprechen. Aber vielleicht ist es ja ein und dieselbe Person, die von Millionen Gläubigen in den Wahnsinn getrieben wird. In einen christlichen und in einen islamischen Wahnsinn. Und dann gibt noch tausend andere Religionen oder so.

Das Leben ist kompliziert, der Tod dagegen scheint sehr einfach zu sein. Man muss nur daliegen und zerfällt von selber in seine Bestandteile. Oder wird von den Würmern gefressen, stimmt, die Würmer gibt es auch noch. Ich habe total auf die Würmer vergessen.

Draußen ist es dunkel geworden. Das Waschsalon-Imam kommt wieder herein und kann weitermachen. Er legt mir einen Arm auf die Schulter und bietet mir einen Schluck Raki an.

Ich frage mich, ob das nicht eine Fangfrage ist: wer diesen Anisschnaps säuft, kann nicht mehr unschuldig sein, und vielleicht kommt jetzt auch noch heraus, dass ich bis jetzt 855mal gewichst und mit Johnny den schwulen Beischlaf vollzogen habe. Im Iran wird man dafür gehenkt, hat mir Johnny erzählt und mir so ein YouTube-Video gezeigt. Zwei Jungen, nicht viel älter als wir. Henker mit schwarzen Hauben um sie herum. Der Galgen, der Strick um den Hals. Und Tränenbäche auf den haarlosen Wangen. Dann ein schwarzes Insert mit dieser krakeligen arabischen Schrift. Zuletzt eine unscharfe Aufnahme mit den gehenkten Jungs. Ich habe mindestens zwei Wochen nicht richtig einschlafen können.

Den angebotenen Raki kippe ich trotzdem hinunter. Soll ich eben morgen gehenkt werden. Halsweh habe ich eh schon ein wenig. Das klare Zeug schmeckt wie Wodka auf Anis. Ich huste und bekomme einen Schweißausbruch. Der Imam lächelt milde und schickt mich nach draußen. In die Ruinen meines Lebens zurück.

Natürlich laufe ich gleich jemandem über den Weg, es geht in dieser Kleinstadt auch gar nicht anders. Christian, der zwölfjährige Blondschopf, auf seinem Skateboard. Er müht sich an ein paar harmlosen Kunststücken im Stadtpark. Eigentlich wollte ich mir dort ein paar Marlboros anzünden und bescheuerte Selbstgespräche führen. So etwas in der Art jedenfalls. Christian strahlt mich an und kommt mit seinem Board auf mich zu.

– Schau mal, was ich alles kann.

Als ob ich sein verdammter Erziehungsberechtigter wäre oder so. Ich schaue ihm lächelnd zu und zünde mir trotzdem eine Zigarette an. Christian beobachtet mich aus den Augenwinkeln heraus an.

– Boah, du rauchst ja schon.

Die 722 Tage Altersunterschied müssen sich für Christian wie drei Ewigkeiten anfühlen.

– Und du kannst echt tolle Tricks.

Es ist zwar gelogen, aber egal. Ich will einfach was Nettes sagen, und dieser Satz ist das einzige, was mir gerade einfällt. Christian lächelt geschmeichelt. Er wird richtig rot dabei. Als ob er sich in mich verknallt hätte oder so. Ich mag ihn ja auch, irgendwie.

– Stimmt das echt, fängt er jetzt mit der Messerstichgeschichte an, stimmt es echt, dass der Kevin den Mohammed – und seine kindliche Stimme überschlägt sich dabei – um-ge-bracht-hat?

Hmmm. Jetzt ist es heraus. Irgendwie ein ganz einfacher Satz. Eine Entscheidungsfrage. So simpel ist das Leben mit zwölf.

– Ja, lautet die einzig mögliche Antwort.
– Oh Mann.

Christian macht ein Gesicht wie beim Zahnarzt, der ihm für die nächsten drei Jahre eine Zahnspange angedroht hat.

– Aber warum?
– Falsche Frage, Kleiner.
– Warum falsch?

Ich drücke meine Marlboro aus und lege den rechten Arm auf Christians Schulter, genauso wie es der komische Imam aus dem Waschsalon bei mir gemacht hat. So ein verdammter Arm auf der Schulter besagt gar nichts, aber er beruhigt einen irgendwie. Macht uns nicht so hysterisch. Obwohl jeder von uns beiden die Wände hochlaufen könnte, bei all dem Unglück in der Welt.

Christian lächelt mich an. Er versteht noch nicht viel vom größeren Leben. In zwei Jahren wird das anders aussehen, dann wirst du im Park eine Marl nach anderen paffen, am Wochenende Wodka Soda auf einer Party runterkippen und die Titten aller verfügbaren Mädels anglotzen.

– Hey, ich doch nicht. Ich steh doch auf Skateboards, Himbeerlimonade und auf den Zeichentrick-Channel. Die Cartoons dort sind echt witzig. Außerdem bin ich voll gut im Zeichnen. Warum legst du mir deinen Arm auf die Schulter?
– Hmmm. Einfach so. Vielleicht weil ich gerade zwei Leichen gesehen habe, von denen eine davon mein zweitbester Freund war.
– Ok, dann darfst du deinen Arm dalassen, und wenn du willst, kannst du mich streicheln. Manche Jungs mögen das ja.

Hmmm. Ich schaue auf Christians blonden Schopf und denke, dass die Antwort auf alle Fragen doch 42 lauten könnte.

*

Zum Begräbnis geht keiner von der Schule aus hin: erstens findet es an einem Dienstagvormittag statt, zweitens ist niemand von uns ein Muslim und drittens scheint Keiner Bock auf Suren und andere Leichenreden zu haben. Mir hat auch schon der Anblick der beiden Leichen im Totenraum des Vereins für iranische Freizeitgestaltung gereicht.

In der Schule tagt das Kriseninterventionsteam: ein bärtiger Psychologie Anfang Dreißig stellt mir eine Reihe peinlicher Fragen. Wie eng die Freundschaft zu Mohammed gewesen sei, wie ich Kevin so einschätze und ob ich mich schon einmal umbringen wollte. Einmal, hä? Hunderte Male. Irgendwie alle paar Stunden einmal. Wenn nicht das Wichsen, TT oder gta v wäre, hätte ich es garantiert schon versucht.

Okay, das Wichsen habe ich nicht erwähnt, dafür TT und Gta v. Der Psychologie schreibt „suchtgefährdet“ hinter meinen Namen und schickt mich wieder in die Klasse zurück. Der Geolehrer versucht uns beizubringen, wo Syrien liegt. Und was da gerade vor sich geht. Ich höre nicht hin, sondern chatte mit Johnny auf WhatsApp weil ich sowieso suchtgefährdet bin.

– Mach dir nichts draus, in der Pause blas ich dir einen. Um 10.30 Uhr im Kellerklo? Hast Lust?

Nö, aber ich werde trotzdem hingehen. Weil auf den Gängen und im Schulhof sowieso nur blöd herumgetratscht wird: dass Kevin, der herzallerliebste Bub, einfach provoziert worden sei. Von einem Islamisten ohne Bleiberecht und so. Wahrscheinlich hatte der syrische Junge zuhause Bombengürtel und selbst gebastelte Waffen gehortet. An Kevins Stelle hätte ich auch zugestochen. Ist ja reine Notwehr, wenn ein Ausländer ohne Bleibereicht so schräg daherkommt.

Plötzlich ist nicht mehr der Mörder, sondern der Ermordete schuldig. Weil er Muslim war, und weil er kein Bleiberecht hatte. Als ob er kein Mensch, sondern nur eine Termite gewesen wäre, eine Termite mit einem IQ von 160, eine Termite, die uns Inländern die Lebensmittel, die coolen Jobs und die deutschen Verbrennungskarossen mit dem Stern auf der Kühlerhaube abspenstig machen wollte. So etwas höre ich andauernd in den letzten zwei Tagen. Hinter vorgehaltener Hand natürlich. Weil man ja nie etwas sagt. Sondern immer nur redet.

Ich stoße die Tür zum Kellerklo auf und lasse mir dort von Johnny einen blasen. Nicht dass es sich richtig toll anfühlen würde. Es ist eher eine Pflichtübung für mich. Weil die stinknormalen Menschen in der Kleinstadt da draußen tausendmal schlimmer als Termiten sind. Und die Antwort auf alles doch 42 lautet. Oder – und ich denke an die Matheaufgabe, die Mohammed vor ein paar Tagen für mich gelöst hat – die Quadratwurzel davon. ♦

Teil 2 – Quartieri Spagnioli ...
Das Schlimmste ist, dass das Leben weiter geht. Dass die Leute aufhören, über das Geschehene zu reden, dass sie einfach vergessen. Im Schulhof verschwinden schon die Grablichter und Blumensträuße. Auf Mohammeds Platz sitzt jetzt ein anderer (ein Austauschschüler aus Milwaukee, beinahe 16 Jahre alt, aber richtig plemplem), und die Lehrer hören auf mit der Krisenintervention. Diesen Endlosdiskussionen im Halbkreis. Zusammen mit einem Experten für Schülerselbstmorde und so. Immerhin geben mir die Cops das Handy zurück. Mein SMS-Verkehr ist komplett überspielt worden, und jeder Ermittler weiß jetzt, was ich alles an Schimpfwörtern und geilen Sprüchen rausgelassen habe.

Aber es passiert kaum etwas. Nur ein Schulpsychologe kommt ein paar Mal bei uns vorbei. Wir sitzen dann am Küchentisch, und er stellt mir tausende Fragen. Ich antworte kaum und fresse mehrere Packungen Butterkekse leer. Irgendwann gibt der bärtige Typ auf und behauptet, dass ich nicht mehr suizidgefährdet sei. Und ziemlich intelligent bin. Dass ich lieber Sport machen soll als bei herunter gezogenen Fensterläden gta v zu spielen.

Okay, zocken tue ich hundertmal öfter als vorher. Der Unterschied ist, dass mir jetzt keiner mehr dreinredet. Mein Dad erhöht das monatliche Taschengeld, seine Zweitfrau aus Hamburg versucht freundlich zu sein. Sie springt sogar über ihren norddeutschen Schatten und versucht richtige Pizzen zu machen. Eine Pasta alle Vongole hinzukriegen. Irgendwie das genaue Gegenteil von kampanischer Küche, aber wenigstens gibt es keine Kasseler Rippchen, kein Eisbein, keine verdammten Klöße mehr. Und keine Augsburger mit Kartoffelstampf oder so.

Außerdem strahlt sie mich seltsam an, wenn ich in ihre Nähe gerate. Als ob sie mich plötzlich geil fände oder so. Dabei dusche ich mich noch seltener als vorher. Meine Fingernägel sind wund genagt. Ich rauche mindestens zehn Marlboro am Tag und schnorre einen Typen aus der Maturaklasse um Dope an. Er lacht mich aus, und ich verliere den Halt unter den Füßen. Klammere mich an Erinnerungen. Suche nach einem Ausweg, aber es gibt anscheinend keinen. Nicht für mich. Ich gehe nicht einmal mehr zum TT in die Sporthalle. Bleibe in meinem Zimmer, in dem es nachts so geheimnisvoll raschelt. Wahrscheinlich haben sich hier längst ein paar Ratten eingenistet. Sie müssten mindestens Gasmasken tragen, sonst hielten sie den strengen Geruch in der Dachkammer nicht aus.

Immerhin wird mein Gitarrenspiel besser. Die Barré-Akkorde gelingen mir plötzlich, als wären meine Finger gelenkiger geworden. Wahrscheinlich, weil ich mir nicht mehr fünfmal pro Tag einen herunterhole. Zweimal reicht auch. Die schorfigen Stellen am Schwanz werden weniger, und die Nebelschwaden der Geilheit lichten sich etwas.

Dafür übersiedle ich endgültig in den digitalen Raum. Werde ein Mikroelement von gta v. Ich wohne in Los Santos und versuche Ordnung in meine virtuelle Gangsterkarriere zu bringen. Aber so richtig entscheiden kann ich mich doch nicht: einmal bin ich Trevor, dann Hank, dann wieder Michael. Der Schöne, der es mit den Weibern hat. Der immer wieder ins Blue Ox auf einen schnellen Fick fahren muss. Während draußen die Welt untergeht. Die Highways brennen. Die Tankstellen explodieren. Und ein A380 im Landeanflug auf den Airport von Los Santos zerschellt. An jedem Abend gibt es hunderte Display-Tote. Danach wird in einer Topless-Bar die imaginäre Kohle geteilt. Unter uns Onlinern der RX12-Gruppe, 16 Zocker quer über den Planeten verteilt: ein Diplomingenieur, einige Studenten, zwei oder drei Schüler wie ich. Der Rest besteht aus Dahergelaufenen, die sonst keiner kennt.

Wenn mir nach Mitternacht gar nichts mehr einfällt, lande ich in einem Chatroom für Leute, die sich umbringen wollen. Nicht, dass ich es unbedingt vorhabe. Aber irgendwie ist es schon ein Kick, sich aus dem verdammten Leben beamen zu wollen. Dorthin zu geraten, wo jetzt mein Opa oder Mohammed oder Steve Jobs herumlungern müssen. Aber wer weiß, ob es das grindige Jenseits überhaupt gibt? Wenn ich so durch den Friedhof schleiche, kommen mir echt die Zweifel. Von den Toten hier steht keiner mehr auf. Die rotten doch nur zwei Meter unter der feuchten Erde dahin.

Ich versuche mich an den wenigen Gräbern in der muslimischen Abteilung vorbei zu mogeln, aber es gelingt mir nicht richtig. Aus den Augenwinkeln erkenne ich den verdammten Stein mit den zwei Namen darauf. Einmal in arabischer Schrift, und dann in unserer auch. Mohammed und sein Vater Akhbar. Hallo ihr beiden, hallo Scheißdrauf. Ein Messerstich und zwei Tote. Kevin wird wahrscheinlich nur ein halbes Jahr ausfassen. Der Sohn des Bürgermeisters, im Affekt auf Mohammed losgegangen, nachdem er beleidigt, beschimpft, in seiner Ehre gekränkt worden war. Der arme Junge. Ich denke an die tausenden Pornos in Kevins Cloud. Wenn die Ermittler diesen Terrabyte-Schmutz entdecken, wandert der süße Perverse für fünf weitere Jahre ins Gefängnis. Aber irgendwie ist das vollkommen egal. Vom Gefängnis werden die Toten auch nicht lebendig.

*

Ich helfe im Zweirad-Geschäft meines Vaters aus. Ein wenig fühle ich mich dabei wie Michael, der in gta v unterbelichteten Typen viel zu teure Lamborghinis verkauft. Die dann die ersten Leasingraten nicht bezahlen können und wie so viele andere in Los Santos erbarmungslos gejagt werden. Die Underdogs im Geschäft meines Vaters sind dagegen Jungbauern aus dem hintersten Gurktal: vollkommen ahnungslos und ordinär wie ein illegales Bordell, aber sie brauchen nur einen Hektar Wald verkaufen, um eine neue Harley zu ordern. Die neue Lifewire mit 105 PS und einem Armaturendisplay wie aus dem nächsten Jahrtausend, zum Beispiel. Aber was rede ich groß, ich helfe doch nur in der Fahrradabteilung aus und hänge dort mit meinen sogenannten Schulfreunden herum, die nur BTX-Räder, Hängetitten und billigen Alkohol im Kopf haben.

Inzwischen ist es Mitte Juni geworden, und die Lehrer werden mir trotz zweihundert Fehlstunden keine schlechten Noten ins Zeugnis reingurken. Das allgemeine Mitleid verwandelt sogar Fünfer in Dreier. Auch wenn ich noch immer dieselbe Null in Mathe, Info, Englisch und all den Nebenfächern bin – hey, Leute: ab dem Herbst werde sogar ich die Oberstufe besuchen.

Die Oberstufe. Wie seltsam das klingt. Eigentlich könnte ich ein bisschen stolz darauf sein. Oberstufe, das klingt schon nach etwas Weisheit und dem größeren Leben. Zumindest nach Dope, Gruppensex und Wodka-Orgien. Nach einer aufgebohrten 50er KTM, nach tausend Tricks auf der Freerider-Rampe, nach coolen Mädchen oder von mir aus auch nach Fachbereichsarbeit. Oberstufe kann schon richtig cool sein. Johnny wird in die 3. HAK gehen, ich komme einfach ins BORG. Mal sehen, wer und was mich dort alles erwartet. Wahrscheinlich werden die Vektoren wieder einen Scheinangriff auf mich starten. Ohne Mohammed werde ich ihnen schutzlos ausgeliefert sein. Wenn ich nur an diese Pfeile und die Verschiebungen von Objekten im Raum denke, wird mir mulmig zumute. Latein werde ich auch haben. Und eine zweite lebende Fremdsprache – die ist wenigstens schon gebongt: l‘Italiano, ovviamente.

Apropos, meine echte Mamma meldet sich wieder. Dal vivo da Napoli. Ihr Skype-Gesicht lächelt einen halben Meter vor mir: so nah, so fern, so unerreichbar. Auf dem Display, wo sich sonst Online-Gangster, Pornodarsteller oder angehende Selbstmörder tummeln. Meine Mamma sieht echt cool aus mit den dunkelblonden Haaren und ihrer quirligen Art. Sie führt jetzt eine Pizzeria im Centro Storico, die Insolito heißt. Ungewohnt heißt das auf Deutsch. Ob ihre Pizzen dort achteckig sind oder mit Würstchen und Pommes belegt werden?

Meine Mamma lacht gefühlte zehn Minuten lang, dann hört sie mir zu. Ich meine, RICHTIG zu. Stellt nur wenige Fragen zwischendurch. Und ist mehr oder minder schockiert. Auf italienisch hört sich alles weit weniger schlimm an, finde ich. Okay: die wildesten Sachen spare ich aus. Kevins Schmuddelfilme zum Beispiel, meine ersten schnellen Tabletten oder dass mir Johnny ein paar Mal im Schulklo einen geblasen hat.

Das meiste erzähle ich aber. Meiner echten Mamma stehen die Haare zu Berge, wie man so sagt. Dann telefoniert sie eine Stunde mit meinem Vater. Irgendwas hecken die beiden garantiert mit mir aus. Ich lehne mich aus dem Fenster meines Zimmers und spucke ungefähr fünfzig Mal auf die Regentonne im Garten. Ich warte auf etwas, das nicht eintreten wird. Autos fahren auf der Bundesstraße im Hintergrund vorüber. Warmer Regen schraffiert die Landschaft. Ich schäle die Noppen meines besten TT-Schlägers herunter und zersäge das Holz. Irgendwie kommen mir die Tränen dabei. Vielleicht weil ich mich gerade selber verrate.

Ein paar Stunden später verirrt sich eine Kurznachricht auf mein Handy. Wer zum Teufel schreibt mir armen Irren ein SMS? Wo es längst WhatsApp, KiK, Signal oder was weiß ich alles gibt. Ich will den vermeintlichen Irrläufer schon löschen, dann sehe ich genauer hin. Dieses SMS sieht anders als die anderen aus. Es ist, verdammt, es ist ein … elektronisches Flugticket. Für die Strecke Klagenfurt – Frankfurt – Milano – Napoli. Hin und leider auch wieder retour. Trotzdem – wow!

Ich springe vor Freude in die Luft. Sause in nicht einmal drei Sekunden ins Wohnzimmer hinunter. Umarme meinen Papa, seine Ersatzfrau und sogar den unerträglichen Dolm von Stiefbruder. Ich muss wirklich außer mir sein. In einer anderen Welt. Wo es keine Killerviren, keine verdammten Schularbeiten und keine Messerattacken mehr gibt. In einer Art Paradies. Wo alle Wünsche erfüllt werden. Und die Zufriedenheit regiert. Die Freude. Der Jubel. Der Eierkuchen.

*

Wir fahren zum Flughafen, mein Vater und ich. In seinem schwarzen 5er BMW, auf dem ein Werbebanner für seinen Zweiradhandel lackiert ist, im Orange der geilsten Motorradmarke der Welt. Auf der Rückbank thront ein nagelneuer Samsonite mit meinem Namensschild dran. Im Kofferinnenraum regiert noch das Unterstufendasein: ein Universum aus zerrissenen Jeans, krassen T-Shirts und zu engen Boxershorts. Und der üblichen schwarzen Stoffhose, falls ich einmal doch auf schick eingeladen werde. Ein weißes Leinenhemd findet sich auch noch im Wäschemüll. Diesen Fetzen werde ich garantiert nicht anziehen. Aber die Erwachsenen scheint so ein weißes Hemd zu beruhigen. Auf jeden Fall mehr als meine T-Shirts mit dem Stinkefinger und dem Fuckyou in hundert verschiedenen Sprachen drauf.

Mein Vater macht sich Sorgen, ob ich überhaupt in einem Stück ankommen werde. Du musst zweimal umsteigen, mein Lieber. In Frankfurt, dem drittgrößten Flughafen der Welt. Und in Milano Malpensa, was eine andere Bezeichnung für Chaos, Unzucht und Verbrechen aller Art zu sein scheint. Außerdem sind dort vor zwanzig Jahren zwei Jets bei dichtem Nebel ineinander gekracht. Die Sorgenfurchen auf der Stirn werden tiefer, der Optimismus meines Vaters verschwindet wie eine Maus in der Sockelleiste.

– Papa, wir haben jetzt Juni. Da gibt es keinen Nebel in Mailand.
– Dafür Elektrosmog, vierzig Grad im Schatten und weiß der Teufel noch was. Du bist ja erst vierzehn, seufzt mein Vater.
– Aber Jahre, Papa, nicht Monate.

Ich habe keinen blassen Schimmer, warum mein Dad plötzlich solche Bedenken hat. Ich sollte ihm aufzählen, was ich in den letzten Monaten alles angestellt habe. Nein, lieber nicht, sonst wird er mich nicht am Flughafen, sondern beim schulpsychologischen Dienst abliefern. Oder gleich in der Klapsmühle, Tür an Tür mit Kevin, den sie von der U-Haft in die Psychiatrie überstellt haben. Sein Anwalt wird auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren, habe ich gehört. Trifft den Nagel auf den Kopf. Zurechnungsfähig ist der Typ noch nie gewesen.

Am Flughafen in Klagenfurt ist nie etwas los, weil im Schnitt höchstens zwei Flugzeuge pro Tag abheben. In der kahlen Abflughalle warten ein paar Verlorene auf die Maschine nach Frankfurt. Auf einer uralten Anzeigetafel klappern Flugnummer und Abflugzeit auf beigen Lamellen miteinander um die Wette. Wir sind mindestens eine Stunde zu früh da. Das Einchecken (das Gepäck geht gleich durch nach Neapel) dauert drei Sekunden. Um ein Haar hätte ich den neuen Reisepass am Check-In-Schalter vergessen. Die Nerven meines Vaters sind endgültig ruiniert. Er schwitzt sein zweitbestes Hemd durch und fragt sich schon, ob es eine gute Idee war, den vierzehnjährigen Idioten in ein richtiges Flugzeug zu setzen. Wir gehen hinauf ins Air-Rest. Ich bestelle einen Eiskaffee, Papa einen doppelten Espresso.

– Sag Antonia einen schönen Gruß von mir.
– Wem?

Ich verstehe nur Stazione di Napoli Centrale. Ein paar meiner Cousins dealen dort. Ich freue mich schon richtig auf den ersten Spinello.

– Deine Mutter heißt so.
– Ach ja, stimmt. Richte ich aus. Was noch einmal genau?

Papas komischen Gruß, okay. Klingt ein bisschen so, als würde er sich noch einmal in dieselbe Falsche verlieben. Die Erwachsenen sind kompliziert. Auf meinem Smartphone wummern die guten Wünsche aus einem früheren Leben: Wow, ganze vier Wochen in Neapel, echt cool. Schade, dass du nicht bei der Abschlussparty dabei sein wirst. Mach’s gut, du blöder Wichser. Wir sehen uns im Herbst in der Oberstufe. Stimmt es, dass sie in Neapel noch immer kein WLAN haben?

Hmmm. Ich hoffe schon, wie soll ich denn sonst Trevor, Michael, Hank und die anderen Jungs in Los Santos treffen? Ich löffle meinen Eiskaffee fertig. Die Kombination zwischen Vanille und Kaffee fasziniert mich irgendwie. Wichsen wäre jetzt auch super. Ich überlege, ob ich mir am Klo vom Air-Rest einen Drei-Minuten-Porno reinziehen soll. So eine Gruppenorgie, wo alle möglichen Leute übereinander herfallen. Da spritze ich sicher gleich die Klowände hoch.

– Woran denkst du?

Die Stimme meines Vaters, von sehr, sehr weit her.

– Hmmm. An nichts bestimmtes, eigentlich.

Nur an eine schwarze Nutte, die sich ein Dutzend Riesenschwänze in alle Löcher stecken lässt. Ich bin genauso debil wie alle anderen Wichser. Sitze mit einer Latte am Tisch und hoffe, dass das T-Shirt lang genug ist, um meine minderjährige Geilheit zu verstecken.

– Ich denke an das, was passiert ist, Papa.
– Verstehe. Versuch nicht so viel daran zu denken.

Ein tiefer, skeptischer Blick in die Augen. Ich glaube, mein Alter ahnt, woran ich wirklich gedacht habe. Er lächelt verständnisvoll. Bezahlt die Air-Rest-Rechnung und schüttelt mir vor dem Gate noch die die Hand. Ich fühle mich wie 21, und nicht mehr wie 14. Wie dieser Eishockeyspieler dort drüben, der gerade nach Kanada aufbricht. Weil er vor zwei Wochen einen Vertrag bei den Vancouver Canucks unterschrieben hat oder so. Er feuert eine WhatsApp-Meldung nach der Anderen raus. Es fehlt nicht viel, und ich würde ihn auf Knien um ein Autogramm bitten. Zehn Minuten später sitze ich in derselben Maschine wie mein NHL-Idol und komme mir verdammt erwachsen vor: nicht besonders schwer, bei den alten Säcken hier. Oft bin ich noch nicht geflogen, vielleicht zwei oder drei Mal. Irgendwie ist es spannend, durch so ein verdammtes Bullauge auf die riesigen Triebwerke zu starren. Für ein paar Minuten zumindest.

Noch bevor der Airbus abhebt, penne ich ein. In Frankfurt rüttelt mich eine uralte Stewardess wach. Ihr Gesicht sieht aus, als wäre die Auferstehung ein Deep Fake des Teufels. Noch bevor ich richtig schnalle, wo ich überhaupt angekommen bin, hetze ich an 300 Gates vorüber zur nächsten Verbindung nach Mailand und verpasse um ein Haar die Alitalia-Maschine. Zwei Sekunden, nachdem ich den Airbus betreten habe, wird die Luke hinter meinem Eastpak-Rucksack geschlossen. Früh vergreiste Leute starren mich feindselig an. Schütteln ihre Köpfe wie Marionetten und tuscheln miteinander. Ich suche mir den letzten freien Platz ganz hinten vor dem WC. Neben mir sitzt ein Typ mit Turban und liest den Koran. Er sieht irgendwie ungut drein, wie jemand, der mindestens eine Entführung plant, oder ein Attentat mit fünftausend Opfern. Vielleicht tut ihm auch nur ein Zahn weh. Oder er hat einen IQ von 200.

Gegen Abend komme ich in Napoli an. Die Sonne geht gerade unter. Die Landung zwischen dem Meer und dem Vesuv war echt nice. Vor der Abfertigungshalle stehen die Flugzeuge irgendwie wirr durcheinander. In Frankfurt waren die Maschinen wie aufgefädelt, aber hier sieht es voll nach einem Massencrash aus. Das ist eben der Süden: alles steht planlos herum, nichts wird aufgeräumt. Und trotzdem funktioniert es irgendwie. Zumindest geht nichts in Flammen auf, heute Abend wenigstens nicht.

Am Gepäcksband gestikulieren und schreien die Leute in einer seltsamen Sprache herum. Zuerst verstehe ich gar nichts. Ob das überhaupt Italienisch ist? Ich höre etwas genauer hin und kapiere die ersten Wörter, die ersten Sätze, und vor allem die ersten richtigen Flüche. Irgendwo im Wirrwarr der Ankunftshalle entdecke ich Antonia. Meine richtige Mamma. Die mit den zwei m. Sie strahlt mich an und nimmt mich fest in die Arme. Als hätte meine Reise fünfhundert Jahre und nicht sieben Stunden gedauert.

– Da staunst du, dass ich in einem Stück angekommen bin, oder?

Ich habe sogar meinen Samsonite dabei. Dieses graue Monster auf vier Rollen. Um ein Haar hätte ich ihn auf dem Gepäcksband nicht wiedererkannt. Glückerweise war es der allerletzte Koffer, der auf dem verdammten Band lag. Küsschen links und rechts. Und dann noch eins. Gefolgt von einem Redeschwall auf Italienisch. Ich antworte kaum. Die ersten Sätze kriechen extrem langsam über die Lippen hervor, wie digitale Würmer oder so ähnlich. Mein Hirn ist noch auf das deutsche Betriebssystem eingestellt. Der Samsonite rollt hinter mir her wie ein gut dressierter Bernhardiner auf Rädern. Irgendwie habe ich sogar das Gefühl, dass er bellt.

Draußen mache ich ein Selfie von mir und dem Ankunftsgebäude im Hintergrund. NAPOLI-CAPODICHINO steht über meinen schwarzen Emo-Haaren geschrieben. Ich stelle das Pic auf Insta, Twitter, WhatsApp und sogar auf Facebook, damit auch mein Vater mitkriegt, dass ich es bis Neapel geschafft habe. Auf dem Zuckerberg-Account sind ja nur noch die alten Leute. Die Fünfzigjährigen mit ihren Harleys und einer Vorliebe für verzerrte Gitarren.

Wir brauchen eine halbe Stunde, bis wir im Parkhaus das Auto gefunden haben. Und dann noch einmal fünfzehn Minuten, bis wir den Kassaautomaten entdecken. Meine Mamma ist noch planloser als ich. Voll sympathisch. Absolut kein Zweifel, dass sie meine richtige Mutter ist, und nicht diese Schreckschraube aus Hamburg.

Antonia hat ein feuerrotes Auto, das kaum größer als unsere Waschmaschine in der Einbauküche ist. Der Samsonite hat knapp auf der Rückbank Platz. Ich quetsche mich auf den Beifahrersitz, im Kofferraum lagern drei Kisten Rotwein. Meine Mamma fährt los. Mit durchdrehenden Rädern und aufheulendem Motor. Es ist original wie in gta v. Ein paar Passanten im Parkhaus zeigen uns den Mittelfinger. Ma noi, non ce ne freghiamo di niente. Rasen die 28 Decks nach unten, erreichen in Null-Komma-Nichts die Auffahrt auf die Tangenziale und glühen auf einer Art Autobahn dahin, die Karre meiner Mutter wiegt höchstens dreihundert Kilo, wird aber locker zweihundertdreißig PS haben. Ein Meteor mit Verbrennungsmotor. Wie in einem futuristischen Computerspiel, das erst nächstes Jahr rauskommen wird. Meine Mamma wechselt ziemlich irre die Fahrstreifen, dann fingert sie eine Zigarette aus dem Päckchen hervor und gibt sich selber mit einem silbernen Zippo Feuer. Überall um uns hupt es in hundert Tonlagen. Die Abstände zu den anderen Fahrzeugen schrumpfen in den Millimeterbereich.

– Magst du auch eine?
– Was?
– Eine Zigarette, ob du eine Zigarette willst?

Wow. Zuhause kommt so ein Angebot in hundert Jahren nicht vor. Ich stochere im halbvollen Päckchen herum und hole mir eine MS mit weißem Filter heraus. Sieht irgendwie schwul aus. So eine Mädchenzigarette halt. Fehlt nur noch, dass sie Menthol-Geschmack hat. Ich paffe den Rauch gegen die Windschutzscheibe und fühle mich von Lungenzug zu Lungenzug besser. Draußen stehen der Verkehr und die Luft gleichermaßen. Im Wageninneren hat es ungefähr 150 Grad. Die feuerrote Waschmaschine mit den sechs Turbozylindern hat keine Air Condition, dafür läuft im Radio ein Edoardo-Benatto-Song. Eine Million Jahre alt und noch immer saugut. So krass wie sich der Verkehr vor uns staut, werden wir frühestens gegen Mitte des nächsten Jahrhunderts im Centro Storico ankommen.

– Stimmt es, dass du ganz gut Gitarre spielst und ein As im Tischtennis bist?
– Hmmm, ja. So ungefähr. So gut auch wieder nicht.

Am liebsten würde ich Antonia vorflunkern, dass ich der Allerbeste im Sport sei, der Obermacker mit den raffiniert geschnittenen Bällen und den sagenhaften Returns. Beinahe unschlagbar in der U-16-Liga. Aber ich bringe es nicht übers Herz, ihr die Sterne vom Himmel zu lügen. Auch wenn ich es wollte. Ich kann es nicht. Ich brauche Antonia nur anzusehen und werde automatisch irgendwie – ehrlich. So ungefähr halt. Wie alles ungefähr ist in meinem scheiß Leben.

Wir kommen am Bahnhof vorbei, wo jeder zweite mit etwas Verbotenem dealt. Die ersten fünfhundert Motorini knattern vorüber. Die allermeisten Fahrer darauf sind höchstens zwölf Jahre alt. Keiner von ihnen trägt einen Helm. Kopfschutz ist hier was für absolute Anfänger. Was in Österreich streng verboten ist, scheint in Neapel ganz normal zu sein. Die Stadt gefällt mir immer besser, obwohl ich noch nicht einmal richtig angekommen bin. Ich rauche die nächste Zigarette und komme mir wie der Prinz von Kampanien vor. Meine Mamma erzählt von ihrer Pizzeria im Centro Storico. Vor kurzem hat sie dafür eine Auszeichnung bekommen. Eine Urkunde und 96 Punkte, soweit ich das mitkriege. Jetzt brummt das Geschäft, die Leute stehen Schlange, und die ins Lokal hineingesteckte Kohle beginnt sich langsam zu rentieren.

Mit so einer coolen Erfolgsstory kann ich nicht aufwarten. Ich erzähle von der Messerstecherei im Schulhof, von meinem toten Freund Mohammed, ich erwähne sogar Johnny und berichte, dass ich entgegen aller Erwartungen doch in die Oberstufe komme. Irgendwie traue ich mir selbst nicht über den Weg. Was ich erzähle, klingt aufgesetzt, falsch. Zu einem Klumpen geronnen, von der Realität zunichte gemacht. Als hätte ich gar nichts zu erzählen. Zumindest nichts über mich selbst. So richtig ehrlich bin ich auch wieder nicht.

Im „Insolito“ verdrücke ich erst einmal eine Pizza Margarita vom geilsten: einen riesigen Fladen aus roten Kreisen, weißen Batzen und etwas Olivenöl. Mit perfekt aufgebogenem, knusprigem Rand. Für mich hundertfünfzig Punkte von hundert. Ich nehme mir vor, die Pizza langsam und bedächtig zu genießen. Und bin in nicht einmal drei Minuten fertig damit. Das Lokal ist voller als voll. Antonia stellt mir das zweite Glas Weißwein auf den Tisch.

– Hey, Mamma, ich bin doch erst vierzehn.

Außer Bier und Wein gibt es hier nur Mineralwasser und Bio-Cola. Kein Red Bull weit und breit. Dafür das Riesenschild über der Bar: „Non hai bisogno di bevande energetiche – perché la vera energia sei tu.“

Der Stuhl, auf dem ich sitze, wackelt ein wenig. Aber egal, ich wippe sowieso mit beiden Beinen herum. ADHS auf billig. Die meisten Leute im Lokal sind Studenten oder Hipster mit Vollbart und einem IQ jenseits von 130. Jeder von denen weiß garantiert, was Vektoren oder Integralrechnungen sind, beherrscht drei Fremdsprachen und fünf Betriebssysteme. Ein paar Tische weiter sitzen wenigstens zwei Familien mit Kids im Volksschulalter. Es ist elf Uhr abends, und in Österreich würden garantiert die Bullen einschreiten: jetzt aber raus mit den Nasenbohrern, die haben seit 21 Uhr im Bett zu sein.

Gegen Mitternacht kommt Marcello vorbei, einer meiner tausend Cousins. Er ist siebzehn, trägt Jeans, die mehr aus Löchern als aus allem anderen bestehen und riecht so verkifft wie zehn Reggae-Musiker auf dem Rototom-Sunsplash in Benicàssim.

– Salve, Bellino, ich soll das für dich abgeben.

Er wirft einen Zündschlüssel auf den kahl gefressenen Pizzateller. Nicht einmal die verbrannten Stellen am Rand habe ich übriggelassen. Am liebsten hätte ich auch noch die Aschenreste vom Teller geleckt. Ich schaue ungläubig auf den Schlüssel zu einer KTM wie ich sie immer haben wollte, dann linse fragend ich zu meiner Mamma hinüber. Sie lächelt mich an und nickt zum Fenster hinaus. Draußen neben dem Eingang steht das Motorino. In schockorange. KTM pur.

– Irgendwie musst du dich durch Neapel bewegen. Außerdem bist du schon vierzehn Jahre alt.

Sie lächelt und schüttelt ihre langen dunkelblonden Haare (also blond gefärbt, weil sie eigentlich schwarzhaarig ist. Warum in aller Welt hat mein Vater je mit ihr Schluss machen müssen?).

– In einer halben Stunde fahren wir los. Ich mit dem Mini voran, du mit der KTM hinterher. Alles klar?
– Ähm. Ja. Grazie. Grazie mille. Bin ich ja gar nicht wert.
– Oh doch, du bist tausendmal mehr wert, tesorino mio. Außerdem bist du richtig groß geworden.
– Ja, 176cm. Im letzten Jahr um 15cm gewachsen.

Da ich jetzt ein Motorino habe, darf ich mir auch das zweite Glas Weißwein genehmigen. Das Zeug schmeckt voll sauer oder so, ist auf jeden Fall nicht ganz meins. Als keiner hersieht, schütte ich etwas Bio-Cola ins Glas. Schmeckt gleich viel besser. Als Marcello das bemerkt, lacht er mich aus. Irgendwie habe ich gerade was vollkommen Un-Italienisches gemacht. Was auf dem Feuerwehrfest von St. Urban Standard ist, wird hier in den neunten Höllenkreis verbannt.

Zehn Minuten später wandert in einer finsteren Einfahrt der erste Joint zwischen uns hin und her. Ich fühle mich mit einem Schlag fünf Jahre älter und kriege einen Ständer vor lauter Begeisterung. Motorino, Weißwein, Joint – was kommt als Nächstes? Eine geile Nutte, die nachts um eins in meinem Bett liegen wird: Nackt, mit gespreizten Beinen, glattrasiert, diesem Schlafzimmer-Blick: na, bist du endlich da, Baby?

Natürlich kommt es ganz anders. Wie es im Leben von Erwachsenen so ist, hat auch meine Mamma einen Neuen. Er heißt Rocco, macht irgendetwas mit Stadtplanung (muss ich morgen googlen, was das genau ist, er wird doch nicht diese chaotische Stadt da draußen geplant haben) und sieht ziemlich gebildet aus (Vollbart, Nickelbrille, Zigarillos rauchend). Außerdem hat er einen Sohn namens Virgilio. Ich brauche nicht einmal dreißig Sekunden, um heraus zu finden, dass der Junge mehr als nur durchgeknallt ist: er kennt tausende Sexpraktiken, hunderte Darknet-Seiten und hat jede Menge Speed im Kopfpolster versteckt. Nicht einmal ein Monat jünger als ich und schon zehn Mal gefickt.

– Ich habe sogar schon einmal einen Tripper gehabt.
– Einen was?

Zuerst denke ich an Innereien, dann recherchiere ich einer Geschlechtskrankheit hinterher. Die Google-Bilder sind ekelhaft. Eitrige Schwänze, entzündete Mundhöhlen, großflächige Entzündungen, Würmer. Ich nehme mir vor, bis zum neunzigsten Lebensjahr nur noch vom Wichsen zu leben.

– Hab dich nicht so. Das geht mit ein paar Impfungen wieder weg.

Virgilio grinst mich an. Vor seinem räudigen Lachen komme ich mir ein Neunjähriger vor. Ich spiele meinen einzigen Trumpf aus: die Messerstecher-Geschichte. Jetzt oder nie. Ich erfinde ein paar Extra-Einlagen dazu, damit die Story auch richtig rein fetzt.

– Nett, antwortet Virgilio, aber wir haben so Baby-Gangs hier: Elfjährige, die ihre Großmütter abmurksen und deren Leichenteile in einer Biotonne verscharren.

Eines weiß ich schon jetzt: ich werde die nächsten vier Wochen auf keinen Fall den Restmüll zu den Blechtonnen im düsteren Hinterhof schleppen. Wer weiß, welche abgeschnittenen Köpfe mich da aus irgendwelchen Plastiksäcken anstarren würden. Ich gebe mich noch nicht geschlagen und versuche einen letzten Joker auszuspielen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier alles in einem Desaster enden wird.

– Virgilio, kennst du gta v?

Mein neuer Stiefbruder starrt mich skeptisch an. Ich spüre, wie ich Oberluft gewinne und setze wie ein nerdiger IT-Diplomingenieur nach.

– Dafür braucht man eine Wlan-Verbindung. Breitwand-Internet. Und Arm dicke Glasfaserkabel.

Ich grinse verdammt smart. Meine mitteleuropäische Leitkultur ist mit beiden Händen zu greifen. Anstelle einer Antwort holt Virgilio einen Revolver aus seinem Schülerrucksack heraus. Eine Beretta 92 oder so. Sieht ziemlich echt aus.

– Vergiss das „abbastanza“. Und komm mir ja nicht mit deinem verdammten Computerspiel in die Quere.

Virgilio ploppt pubertär an einem roten Kaugummi herum und schiebt eine Patrone in die Revolvertrommel. Macht das Fenster auf. Zielt in den Himmel über Neapel. Und drückt ab. Es fehlt nicht viel, und ich hätte original in meine Boxer geschissen.

– Ruhe im Kinderzimmer, es ist ja schon eins, hören wir Rocco im Wohnzimmer schreien.

Andere Eltern hätten wie entfesselte Cops das Zimmer gestürmt.

– Hey, die ist ja…echt.
– Was glaubst du denn, das ist Kampanien da draußen.

In der lauen Nacht sind weitere Schüsse zu hören. Dann Hundegebell. Und Geräusche, als ob jemand einen nassen Fetzen gegen die Wand schlägt.

– Ach, die dort drüben verdreschen nur ihre eigenen Kinder.
– Dimmi, Virgilio. Habt ihr hier eine Art Bürgerkrieg oder so?
– No. Napule è così. Ogne giorno, ogna notte.

Virgilio lässt die aufgeblähte Kaugummiblase vor den Lippen platzen und stopft sie mit seinen schmutzigen Fingern in den Mund zurück. Halb ekelerregend, halb geil. Achtzehn Tage jünger als ich – und trotzdem schon so grauenhaft erwachsen. Ich meine, der Typ hat gerade mit einer scharfen Beretta aus seinem verdammten Kinderzimmer geballert. Dagegen ist Grand Theft Auto Five gar nichts. Ich frage Virgilio, ob er schon mal auf einen Menschen geschossen hat.

– Kein Kommentar.
– Also – ja?
– Frag nicht so dämlich. Wer zu viel fragt, lebt hier ziemlich gefährlich. Am besten du gehst jetzt nebenan und pennst eine Weile.

Leicht gesagt. In dieser Nacht schlafe ich kaum. Zuerst versuche ich zu zocken (das Internet lahmt hier wie eine angeschossene Bergziege), dann skype ich mit Johnny, der nachts um halb zwei auch noch on ist. Meine Message in einem Satz zusammengefasst lautet: Stell dir vor, hier ist echt alles erlaubt, was bei uns verboten ist und so weiter. Ich erwähne noch die Beretta, den gemeinsam mit Marcello gerauchten Joint und erfinde die Nutte in meinem Gästebett einfach dazu. Unser Videochat endet mit einem Schwall Sperma gegen die Kameralinse begleitet von Johnnys aufgegeiltem Gestöhne. Irgendwie habe ich mir dabei auch einen runtergeholt, aber eigentlich nur, um den Pulvergestank der Beretta zu vergessen.

Nachdem ich zwei vollgesogene Taschentücher im Klo versenkt habe, schaue ich den blutroten Mund über dem Dach gegenüber an und versuche bis hundert zu zählen. Ich kann immer noch nicht schlafen. Im Selbstmordforum „LAST EXIT FOR YOU“ lassen sie gerade ein Mitglied hochleben, das gestern Nacht von einer Brücke gesprungen ist. 110 Meter tief in die Freiheit. So nach Freiheit hat der zerschmetterte Körper auf der Landstraße nicht ausgesehen, aber egal: Mission Complied.

Um vier Uhr dreißig schleiche ich mich in die Küche hinüber, trinke einen halben Tetrapak Milch aus und kotze hinterher das Klo voll. Danach Nasenbluten, leichtes Fieber, Durchfall, der übliche Kram. Die Pubertät halt. Alles ist in Aufruhr und irgendwie voll daneben, nur der Schwanz funktioniert einwandfrei. Dem geht es sogar richtig gut.

Am Frühstückstisch wird wieder einmal das Stück von der perfekten Familie gegeben. Alle hocken brav am Tisch, fressen Brioches, trinken Kenon-Espresso oder Caffé Latte. Mein bewaffneter Cousin, sein schrulliger Dad, der sich beruflich vor allem damit beschäftigt, wie man halb Neapel im Fall eines Vulkanausbruchs evakuiert (ich hoffe, das hat er nicht ernst gemeint – aber was, wenn doch? Ist der Schwefelgestank in der Luft am Ende gar E.C.H.T.?), dann meine aufgekratzte Mamma und ich, der ungefähr dreißig Sekunden gepennt hat. Es ist zehn Uhr morgens, für Neapel gerade Tagesanbruch (klar, wenn man noch um ein Uhr nachts aus dem Fenster ballert).

Radio Kiss Kiss berichtet von einer Baby-Gang, die letzte Nacht dreihundert Autoreifen aufgeschlitzt hat. Irgendwo da draußen im Off. Wo es nur so Wohnsilos, brennende Müllhalden und jede Menge Dope gibt. Nicht weit vom Vesuv. Ob er irgendwann wieder einmal ausbricht? Ich muss mir ein paar YouTube Vids zu diesem Thema reinziehen. Falls hier das Internet überhaupt einmal funktioniert. Kein Wunder, dass es tausende Diebsbanden gibt: Grand Theft Auto ist hier noch ziemlich analog unterwegs.

Da ich der Neue am Tisch bin, werde ich erst einmal ausgefragt. Erwachsene lieben es, dauernd Fragen zu stellen. Virgilio ist froh, dass er einmal unbehelligt bleibt und ich die Antworten rausschieben muss. Ab und zu verlacht er mein mieses Nebenerwerbsitalienisch. Virgilio grinst überhaupt die ganze Zeit. Kommt sich verdammt überlegen vor, weil er eine Beretta 92 in seinem Eastpak-Rucksack spazieren führt. Wahrscheinlich hat er noch zehn Springmesser, einen Schlagring und fünf Totschläger dabei.

Nach der Fragestunde haut meine Mamma ins „Insolito“ ab. Rocco bequemt sich in die nächste Bar, dann zum Tabaccaio. Gegen Mittag wird er im Municipio eintrudeln. Stress sieht irgendwie anders aus. Ich beuge mich aus dem Fenster und starre auf die Straße hinunter: Dauerstau, nervöses Gehupe und klapprige Motorräder, die sich links, rechts, oben und unten einen Weg bahnen. Und jede Menge Leute, die wenig Erbauliches vorhaben.

In der Wohnung gegenüber schlägt ein Mann eine Frau. Dann zieht sie ihm eins mit einer Stielpfanne über. Danach reißt er ihre Kleider vom Leib und nimmt sie von hinten. Ich glaube, er fickt sie sogar in den Arsch. Johnny wäre begeistert. Ich dagegen zünde mir eine Marlboro an, tausendprozentig eine falsche. Neapel ist so anders als Österreich. Virgilio kommt zu mir ans Fensterbrett. Ich sehe ihn von der Seite her an. Misstrauisch hoch zehn. Wer weiß, ob er nicht ein Küchenmesser dabeihat. Ich schenke ihm eine gefitzelte Marl. Wir paffen die Kippe als Friedenspfeife oder so ähnlich. Virgilio hat eine Million schwarze Locken. Total dunkle Augen. Riesige Lippen. Einen dünnen Body. Die hellblaue Dieseljeans passt perfekt. Kann schon sein, dass die halbe Schule auf ihn steht. Leider hat jetzt das Lyzeum geschlossen, mindestens bis September. Den Sommer über wird wohl Virgilios rechte Faust Hochsaison haben.

– Magst du mit mir zu Claudio schauen?

Ich zucke mit den Achseln. In der Wohnung gegenüber sind die Erwachsenen mit dem Analverkehr fertig. Die Frau fängt an zu kochen, ihr Mann versucht ein Kreuzworträtsel zu lösen. In dieser Stadt scheinen maximal fünf Leute einen sinnvollen Job zu haben: vier Mafiabosse und der Leichenbeschauer.

– Wer in aller Welt ist Claudio?
– Ein cooler Typ. Wirst schon sehen.

Irgendwie höre ich aus diesen Satz eine brandgefährliche Warnung heraus. Ein cooler Typ in Neapel? Wahrscheinlich dealt er mit Chrystal Meth oder hat achtundzwanzig überfallene Reisebusse auf dem Gewissen.

– Kann es sein, dass du ein ziemlicher Angsthase bist?

Wieder das schiefe Grinsen in meine Richtung. Virgilio stößt dreihundert Rauchringe aus. Beim Knutschen muss sein Zungenschlag einen Orgasmus nach dem anderen auslösen. Ich frage mich, warum mir ausgerechnet jetzt so etwas einfällt.

– Glaub ich nicht, antworte ich wenig überzeugend.
– Glaub ich schon.
– Vaffanculo.

Plus leichter Schlag in die Hüfte. Virgilio antwortet mit einem Deuter in die Magengrube. Ich bekomme kaum Luft, aber nach fünf Sekunden raufen wir richtig. Das Analverkehrsehepaar gegenüber feuert uns an. Irgendwie gefällt es den Alten, uns beim gegenseitigen Fertigmachen zuzusehen. Der zahnlose Typ dort drüben hat sicher schon beide Weltkriege erlebt.

Nach einer halben Stunde Amateur-Wrestling und Vollkontaktkarate auf billig einigen wir uns, dass es Unentschieden war und verbinden im Bad unsere Wunden. Virgilio hat ein Cut an der rechten Augenbraue, und ich ein eingerissenes Ohr. Der rote Saft rinnt bei uns beiden in richtigen Bächen herunter. Irgendwie geil, wie im Bürgerkrieg oder so. Ich bemerke erst jetzt, dass Virgilios Zunge gepierced ist und dass er ein paar Tattoos am Oberkörper hat. Sieht gefährlich aus. Nach Jugendknast oder Baumschule oder staatlicher Erziehungsanstalt.

– Krieg dich ein, sowas hat hier jeder zweite Scugnizzo. Findest du das nicht auch cool?
– Hmmm. Klar, ich finde alles cool, was verboten ist.
– Genau die richtige Einstellung für Partenopea.

Was ist das schon wieder? Habe ich jetzt einen Altphilologen auf Acid vor mir? Einen, der sich fünf Tattoos auf die Brust und die Oberarme ritzen lässt, dessen Zunge und Bauchnabel gepierced sind? Der schon mit dreizehn einen eitrigen Schwanz hatte? Und obendrein auch noch Altgriechisch kann? Oh Mann. Ich habe das Gefühl, dass Österreich ein verdammtes Paradies gegen diese Müllhalde hier ist. Wo die Wäschestücke wie Fahnen über die Straßen gehängt sind und vis-a-vis bei weit geöffnetem Fenster dem Analverkehr gehuldigt wird. Wo grundlos Schüsse in die Nacht hinaus geballert werden. Um Ein Uhr früh. Aus einem Kinderzimmer.

– Also düsen wir jetzt zu Claudio oder nicht?

Allein diese Frage: ci andiamo in motorino? Ich fühle mich richtig erwachsen. Ich habe einen Zündschlüssel in der Hosentasche und eine KTM in Alarmorange vor der Tür stehen. Was noch fehlt, ist ein Mädchen. Dann wäre das Leben perfekt. So perfekt wie Neapel. Wie das Leben da draußen.

*

Der Typ wohnt in den Quartieri Spagnoli. Am Ende einer winzigen Gasse in all dem Straßenwirrwarr, in einem herunter gekommenen Haus, wo es leicht nach Verwesung riecht, nach Camorra, nach Gefängnis oder endloser Flucht. Fast eine Stunde lang flitzen wir mit unseren Motorini durch Gassen, die alle gleich herunter gekommen aussehen und mit Menschen, Tieren und Fahrzeugen überfüllt sind. Irgendwann biegt Virgilio ab und zwängt seine 50ccm-Maschine durch eine kaputt aussehende Holztür. Wir erreichen einen winzigen Hinterhof, in dem eine tote Katze herum liegt und sich ein Junge irgendetwas in den Arm spritzt.

Zuerst denke ich an einen Diabetiker, der sein Insulin braucht, aber dann bemerke ich den Löffel, das Feuerzeug, das Stanniolpapier. Die kaputt getragenen Jeans. Die vielen Einstiche am Unterarm, und die stumpfe, verdreckte Spritze. Der Junge ist vielleicht 16 Jahre alt und zappelt wie ein gerade gefangener Fisch, dann stöhnt er auf und wird ruhig, lehnt den Kopf gegen einen Plastiksack voller angefaulter Melonen und grinst zu uns rüber. Aus seinen Mundwinkeln rinnt ein dünner Blutfaden.

– Ähm, buon giorno.

Mann, klingt das doof von mir. Der Junge hat sich gerade mit Heroin weggebeamt, und ich sage Guten Tag auf Italienisch zu ihm, hey, wie gehts, alles cool, wie ist der Stoff? Auch so gut wie das Wetter? Virgilio boxt mir in die Hüfte und meint, dass ich nicht so doof glotzen, sondern lieber den Sattel von meinem Mofa schrauben soll.

– Warum denn?
– Weil sonst das Ding weg ist und du auf dem verdammten Rohr sitzen musst. Wir sind mitten in den Quartieri Spagnoli, da gibt es nicht nur Erzengel. Sieh dir nur Andrea an.
– Wen?

Ich drehe mich um. Weit und breit kein Mädchen da. Nur eine tote Ratte und dieser Drogenabhängige, der erste echte, dem ich in meinem Leben begegne. Das Zeug in seinen Venen muss so stark sein, dass sich sein Bewusstsein bereits zwischen einer digitalen Cloud und dem Jenseits befinden muss. Virgilio hilft mir beim Sattelabschrauben und flüstert, dass er Andrea schon länger kennt.

– Er ist okay, auch wenn er sich ab und zu etwas reinzieht.
– Ab und zu? In seinen Armen sind zweitausend Einstiche zu sehen, flüstere ich zurück, hundert Pro, dass der Typ HVI hat oder wie das heißt.
– Musst ja nicht ficken mit ihm.

Virgilio hat immer die doofste Antwort parat. Die vermeintlich tote Katze steht auf und läuft miauend in eine Art Stall. Der 16jährige Junkie namens Andrea – stimmt, in Italien ist das ja ein männlicher Vorname – fällt ins Koma.

– Strychnin. Das Heroin war sicher mit Strychnin gestreckt.
– Was? Der Typ hat sich gerade mit Rattengift ins Nirvana gespritzt?

Ich werde immer fassungsloser. Noch eine halbe Stunde Napoli, und ich möchte wieder in die Volksschule zurück. Aber in eine auf 2000 Metern Seehöhe, in einem Tiroler Seitental. Wo das einzig Gefährliche zahme Murmeltiere und die Nassschneelawinen im Spätwinter sind.

– Hey Virgilio, sollen wir nicht die Rettung rufen?

Ich schau auf mein Handy. Christian hat sich über WhatsApp gemeldet. Hast du mich schon vergessen oder so plus ein paar traurige Smileys. Mit 12 verliebt man sich in die falschesten Leute. Vielleicht sollte ich ihm ein Foto von diesem angeschimmelten Junkie schicken – beste Urlaubsgrüße aus der Vorhölle in Süditalien. Kuss auf den Schwanz, dein Ex-Lover.

– Nein, wir machen gar nichts, stellt Virgilio fest, a ciascuno la propria droga. Da ist dein verdammter Sattel. Wir gehen jetzt hinauf zu Claudio. Zweites Stockwerk, und nicht nach links oder rechts sehen, einfach meinen Hintern anstarren und hinter mir die Treppe hoch rennen, kapiert?

Wir verstecken die Mofasattel in einem Loch an der Hausmauer und zwängen uns durch eine angelehnte Türe. Zuerst weiß ich nicht, was Virgilio mit seinen Andeutungen gemeint haben könnte, aber dann höre, rieche und sehe ich etwas, was mir niemand in Österreich glauben wird, in hundert Jahren nicht. Dagegen ist der Junkie draußen bei den Mülltonnen gar nichts. Das jedenfalls ist kein Mietshaus in den Quartieri Spagnoli mehr, sondern der Neunte Höllenkreis. Garantiert. Inferno pur. Hundert Prozent analog. Die Computerspiele reichen jedenfalls nicht mehr bis hierher.

Im zweiten Stock (mir kommt es vor, als wären wir hundert Etagen hochgelaufen) läutet Virgilio an einer uralten Türe. Zweimal lang. Siebenmal kurz. Noch zweimal lang. Was soll das wieder sein: zwei-sieben-zwei.

– Das Geburtsjahr von San Gennaro, grinst Virgilio, der Schutzpatron von Neapel hilft außerdem bei Vulkanausbrüchen und segnet die Goldschmiede. Und dann ist er noch Ahnherr der Transvestiten.
– Ach komm, Virgilio, verarsch einen anderen.

Ein Typ mit langen schwarzen Haaren, markanter Hackennase und riesigen Händen öffnet uns. Irgendwo im Nirvana hinter uns jault ein Hund. Oder ein Mensch. Oder beides in einem. Dann fällt ein Schuss, und eine unheimliche Stille breitet sich aus, irgendwie tödlich. Wir gehen in die Wohnung rein, die auch ein Tattoo-Studio ist. An den Wänden hängen Gitarren und alte Kupferstiche, in der Mitte des Raumes steht eine Liege aus schwarzem Kunstleder, daneben ein schwenkbares Kunststoffding mit Spritzen und Bohrern darauf, fast wie beim Zahnarzt (mir fällt der gestörte Dr. Mahringer aus meiner Heimatstadt ein, der mit seinen fetten Wurstfingern endlose Minuten lang in meinem Mund hantierte und dabei Beethovens 9. Sinfonie in voller Lautstärke hörte).

Auf einem schwarzen Beistelltisch liegen Vorlagen aus schwerem Büttenpapier: Schmetterlinge, feuerspeiende Drachen, Riesentitten – was sich die Leute eben gerne auf die Haut pecken lassen. Minutenlang starre ich auf die Blätter und überlege mir, ob ich meine Haut auch so tapezieren lassen möchte. So ein Drache auf der Brust wäre schon cool. Dann würde ich endlich gefährlich aussehen, nach zwanzig Jahren Zuchthaus oder so. Nicht so verdammt vierzehnjährig zumindest. Ein wenig versaut und erwachsen. Wie ein halber Rockstar oder so ähnlich.

Ich schrecke aus meinem Tagtraum und drehe mich um. Virgilio und Claudio sind weg. Keine Ahnung wohin. Ich habe keine Türe ins Schloss fallen gehört. Aber ich war ja auch total mit dem Anglotzen der Ritzutensilien beschäftigt. Ich hole mein Handy heraus und schieße ein paar Fotos wie ein japanischer Tourist, der sonst nichts zu tun hat. Am liebsten würde ich Claudio anflehen, mir irgendein Cartoon in die Haut zu stanzen. Oder den Schriftzug von Grand Theft Auto vielleicht. Der hintere Teil einer Ratte, die zwischen meinen Arschbacken verschwindet, wäre auch cool. Irgendein Schwermetaller soll das mal gemacht haben. Voll die Horrorshow für die nächstbeste Freundin. Bei Johnny und seinen Online-Perversen würde so ein Tattoo höchstens Lachstürme auslösen. Ich überlege, ob ich mich auf die Pecker-Couch hauen und meinen Schwanz rausholen soll. In einem Tattooladen zu wichsen wär wenigstens einmal etwas Neues.

Die Kupferstiche starren mich finster aus ihrem 18. Jahrhundert an. Irgendetwas stimmt mit den gemalten Adeligen und Infanten aus längst vergangenen Zeiten nicht. Nach einer halben Stunde weiß ich warum: alle sind tätowiert und haben die Gesichter von Popstars. Ariana Grande lächelt mir als süditalienische Blumenverkäuferin zu. Lemmy Kilmister (Papas totes Idol von Motörhead) ist ein herunter gekommener Landgraf aus Apulien und die Swedish House Mafia grinst aus den Halskrausen dreier spanischer Infanten herunter. In einem Käfig liegt ein toter Papagei, an dem sich schon die Würmer heran machen. Alles in diesem Laden hat mit Tod und Verwesung zu tun, was heißt in dieser Wohnung – im ganzen Haus. Irgendwo röchelt ein Greis, weiter oben schreien Kinder ihr Entsetzen heraus und nebenan scheint ein Irrer mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Vielleicht bumsen sich auch nur ein paar Borderliner die Seele aus dem Leib. Irgendwie glaube ich, das Gestöhne von zwei hysterischen Lesben zu hören. Wilde Bilder spuken in meinem Hirn herum, halb Porno, halb Hyronimus Bosch. Ich versuche ein Fenster zu öffnen. Es gibt sogar nach. Ein paar armselige Tauben fliegen auf, im Hof randaliert ein Säufer und der halbtote Junkie namens Andrea hat sich längst davon gemacht. Vielleicht hat ihn auch nur der Teufel geholt. Jedenfalls riecht es da draußen eindeutig nach Schwefel.

Ich bin todsicher in der Hölle angekommen, und das mitten in Neapel. Untote wanken herum oder spritzen sich zwischen den Mülltonnen nieder, das Mobiltelefon findet kein Netz mehr und draußen riecht es nach dem ewigen Feuer. Vielleicht bin ich selber schon tot und stehe vor dem Eingang zum Inferno: Lasciate ogni speranza voi ch’entrate steht über einem mannshohen Spiegel. Aber es ist kein richtiger Spiegel. Es ist eine Tür ohne Schnalle. Durch diesen verdammten Geheimeingang müssen Claudio und Virgilio verschwunden sein. In ihr Purgatorium-Reich oder so ähnlich.

Hmm, wie hieß nochmal dieses verdammte Buch, in dem das alles genau beschrieben wird? Es ist eine Art Bibel oder nein, eher ein wilder Mix aus Minecraft, mittelalterlichem Counterstrike und Kingdom Come. Ich versuche mich an den Titel zu erinnern, aber wie so oft lässt mich mein Gedächtnis im Stich.

Ich gehe noch einmal zum Fenster, und dann sehe ich etwas. Ein Mädchen. Aber, was heißt, ein Mädchen? Es ist die Schönheit selbst, ohne Zweifel. Ich starre auf lange dunkelbraune Haare und ein perfektes Gesicht, ich bewundere die weichsten Lippen der Welt, das hübscheste Näschen und ein extrem niedliches Grübchen am Kinn. Das allerbeste sind aber die tiefdunklen Augen, ein Blick, der mich beinahe umhaut. Vielleicht bin ich der letzte Dreck, aber vor dem Anblick dieses Engels werde ich fromm. Richtig keusch. Mein Herz beginnt zu rasen. Die Hände schwitzen. Ich versuche dem Mädchen zuzuwinken, aber es geht irgendwie nicht.

Vor lauter – ja, Liebe muss dieses Scheißgefühl sein – bin ich wie gelähmt. Richtig bescheuert ist das. Meine Stimme versagt obendrein. Ich sende keine Signale mehr aus und empfange nur noch eine Springflut an Reizen. Sauge den unschuldigen Anblick tief unter mir auf. Ein Kuss ist das allerschärfste, an das ich jetzt denke. Ein harmloser Kuss, eine scheue Berührung, was weiß ich was. Auf jeden Fall nicht die übliche Gruppensexfantasie. Die mit den dutzenden Leibern, die sich stundenlang bei irgendeinem Bumstechno ineinander verkeilen.

Ich werde rot, weil das Mädchen zu mir hochsieht. Genau auf dieses Scheißfenster, an dem ich stehe. Das Mädchen lächelt und winkt mir zu, sie nimmt richtig Kontakt zu diesem kleinen Psychopathen im illegalen Tätowierladen auf. Wie verrückt diese Welt ist. Ich versuche zu lächeln. Meine Arme sind tonnenschwer. Das Gewicht des gesamten Planeten scheint auf meinen 55 Kilo zu lasten. Dass meine filigranen Knochen nach drei Sekunden knirschend nachgeben, ist klar.

– Beatrice! Dentro, devi lavare i piatti!!

Ich wünschte, es wäre Stimme des Erzengels Gabriel, aber das Brüllen gehört wahrscheinlich zu einem ganz gewöhnlichen Säufer. Immerhin kenne ich jetzt den Namen der Göttlichen: Beatrice. Etwa gleichalt wie ich, wohnhaft in einem Hinterhof in den Quartieri Spagnoli. Die größten Schätze verstecken sich oft im abscheulichsten Müll. Ist bei Call of Duty schon so, und bei Grand Theft Auto auch. In jedem Computerspiel eigentlich. Ich nehme mir vor, mit meiner Apfelsinen farbenen KTM 50 gegen Abend nochmals vorbei zu kommen, aber alleine, ohne Virgilio, Claudio und all die anderen Gangster. Ich werde auf einer geklauten Gitarre ein Minnelied spielen, richtig gut kann ich nur „Boulevard of Broken Dreams“ oder „Crack the Shutter“, auf jeden Fall etwas ohne Barré-Akkorde. Sicherheitshalber. Hoffentlich werde ich die Lyrics einigermaßen draufhaben. Aber ich kann mir ja die Texte zuvor von genius.com runterladen.

In meiner pseudoromantischen Vorstellung wird sich Beatrice hinten auf meine KTM setzen, ihre zarten Arme um meine eckigen Hüften legen, und dann, ja dann knattern wir einem sagenhaften Sonnenuntergang an der Amalfi-Küste entgegen. Unterwegs halten wir an einer Eisdiele und bestellen bei einem Zyklopen mit Augenklappe einmal Erdbeereis für Beatrice und einmal Nocciolone für mich. Wir setzen uns auf eine kleine Steinmauer und lecken uns gegenseitig das Eis von der Tüte. Dazu die tiefsten Blicke der Welt. Die ersten Berührungen. Ihre Hände, so weich und so sanft, wie der Hauch eines Engels.

Bevor meine Minnegesang Millionen Dislikes auf Youtube auslöst, geht die Spiegeltür auf. Claudio und Virgilio stehen wieder vor mir. Beide sehen irgendwie zerzaust aus, aber auch glücklich oder zumindest befriedigt. Claudio trägt jetzt die langen schwarzen Haare offen und hat einen Lederrock an, bei Virgilio steht der Hosenladen weit offen. Ähm, ihr beide habt doch etwa nicht… Ich denke an das greisenhafte Geröchel, das rhythmische Bumsen von nebenan und die hysterischen Schreie vermeintlicher Lesben.

– Halt die Klappe.

Virgilio setzt sein widerlichstes Grinsen auf und schiebt einen 50-Euro-Schein in die rechte Gesäßtasche. Ich sehe ihn mehr als ungläubig an. Ich weiß nicht einmal, wie das heißt, wenn ein Junge einen Kerl befriedigt, der Damenwäsche anhat. Wenigstens schnalle ich langsam, wo sich Virgilio den Tripper geholt hat. Hier in diesem Haus. In diesem geheimen Zimmer hinter dem Wandspiegel.

– Claudio, ritz ihm ein Tattoo in den Oberarm. Mein Stiefbruder kann nicht länger wie ein doofes Kind herumlaufen.
– Vabbé, Bellino, hock dich auf die Liege da, lächelt der tätowierte Transvestit mit der Schlangenhaut und den dreihundert Totenkopfringen, was soll es denn sein? Drache, Anker, eine Nutte mit Riesentitten?
– Nein, nur ein Herz, sage ich kleinlaut wie ein zehnjähriger Junge. Peck mir einfach ein schwarzes, trauriges Herz in die Haut. Mit einem Namen in gotischer Frakturschrift darunter, aber in Nagellackrot, in der Pantonefarbe Red 032C: Beatrice.

*

Die nächsten Tage mache ich mich selbständig – oder besser gesagt: die verdammten Schmetterlinge im Bauch haben mich flügge gemacht. Flügge ist natürlich eines von Angelas Lieblingswörtern, die hier in Neapel noch abseitiger klingen. Wie Vokabeln aus einer anderen Galaxie. Die in dieser Welt aus Gangstern, Drogenabhängigen und meinem durchgeknallten Beretta-Stiefbruder kaum etwas bedeuten.

Nonostante di tutto: mi sono innamorato di Beatrice. Obwohl ich sie noch nicht einmal kenne, habe ich mir ihren Namen in grellstem Rot unter ein schwarzes Herz stechen lassen. Rocco hat darüber gelacht, Antonia war mäßig entsetzt. Virgilio findet es cool. Christian hat via WhatsApp ungläubig darauf geglotzt. Irgendwie war er enttäuscht, dass ich nicht seinen Namen auf die Haut gestanzt habe. Er scheint sich richtig in mich verknallt zu haben. Ich versuche ihm das auszureden. Kurz bevor ich es schaffe, kommt die Antwort: Ich finde dich trotzdem so cool. So geil. So mega. Alles in Vier-Buchstaben-Wörtern.

– Na schön, wenn ich zurückkomme, hänge ich nur noch mit dir ab.
– Ach, das sagst du nur so.

Eine große Skype-Träne, fünf heulende Smileys. Um ein Haar hätte ich mir ein Sofort-Rückflug-Ticket nach Österreich organisiert. Nur um Christian zu trösten. Seine blonden Haare zu streicheln. Und ein Pistazieneis mit ihm zu teilen. Irgendwie geht es mir mit Beatrice ganz ähnlich. Nur dass ich kaum mehr als ihren Namen kenne. Ihr perfektes Gesicht flimmert wie eine Wahnvorstellung vor meinen Augen. Ich habe weder eine Handynummer noch eine Emailadresse von ihr. Nicht einmal ein Foto habe ich Idiot von diesem Lächeln gemacht, und dennoch erscheint es mir alle paar Minuten wie eine verrückte Fata Morgana – Beatrice ist da und doch nicht da. Überall in meinem Kopf, aber doch unsichtbar. Richtig scheiße ist das.

In meiner Verzweiflung mache ich Tel-Sex mit Johnny. Bei ihm ist alles so einfach: ein paar geile Startsätze, dann den Schwanz rausholen und hemmungslos wichsen. Ob es in meinem Gästezimmer bei Antonia und Rocco ist, an der Amalfi-Küste oder am Klo eines schicken Geschäftes in der Galleria Umberto: einfach raus mit dem steifen Pimmel und der verdammten Geilheit. Von meinen dreckigsten Fantasien schwärmen und mir Johnnys neueste Eskapaden anhören: ein Dreier am See. Ein Vierer in der Bahnhofsunterführung. Rudelpudern auf einem Feuerwehrfest. Wie ein Hydrant spritze ich die goldenen Kacheln des Konsumtempelklos oder auch nur einen simplen Holzboden oder doch den Sandstrand der Amalfi-Küste voll, dann ist das dämliche Skypen mit Johnny vorbei.

Ich fühle mich ausgebrannt, verloren und so verzweifelt bi. Wie jemand, der noch nicht genau weiß, was er will. Und sich alles Fleisch der Welt auf den Teller der Geilheit hochlädt. Manchmal kann ich sogar einem schorfigen Riesenschwanz oder dem Wollschwein etwas abgewinnen. Wenn das so weiter geht, kriege ich nie eine Freundin. Und Beatrice schon gar nicht. Und wenn ihr Name tausendfach in meine glatte Haut geritzt ist.

*

Nach fünf unendlich langen Tagen ist das mit der ewigen Liebe vorbei, und die Geilheit kehrt verlässlich wie der Sonnenaufgang zurück. Und mit ihr mein verdammtes vierzehnjähriges Leben: wichsen as usual. Beatrice ist im Gassenwirrwarr der Quartieri Spagnoli verschollen geblieben. Und das obwohl ich mindestens zehnmal bei Claudio zu Besuch war. Mit dem Ergebnis, dass ich jetzt Piercings auf der Zunge, an den Augenbrauen und im Bauchnabel habe, außerdem vier neue Tattoos. Das traurige schwarze Herz habe ich zu einem Raumschiff umritzen lassen. Hinter Beatrices Namen steht jetzt das Wort Submarine. Meine Liebe ist nicht erwidert worden, dafür sehe ich jetzt richtig gefährlich aus. Meine Alten daheim werden aus allen Clouds fallen, die Legende vom süßen Jungen ist jedenfalls zu Ende erzählt. So einem tätowierten Piercing-Monster gibt man garantiert nicht mehr die Kindheit zurück.

In der Via Toledo hält mich irgendwann abends eine Carabinieri-Squadra an. Einer der Bullen zielt dabei mit seinem Sturmgewehr auf mich. Wenn ich nicht das Mertens-Trikot vom SSC Napoli anhätte, würde ich auf der Stelle umgelegt werden. Personalausweis habe ich natürlich keinen dabei. Ich weiß ja eh wer ich bin.

Ich vielleicht, aber nicht der Sottotenente Gennaro Esposito von den Carabinieri. Noch bevor ich mit meinen Ausreden fertig bin, legen sie mir Handschellen an und bugsieren mich in ihren dunkelblauen Alfa Romeo. Genau in diesem Augenblick kommt SIE vorbei. Beatrice. Die Göttliche. In einem roten Sommerkleid. Mit coolen High Heels. Der höllenrote Lippenstift auf den weichen Lippen passt perfekt. Und ich Idiot habe Handschellen an, wie der allergrößte Loser auf Gottes räudigem Erdboden.

– Per favore, lasciatemi uscire dalla macchina. Ho appena dimenticato la mia carta d’identità.
– Stai zitto scemino, antwortet der Sottotenente Esposito.

Ich gehorche und starre aus dem Alfa Romeo. In meinem Gesicht zucken tausende Blitze. Für anderthalb Sekunden haben sich unsere Blicke wieder getroffen. Sie ein wenig erschrocken und ich seltsam abgeklärt: vielleicht komme ich erst in zwanzig Jahren aus dem Gefängnis zurück, aber dann werde ich dich in der Chiesa Santa Maria Francesca heiraten. Dem Sitz der Fruchtbarkeit. Ich werde mit dir mindestens sechs entzückende Kinder zeugen, auch wenn du schon zweifache Mutter sein wirst. Egal. Liebe hat kein Ablaufdatum. Oder ist es nur der Sex?

Der Sottotenente gibt mir eine aufs Maul, und Beatrice verschwindet im Menschengewirr. Wahrscheinlich für die nächsten zweihundert Jahre.

Die Identitätsfeststellung auf dem Kommissariat dauert mit Hilfe des Österreichischen Konsulats keine dreißig Minuten. Dann bin ich wieder draußen in der neapolitanischen Nacht. Immerhin habe ich bei den Cops einen Espresso und eine angerauchte Kippe bekommen, außerdem durfte ich deren Drogenhund streicheln. Das Kommissariat ist Weiß-der-Teufel-Wo in Neapel. Bis zur Via Toledo sind es fast vier Kilometer. Nach einer Stunde finde ich mein Motorino wieder. Das halloweenfarbene Ding steht noch immer neben einem Gemüseladen, nur der Sattel ist weg. Aber der ist schnell wieder organisiert. Keine fünf Meter weiter steht ein ähnliches Modell. Nur in altrosa. Wahrscheinlich beklaue ich jetzt ein Mädchen, aber es ist reine Notwehr. Wenigstens habe ich einen passenden Inbusschlüssel mit. An meinem Lederhalsband baumeln die Werkzeuge zur kriminellen Bewältigung des Alltags: Flaschenöffner, Inbusschlüssel, Nagelfeile, Taschenmesser. Kein Wunder, dass mich die Cops auf die Wache mitgenommen haben.

Nach zehnminütiger Selbsthilfe bin ich wieder mobil. Fahre ins Centro Storico zurück. Ins Insolito. Zu meiner echten Mamma. Auf eine Pizza Marinara und etwas Seven Up im Weißwein. Das richtig erwachsene Leben ist noch nichts für mich. Immerhin rauche ich einen Joint mit dem Pizzaiolo. Er heißt Gisep und mit dem Nachnamen Esposito.

– Ist dein Alter bei den Cops?
– Nein, die Camorra hat ihn erschossen. Mit irgendeinem anderen Opfer verwechselt. Deswegen arbeite ich hier in der Pizzeria anstatt auf die Kunsthochschule zu gehen. Ich wäre lieber ein Street Artist geworden. Wie Banksy zum Beispiel.
– Wie wer?
– Schau einmal um die Ecke.

Ich ziehe noch einmal richtig fest an diesem Monster-Spinello, dann linse ich um die Hausmauer. Ich sehe einen großen, weißen Hasen, den Erzengel Gabriel und Matteo Salvini, der gerade die Hauswand vollpisst. Mann, ist das Zeug stark.

– Schau genauer hin, stachelt mich Gisep an.
– Da ist doch nur eine Mauer. Vollgepisst von einem rechten Populisten aus Mailand.
– Da-ne-ben du Vollidiot.

Ich kneife die Augen zusammen. Der SevenUp-Wein, die fetten Joints, der Drogenhund und die Carabinieri entfernen sich aus meinem Gesichtsfeld. Ein unschuldiges, kleines Mädchen tut sich vor mir auf. Als eine Art Madonna auf die Hauswand gesprayt. Die einen Revolver mit Heiligenschein anbaggert. Extremly nice irgendwie. So richtig spaced out.

– Hast du das gemalt, frage ich Gisep.
– Nein, sonst wäre ich längst nicht mehr hier. War so ein Typ im schwarzen Hoodie und noch schwärzeren Jeans. Vielleicht fünfzig Jahre alt. Brite. Hat kein Wort gesagt und die Madonna in wenigen Minuten auf diese Hauswand gesprayt. Zwei Mal musste er sich in einer Hauseinfahrt verstecken, weil eine Polizeistreife vorüberfuhr. Ich kam gerade bekifft aus dem Insolito raus. Und da stand der Typ und sprayte die Hausmauer voll. Ein echt tolles Bild, oder?
– Stimmt. Außerdem trägt die mittelalterliche Heilige Beatrices Gesichtszüge.
– Kann sein, Dante hat ja im Trecento gelebt.
– Wer?
– Dante Alighieri. Der Typ, der die Göttliche Komödie geschrieben hat: Nel mezzo camin di nostra vita, mi trovai in una selva scura und so weiter.
– Hey, genau ist genau der Schmöker, dessen Titel mir schon die ganze Zeit nicht einfallen will. Was geschah da nochmal in diesem Scheißwald?
– Keine Ahnung. Ich glaube, da tummelten sich nur Leoparden, Löwen und Wölfe herum. Wilde Tiere, die einen auffressen wollen. Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.
– Steil. Genau diesen Spruch habe ich über einer gläsernen Geheimtüre gelesen. Wo später ein Transvestit mit seinem Lover rausgekommen ist.
– Dante’s Inferno.
– Stimmt, genau da war ich gestern.
– Ach, Kleiner, halt die Klappe. Die Divina Commedia spielt im Jahr 1300.
– Wenn es doch wahr ist, Gisep! Ich war in der Hölle, genauer gesagt in derem zweiten Stock, und von dort aus habe ich Beatrice gesehen. Ihr perfektes Gesicht. Fast wie die graue Heilige da an der Mauer. Nur dass sie weiße Jeans angehabt hat, ein weißes T-shirt und weiße Prada-Laufschuhe. Sie hat zu mir hochgesehen, aber sie durfte nicht rauf. Ich glaube, sie musste in irgendeine Wohnung zum Tellerwaschen oder so.
– Du bist mir vielleicht einer, lacht Gisep und zieht ein letztes Mal am fetten Spinello, uno Scugnizzo vero e proprio. Auch wenn du nicht einmal Italiener bist.
– Vor ein paar Stunden habe ich Beatrice noch einmal gesehen. Auf der Via Toledo. Blöderweise hatten mich da gerade die Carabinieri verhaftet. Ich saß an Handschellen gefesselt im Polizeiauto, und sie hatte ein rotes Cocktailkleid an. Sie war mit einem Typ dort. Wahrscheinlich ihr Onkel. War hundertvierzig Kilo schwer und mindestens fünfzig Jahre alt.
– Tja, jeder ist käuflich, seufzt Gisep, jeder außer Banksy vielleicht.

Ich zucke mit den Schultern und sehe das verdammte Bild an der Mauer an. Irgendwann geben die Gesichtszüge nach und die filigrane Gestalt der Madonna löst sich vor meinen bekifften Blicken auf. Nur der Revolver mit dem Heiligenschein ist noch da. Der dafür riesengroß.

*

Irgendwann ist auch wieder der Tag des Herrn, und wir machen das, was alle anderen machen, obwohl ich längst vergessen habe, dass es das gibt: einen Sonntagsausflug. Als ob wir eine stinknormale Familie wären. Mit Papa, Mamma und zwei minderjährigen Vollidioten auf der Rückbank. Auf jeden Fall sitzen wir zu viert in Roccos uraltem Mercedes mit abwaschbaren Ledersitzen, aber ohne Klimaanlage. Der Stadtplaner hat die Fenster runter gekurbelt, und eine afrikanische Hitze strömt in die Blechkiste: heiß, trocken und irgendwie tödlich.

Radio Kiss Kiss berichtet, dass in den letzten Wochen ein paar hundert Greise im ausgetrockneten Zustand aufgefunden wurden: in Parks, vor einigen Kirchen oder in der Nähe von Müllhalden. Ich versuche mir vorzustellen wie so ein vertrockneter Greis aussehen mag, aber ich schaffe es nicht. Nuckle an einer Dose Eistee und betrachte den Sonntagsmorgenverkehr hinter den schwarzen Ray Bans. Falsche RBs natürlich, weil ich die um fünf Euro bei einem Vucumprà gekauft habe, aber egal. In Neapel sind alle fake drauf.

Draußen riecht es wieder nach Schwefel. Meine Mamma singt ein Lied von Teresa de Sio mit, Rocco raucht seine kubanischen Zigarillos und Virgilio lechzt nach dem nächsten Schuss. Vor kurzem hat er mit Heroin angefangen. Deswegen trägt er auch in der größten Hitze langärmelige Sweatshirts und hat immer einen Blechlöffel samt Feuerzeug dabei. Außerdem trifft er sich mit den unmöglichsten Leuten, die weiß der Teufel was mit ihm anstellen. Jedenfalls etwas, das die dringend benötigte Kohle für das Dope einspielt. Eigentlich sollte ich Virgilio bei seinen Ellis verpetzen und ihn so vor dem Allerschlimmsten bewahren. Vielleicht tue ich es auch noch. Auf jeden Fall liegt er in einer Art Wachkoma neben mir und ist zu weniger als nichts zu gebrauchen.

– Weißt du, dass wir gerade über einen Vulkan fahren?

Rocco hält Ausschau nach meinem falschen Ray-Ban-Blick im Rückspiegel und versucht eine Art Gespräch anzuzetteln. Eigentlich pennt der Vulkan neben mir und wird demnächst ausbrechen. Was genau passieren wird, weiß noch keiner, aber es wird eine riesige Katastrophe sein, ein echtes Desaster. Ein Buben-Weltuntergang.

– Welcher Vulkan, frage ich ahnungslos, der Vesuv ist doch auf der anderen Seite.
– Wir sind hier in Pozzuoli, und da vorne siehst du die Campi Flegrei.

Ich starre aus dem Fenster und suche nach den saublöden Feldern. Entweder der Schwefelgestank draußen wird stärker oder der gedopte Märchenprinz neben mir hat einen Gewaltigen fahren gelassen.

– Die Felder liegen genau über einem riesigen Vulkan. Seine gewaltigen Hohlkammern füllen sich gerade mit glühendem Magma, und irgendwann wird alles ausbrechen.
– Wann denn? Morgen früh vielleicht? Wenn ja, muss ich heute noch unbedingt bumsen. Egal wen. Naja, fast.

Rocco lächelt. Er findet mich lieb und doof, auch wenn ich mittlerweile gepierced und tätowiert bin. Aber das ist ja der Plan: wer mich anglotzt, soll binnen Sekunden in Schockstarre verfallen. Schwarz gefärbte Emo-Haare, Kajalstiftaugen, Totenkopfringe an den wund genagten Fingern, silberne Armbänder. Inklusive rauer Stimme von den falschen Marlboro aus der Slowakei. Keith Richards von den Stones sieht richtig gesund aus gegen mich. Nur tausendfünfhundert Jahre älter.

– Der letzte große Ausbruch der phlegräischen Felder war 1538.
– Nicht gerade vorgestern.
– Damals ist der Berg dort drüben entstanden, der Monte Nuovo, und der dahinter liegende Lago d’Averna wurde vom Meer abgeschnitten.

Ach, das Zeug kenn ich: Averna säuft mein Dad mit seinen Rockerkumpanen bis zum Abwinken. Averna und Jackie Cola. Und dazu läuft „Hells Bells“ von ACDC oder Motörheads „No Sleep Till Hammersmith“. Um zwei Uhr morgens kommt regelmäßig die Polizei und beendet das laute Gelage.

– Was passiert bei so einem Ausbruch, frage ich harmlos.

Auf dem Display meines Smartphones sind zwei Jungs zu sehen, die alles Mögliche miteinander vorhaben. Nur nicht Mathe büffeln, das zumindest steht fest.

– Die Erde explodiert, antwortet Rocco und gestikuliert aufgeregt mit beiden Armen herum.

Der Mercedes schlittert über mehrere Fahrspuren, ein paar Autobusfahrer hupen empört und Antonia stößt einen spitzen Schrei aus, aber Rocco lässt sich von seinem Worst-Case-Szenario nicht weiter abhalten. Er ist richtig besessen von diesem Ausbruch, der sich erst in vierhundert Jahren wieder ereignen wird. Wenn überhaupt.

– Eine Feuerwalze rast über alles hinweg. Und ganz Neapel wird zu Asche und Staub. Bei so einem Ausbruch solltest du besser nicht in der Nähe sein.

Schon wieder so eine Horrorshow aus der Erwachsenenliga. Irgendwie ist der ganze Planet im Alarmzustand. Der amerikanische Präsident läuft Amok, der nordkoreanische Diktator bastelt an einer Atombombe und in Österreich gibt es für Flüchtlinge praktisch kein Bleiberecht mehr. Was noch fehlt, ist ein Killervirus, das uns alle in Vollidioten verwandelt. Aber irgendwie scheint das Zeug eh schon längst in unser Gehirn eingedrungen zu sein.

– Und das alles passiert, wenn heute der verdammte Vulkan ausbricht?

Rocco und Antonia belächeln milde meine saublöde Frage. Sie sind schon weit über vierzig Jahre alt und haben bereits jede Menge Vulkane ausbrechen gesehen. Menschliche wenigstens. Die können jeden Tag hochgehen, glaube ich, weil die meisten Menschen hyperaktiv sind. Ich zerquetsche die Eisteedose und betrachte meine Finger. Die silbernen Totenkopfringe und die Nickelarmbänder, meine schwarz lackierten Fingernägel. Ein ganzer Alptraum hat sich in mein vierzehnjähriges Leben gedrängt, und zwar sichtbar für alle. Schön langsam ähnle ich dem Betreiber des Chatrooms „Last Exit for you“. Nur dass der 23 ist und sich bereits fünfmal umbringen wollte. Ein bisschen Zeit habe ich noch. Wenn es von einer Autobahnbrücke bis zum Aufprall nur nicht so verdammt hoch wäre.

– Wie weit ist es noch bis zur Küste?

Ich habe das Gefühl, dass ich schon einen halben Tag in diesem Vintage-Mercedes festgehalten werde. Ohne Klimaanlage, Wlan-Verbindung und selbst gedrehten Spinello. Dabei werden es höchstens 30 Minuten sein.

– Noch eine gute Stunde vielleicht.
– Eine ganze Stunde?!

Dann wird es mindestens eins sein. Und ich habe schon jetzt einen Kohldampf. Vor lauter Kaugummi kauen wahrscheinlich. Ich quengle herum wie ein 11jähriger Junge mit ADHS-Syndrom: wippende Knie, Schweiß auf den Handflächen, Dauerkopfweh. Vielleicht wuchert schon ein Gehirntumor unter den Haaren. Meine Gier nach einem Prosciutto-Pannino ist mit beiden Händen zu greifen. Obwohl ich heute Morgen fünf Babà al Rhum verdrückt habe. Meine Krankheit heißt Pubertät und wird noch mindestens sieben Jahrzehnte dauern. Fast solang wie der 80jährige Krieg.

Vor lauter Langeweile habe ich eine wilde Rechnung aufgestellt, hört mal zu, Leute: Wenn ich auch nur zweimal am Tag wichse, liegen noch über 51.000 Orgasmen vor mir. Sondere ich dabei auch nur 5 Milliliter Sperma ab, kommen dabei über die Jahrzehnte 2.555 Liter Wichse heraus. Damit lässt sich bequem ein kleines Schwimmbecken füllen. Stellt euch das vor: ein ganzer Swimmingpool voller Sperma.

Diese statistischen Ausführungen muss ich unbedingt Johnny mitteilen. Der mietet sich sofort ein Riesenschwimmbad und lädt all seine schwulen Freunde zu einer Massenwixparty ein. Wenn 20 Jungs über 70 Jahre 2mal am Tag fünf Millimeter reinspritzen, sind es nach 70 Jahren 50.000 Liter Sperma. Dagegen nehmen sich sämtliche Bukakke-Videos auf youporn richtig lächerlich aus.

Neben mir erwacht Mr. Dope aus dem Koma. Schaut ungläubig um sich. Wie ein Alien, der zum ersten Mal den blauen Planeten besichtigt. Heiß ist es da. Und ziemlich staubig. Die Sonne brennt vom Himmel, und weiter vorne erstreckt sich eine endlose Wasserfläche zum Horizont hin. Nicht ungeil, die Landschaft. Schade, dass die Erdlinge so Retro unterwegs sind. Die fahren ja noch richtige Verbrennungsmotoren.

An der Küste weht wenigstens eine leichte Brise. Das Haus von Roccos Eltern liegt zwischen Felsen und Pinienwäldern über einer einsamen Bucht. Irgendwie ist es cool hier, wie bei Dreharbeiten zu Robinson Crusoe. Oder im Dschugelcamp, wenn eine schrille Exnutte mit riesigen Titten einen Gecko fressen muss. Sonst fliegt sie aus der Sendung und ist danach endgültig pleite. Das Ferienhaus ist knallbunt angestrichen, genau das Gegenteil von meinem Selbstmordstyle. Sogar Roccos Eltern bemerken das. Und die sind mindestens tausend Jahre alt. Zumindest erinnern sie mich an die verwachsenen Olivenbäume hinter dem Haus.

– Du siehst aus wie jemand, der schon dreimal verstorben ist, sagen sie lächelnd.
– Hmmm, nein, ist eh alles cool. Nur so ein Spleen, eine fixe Idee. Vielleicht werde ich schon morgen ein rotes Cocktailkleid tragen (ich als Mädchen, das muss ich einmal ausprobieren: ich glaube, ich werde so geil auf mich sein, dass mein Schwanz nie wieder schlaff werden will).

Ich denke an meine letzte Woche: Inferno, Tätowier-Studio, die Fickgeräusche aus dem Nebenzimmer, meine vorläufige Festnahme, zwanzig Spinelli und das Straßenbild einer mittelalterlichen Madonna, deren Gesicht Beatrice, meiner Beatrice aus den Quartieri Spagnoli, wie aus dem Gesicht gesprayt war.

Diese Bilder passen nicht ganz zu dieser mediterranen Ferienkulisse. In einem Wandspiegel erkenne ich kaum den blassen Troll wieder, der im Herbst einen gewissen Karl Moor in Schillers Räubern spielen soll. Irgendwie bereite ich mich schon intensiv auf dieses Stück vor. Den schrägen Kerl werde ich richtig schaurig anlegen: mit wirrem, schwarzem Haar, irrer Joker-Schminke und grotesker Strichjungenkleidung. Zerrissene Jeans, schmutziges T-Shirt und Sneakers, die schon mehr als hunderttausend Kilometer draufhaben. Der Direktor und Regisseur wird bei diesem Bühnenoutfit einen Schreikrampf kriegen, aber egal. Aber es ist eh noch extrem lang bis zum Herbst. Der erste Schultag ist noch mindestens 12,4 Liter Sperma entfernt.

– Wo geht es hier zum Swimmingpool, frage ich in die Runde.

Roccos Vater zeigt auf die endlose Wasserfläche unter dem Steinhaus.

– Eine Million Quadratkilometer Meer werden wohl reichen.

Alle lachen, bis auf mich. Das verdammte Meer kann mir gestohlen bleiben. Ein schön gechlortes Schwimmbecken wäre jetzt genau das Richtige für mich. Gut bestückte Strandbar und zehn willige Mädels inbegriffen natürlich.

Ich ziehe trotzdem meine schwarzen Jeans aus und gehe in Flipflops und einer weißblauen Speedo den felsigen Weg zum Strand hinunter. Ich weiß, dass knappe Badehosen richtig schwul ausschauen, aber die Wasserspringer haben alle so etwas an, auch die zwölfjährigen schon. Wenn ich mit dem TT im Clinch bin und eine Auszeit von unserem hinterhältigen Chinesen brauche, gehe ich manchmal zum Training für angehende Kunstspringer. Nicht dass ich besonders talentiert wäre. Aber irgendwie komme ich auf andere Ideen, wenn ich hundertmal vom Drei-Meter-Brett springe. Anderthalb Salti gehechtet. Doppelte Schraube. Überschlag rückwärts. Die Beine schön gestreckt, der Körper angespannt wie ein Drahtseil. Es ist irgendwie geil, seinen Körper so zu dressieren. Außerdem fliege ich bei mindestens drei Sprüngen pro Training richtig krass auf die Schnauze.

Bis zum Meer sind es mindestens zwei Kilometer. Überall zirpen Grillen und Zikaden, huschen Geckos und Eidechsen über die Steine. Manchmal sonnt sich eine Viper am Wegrand. Außer diesem Natur-Zoo ist keiner hier. Der Strand besteht aus schwarzem Gestein und einem einsamen Holzsteg, der vielleicht zehn Meter weit in das Meer recht. Im kristallklaren Wasser sind Fische zu sehen, die meisten genauso bunt wie die Hütte von Roccos Eltern dort oben. Ich springe ins Wasser und schlucke erst einmal drei Liter Tyrrhenisches Meer. Dann beginne ich eine Viertelstunde zu kraulen, bevor ich vollkommen groggy den rettenden Holzsteg erreiche. Sport ist nie ganz verkehrt. Beim Sport kannst du dich verausgaben, und keiner geht dabei drauf. Das ist bei Grand Theft Auto eindeutig anders. Bei Call of Duty auch. Und bei Counterstrike erst recht.

Auf meinem Handy piepst ein Face-Time-Anruf. Face-Time. Wer in aller Welt ist so bescheuert und versucht per Face-Time Kontakt mit mir aufzunehmen? – Erraten, mein Dad.

Ich seufze und will ihn schon wegdrücken, dann bringe ich es doch nicht übers Herz und grinse in das Gesicht meines Vaters. Sein Lächeln gefriert. Entgeisterte Blicke gleiten den neuen Piercings und Tattoos entlang und entdecken auch die dutzenden Totenkopfringe und Nickelarmbänder an Fingern und Unterarmen. Mein Handy lichtet jede Körperstelle ab, sogar ein kurzer Schwenk auf die Beule zwischen den Beinen ist dabei.

– Du siehst aus wie eine Mischung aus Robert Smith, Sid Vicious und Kurt Cobain, als die alle noch an der Highschool gekokst haben.

Ich google den Namen hinterher und finde heraus, dass die drei ein Emo, ein Punk und ein Narkoleptiker waren. Außerdem haben sie Songs wie Killing an Arab, God save the Queen und Come as You Are geschrieben. Ich nehme Papas Vergleich als Kompliment hin und lächle so lässig wie möglich. Eigentlich fleht mein gesamter Körper um Hilfe. Weil ich ein Junge bin, darf ich mir natürlich nicht das Geringste anmerken lassen.

– Wie ist Neapel?
– Cool as – na, du weißt schon. Das Wort fuck bleibt irgendwie unausgesprochen.
– Und Antonias Neuer?
– Echt schrullig. Ein Stadtplaner, der die Leute vor einem Vulkan retten will.
– Und Virgilio?
– Nett und harmlos (eine größere Lüge gibt es gar nicht).
– Wer hat dich eigentlich tätowiert?
– Irgendein Freund.
– Ein Freund?

Die Stimme meines Vaters bekommt einen scharfen Ton, als ob er plötzlich zu einem Kriminalkommissar mutiert wäre. Manchmal kann sogar mein Daddy ziemlich spooky werden.

– Naja, eine Art Cousin.
– Hat das Tätowieren nicht weh getan?
– Nö (die zweitgrößte Lüge: ich habe die Zähne zusammengebissen und an die zehn heißesten Nutten auf Youporn gedacht).
– Du siehst richtig … fremd aus. Aber auch cool. Richtig gut eigentlich. Nur ungewohnt für mich. Beinahe wie ein Rockstar.
– Echt?

Ein schöneres Kompliment gibt es gar nicht. Und Achtung, jetzt kommt mein Geständnis:

– Du, Papa, ich weiß nicht, ob du es wissen willst, aber ich habe mich verliebt.

Lautes Lachen auf der anderen Seite der FaceTime-Verbindung. Mein Vater hat zwei Goldzähne, drei Brücken und mehrere Löcher im Maul. Wie ein alter Countrysänger oder so, der zwischen den Häuserschluchten von Chicago dahinvegetiert.

– Wer heißt denn das Mädchen? Sofern es ein Mädchen ist.
– Hey Papa, was soll das? Ich bin nicht… (Ihm gegenüber krieg ich dieses Krampfwort nicht um zehn Leben heraus).
– Behauptet ja keiner.
– Aber es war eine Andeutung, oder? Also, das Mädchen heißt Beatrice.
– Wie in diesem Buch von Dante Alighieri.
– Sag bloß, du kennst den Schmöker auch.
– Nicht wirklich. Nur dass darin eine Beatrice vorkommt. Und von einem Dichter die Rede ist, der alle möglichen Wege einschlägt.
– Tja, die Leute waren schon immer seltsam.
– Habt ihr miteinander…?

Jetzt ist es mein Vater, der dieses eine Wort nicht herausbringt; es ist auch ziemlich schräg, den eigenen Sohn zum Thema Bumsen zu befragen.

– Nein, antworte ich schnell, das war echt noch nicht. Bis jetzt war eigentlich gar nichts.

Nicht einmal ein Zungenkuss oder so. Mann, ich bin echt ein Versager. Am besten, ich bastle an einer kleinen Notlüge herum. Eine, die meine beschissene Gegenwart etwas relativiert.

– Na schön: So herumknutschen war schon.
– Und war es schön?

(Ja klar, wenn es so gewesen wäre. Am liebsten hätte ich zwanzig Jahre am Stück mit Beatrice geknutscht. Die Göttliche Komödie ist vielleicht doch nur ein dreckiger Porno.)

– Ähm. Ja. War gut. Ähm.
– Schön, wenn du dich in Neapel … amüsierst. In einem Monat beginnt ja die Oberstufe für dich.
– Ist noch ziemlich weit weg. Außerdem löschen die Campi Flegrei vielleicht schon morgen halb Kampanien aus. Hier riecht es überall nach Schwefel, Dad.
– Nach was?
– Nach Schwefel, richtig nach Hölle und so.
– Spiel nicht so viel Counterstrike. Oder Grand Theft Auto V. Diese Computer Games sind eigentlich noch nichts für dich.

Noch drei Sekunden Goldzahngelächter, dann ist der FaceTime-Anruf Geschichte. Ich gehe zum Steinhaus hinauf und verkünde allseits schöne Grüße von meinem Dad. Wie ein dämliches Kind. Auf dem Tisch dampfen Paccheri alla Genovese vor sich her. Als ob jemand seinen Dünnpfiff auf die breiten Nudeln geschissen hätte. Ich bin so hungrig, dass ich sie trotzdem aufesse. Nicht einmal Pomodori sind dabei. Irgendwie voll das Wintergericht. Nach dem zweiten Teller brauche ich unbedingt ein Glas Weißwein.

Roccos Vater findet es super, dass ich bereits mit 14 auf den guten kampanischen Wein stehe. Hat sein Cousin im Nachbardorf gemacht. 100 % Falanghina. Klingt wie Mittelohrentzündung auf Lateinisch. Ich lecke den Steingutteller leer, kippe den Falanghina aus dem Nachbardorf hinunter und bekomme als Draufgabe noch eine klitzekleine Grappa serviert. In meinem Mund brennt es als ob die Feuerwalze aus Pozzuoli schon da wäre.

Danach will Rocco unbedingt ein paar Runden TT mit mir spielen. Unter den Weinreben im Hof gibt es einen grünen Tisch mit dem Netz und ein paar unglaublich zerfledderte Schläger. Dazu drei gelbe Bälle, mehr eckig als rund. Den ersten Satz verliert Rocco zu Null gegen mich, beim zweiten Satz schenke ich ihm fünf Punkte, damit er sich nicht so armselig fühlt.

– Du spielst ja richtig gut.

Virgilio, der den halben Tag auf dem Klo verbracht hat. Seine Haut ist weiß und porös, seine Schenkel dünn wie Mikadostäbchen, und der Darm scheint eine riesige entzündete Schlange zu sein. Ich habe Mitleid mit ihm. Aber ich sage nichts. Sondern tue so, als ob alles, was gerade mit Virgilio passiert, so normal ist wie das Wetter da draußen: trocken und heiß – ohne jede Aussicht auf Regen.

*

– Ich möchte echt wissen, welcher Arsch mir den Sattel vom Mofa geklaut hat.

Eine Mädchenstimme von hinten, schrill und hektisch, wie ich sie von der Schule her kenne. Die Stimme der Hauptstadt von Bulgarien, zum Beispiel. Sofias Stimme, aber ins Italienische synchronisiert.

– Wie auch immer, es gibt so viele Arschlöcher da draußen, Bea. Die allermeisten duschen sich kaum und denken dauernd an ihr bescheuertes Ding zwischen den Beinen.

Ich fühle mich ein wenig ertappt, vor allem was den Sattelklau, die Duschverweigerung und den verdammten Pimmel angeht. Das Mädchen auf der anderen Seite der Sitzbank heißt Matilda und spricht wie die Leute aus Florenz: ein bisschen gebildet und extrem affektiert. Viel zu gediegen für Neapel, das aus einem Unflat an Sünden und anderen Fährnissen besteht, garniert mit einer Überdosis Chaos und einem Hauch Dope.

Ich beuge mich über meinen Cheeseburger mit Zwiebelringen und drei Tonnen Pommes und tue so, als ob ich das Smartphone-Geschwätz hinter meinem Rücken gar nicht mitkriege. Wie eine Termite fresse ich mich durch den Burger und fühle mich dabei genauso gierig wie träge. Virgilio ist aufs Klo in den Keller gegangen, um sich dort etwas Gift in die Venen zu jagen. Ich fresse seine Portion ebenfalls auf und kriege nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Nicht was Virgilios Bestellung und den ausgeborgten Sattel von Matildas Mofa angeht.

Die Prinzessin mit dem toskanischen Dialekt plappert noch immer mit einer gewissen Bea am Handy, hundertprozentig mit meiner verschollenen Beatrice aus den Quartieri Spagnoli. Das ist auch der einzige Grund, warum ich dem öden Chat so angestrengt lausche. Vielleicht finde ich auf diese Weise heraus wo Beatrice wirklich wohnt und was sie noch alles so vorhat in ihrem unbefleckten Leben (ich bin eben ein irrer Romantiker trotz entstellter Frisur und den wilden Tattoos – Lord Byron würde mich sofort auf eine Flasche Absinth in irgendeiner Pariser Trinkhalle einladen).

Matilda hat inzwischen das Thema gewechselt: die nächsten Gesprächsfetzen handeln von älteren Jungs, die einen aufgemotzten BMW fahren und mit der schwarzen Amex ihrer Millionärseltern überteuerte Champagnerflaschen im Romeo-Hotel am Porto di Napoli bestellen. Die Vorstellung, dass blasierte Zwanzigjährige über meinen Engel herfallen könnten, treibt mich an die Wutränder des Wahnsinns. Ich bin sowieso der einzige, der in dieser verkommenen Welt noch einen Funken Ahnung von der echten und einzigen, der wahren und reinen Liebe hat: der Emojunge mit den traurigen Augen, der beim Mackie in der Via Garibaldi auf seinen halbtoten Stiefbruder wartet.

Der Neid auf die reichen Wichser in ihren Sportwägen mischt sich mit dem Zorn auf die unterbelichteten Girls, die alles sofort und ohne Widerrede kriegen wollen, ohne dafür irgendetwas zu liefern. Matilda tickt jedenfalls so, und Beatrice scheint ihr darin ähnlich zu sein. Was Liebe ist, wissen die beiden ja doch nicht. Und wollen es nicht einmal wissen. Am besten, ich scheiße auf den ganzen Unsinn vom besseren Leben, klaue mir eine Glock aus einem Carabinieri-Halfter und eröffne hier drinnen im Fastfood-Lokal das ewige Feuer.

Weil noch eine Todsünde fehlt, haue ich nach dem vollbrachten Massaker ab, düse mit meiner orangefarbenen KTM auf der Flucht vor den Carabinieri durch die halbe Stadt und verschwinde in einem halb verfallenen Haus, um in einem Kellerraum eine mindestens sechzigjährige Nutte zu vögeln. Sie ist die einzige Hure in ganz Neapel, die noch alles für zehn Euros in bar macht, ohne Gummi natürlich, aber jeder Menge Schorf auf der Haut und einer Million Flöhe im Bett.

Im Morgengrauen werde ich schließlich von zwanzig Espositos in Carabinieri-Uniformen verhaftet. Zum Prozess werde ich in Ketten vorgeführt und zu dreiunddreißigmal lebenslänglich verknackt werden. Der Rest meines Lebens wird eine achtzigjährige Warteschleife aus verfaultem Wasser, schimmligem Brot und schleimigen Gefängnisseelsorgern sein. Und dreitausend ungewaschenen Schwänzen, die alle in meinen Arsch wollen, solange ich unter dreißig bin. Und noch nicht ganz irre geworden von all dem Eingesperrtsein.

Virgilio kommt aus dem Klo gekrochen und sieht aus wie eine Kreuzung zwischen Kackerlacke und Strichjunge. Sein Gesicht ist eidechsengrün und riecht verdächtig nach Scheiße.

– Mir ist das verdammte Staniolpapier in den Wasserthron geplumpst. Ich musste da irgendwie reingreifen. Die Klos beim Mackie waren auch schon mal sauberer.
– Scusa, Virgilio, ich habe in der Zwischenzeit deinen Burger aufgefressen, und die Pommes auch. Aber vom Cherry Coke habe ich dir die Hälfte übriggelassen.
– Macht nichts. Ich habe sowieso keinen Hunger. Fällt dir hier eigentlich irgendwas auf?

Nicht dass ich wüsste. Aber was soll mir schon in diesem überfüllten Laden auffallen, außer dass Matilda mit meiner Beatrice telefoniert: Also, an deiner Stelle würde ich diesen Franzosen nehmen – Bernard Clairvaux, den heißen Schwarzhaarigen, der sein Hemd immer bis zum Bauchnabel offen hat. Der wird sicher gut im Bett sein, außerdem gehört seinen Ellis eine ganze Gummifabrik. Ist das nicht abgefahren?

Abgefahren vielleicht, aber öde. Würde wenigstens Johnny dazu sagen. So wie es aussieht, werden mir nur die schwulen Jungs und die sechzigjährigen Nutten im Souterrain halb verfallener Häuser bleiben. Nach ungefähr einer halben Stunde Schweigen riskiere ich eine Antwort.

– Nein, Virgilio, alles okay hier. Außer, dass ich nicht für die Liebe gemacht bin. Eher für das härtere Zeug. Gürtelrose statt Baldachin sozusagen.
– Siehst du die Panther hier nicht, die Löwen und die läufigen Wölfe?
– Hey, verarsch mich nicht. Warum zum Teufel sollen hier solche Raubtiere herumlaufen?
– Die sind doch da, direkt vor uns. Sie hocken an allen Tischen, wuseln hinter dem Tresen herum, und ein paar schnappen bereits gierig nach den angebissenen Burgern.
– Also, ich sehe etwas komplett anderes: hunderte Teenager und ein Dutzend genervter Eltern mit einem überzogenen Bankkonto.
– Kein Scheiß jetzt?
– Nö. Ist echt so. Verdammt real irgendwie. Ach, ich weiß auch nicht.

Der einzige geile Panther in dieser Fresshalle bin jedenfalls ich. So ein cooles Raubtier wäre ich schon gern. Ständig auf der Lauer nach dem nächsten gefügigen Opfer. So stelle ich mir das Erwachsenenleben wenigstens vor: Leute bescheißen ohne Ende. Ficken bis zum Umfallen. Solange es hübsche Prinzessinnen gibt, die mehr oder weniger mitmachen wollen.

Virgilio versucht zu lächeln. Aus seinem rechten Mundwinkel rinnt ein dünner Blutfaden. Ich frage, ob ich nicht besser die Rettung holen soll, aber mein Stiefbruder schüttelt den Kopf.

– Es gibt keine Rettung mehr.
– Sei nicht so verdammt pessimistisch.
– Nicht für mich. Für dich schon.
– Glaub ich nicht: ich habe in den letzten zwanzig Minuten alle sieben Todsünden begangen. Theoretisch zumindest. In meinem dreckigen Hirn.

Wir verlassen den Fastfood-Tempel und suchen meine Halloween-KTM mit dem Sattel von Matildas rosafarbenem Mofa. Nach einer Viertelstunde finde ich das Motorino und bugsiere Virgilio irgendwie auf dem Gepäcksträger. Es ist nicht so leicht zu zweit auf dem knatternden Mofa zu fahren, wenn der Andere total zugedröhnt ist. Alle fünfhundert Meter bleibe ich stehen, um Virgilio wieder gerade zu richten. Tausende Passanten starren uns feindselig an. Für diese Normalos sind wir maximal kleine Wichser, die am besten im Jugendknast aufgehoben wären. Oder in der Klapsmühle. Oder in einer staatlichen Erziehungsanstalt. In einem Internat mit mittelalterlichen Erziehungsmethoden. Inklusive Prügelstrafen, Ketten und anderen Toys, die man höchstens im Darknet erwerben kann.

Nachdem ich Virgilios Arme fest um meine Hüften gelegt habe, geht es einigermaßen. Wir knattern einen der hundert Hügel hoch, über die sich Neapel erstreckt. Virigilio kotzt mir dabei in den Nacken und knetet zugedröhnt an meinem Pimmel herum. Irgendwie krieg ich trotzdem eine Latte, weil ich seit einem halben Tag nicht mehr gewichst habe. Eine mittlere Unendlichkeit, wenn man 14einhalb ist.

So wird das nichts mit der reinen, himmlischen Liebe. Außerdem findet Beatrice reiche Franzosen mit offenem Leinenhemd ohnehin attraktiver. Am besten mit schwarzer Amex und einem 22x5cm-Gerät zwischen den Beinen. Ich dagegen habe ein vollgekotztes Tshirt an und vielleicht noch 8 Euro in der Tasche. Und mein Schwanz? Höchstens 14cm, aber auf Instagram sieht er viel größer aus. Trotzdem ist er nicht riesig. Sogar mein polytoxischer Halbbruder hat einen Längeren als ich. Das Leben ist einfach ungerecht. Immerhin spritze ich drei Meter weit, wenn ich mir die richtig dreckigen Pornos angucke.

Ich liefere Virgilio in seinem versifften Zimmer ab. Wenigstens ist keiner da, der blöde Fragen stellen könnte. Rocco und Antonia sind bei einem Anarchisten-Treffen oder so ähnlich. Vor dreißig Jahren waren die beiden anscheinend bei den Roten Brigaden. Die Liebe zum bewaffneten Widerstand und zu räudigem Rotwein ist ihnen geblieben.

In meiner Hosentasche finde ich einen angerauchten Spinello und entwende die letzte Cola im Kühlschrank. Eine Tafel Schokolade ist auch da, also fresse ich die einfach auf. Leicht bekifft stehe ich am offenen Fenster und hoffe, dass das krasse Ehepaar gegenüber wieder eine geile Nummer am Küchentisch schiebt. Diesmal aber bleiben die Fenster dunkel, nur lautes Röcheln ist aus einem der Zimmer zu hören. Ein verwilderter Hund bellt auf der Straße. Entweder ist er auch so geil wie ich oder er will uns alle vor etwas warnen: vor einem Erdbeben, einem Vulkanausbruch oder einer ansteckenden Krankheit. Vor dem Ende der Welt, aber wahrscheinlich nur vor uns selbst.

Ich rauche den Joint zu Ende und frage wie viele Leute vom selben Schicksal verfolgt werden: viel zu jung für alles zu sein, keinen Durchblick zu haben, ja nicht einmal zu wissen, was uns die nächsten zehn Minuten erwartet: Vielleicht nur das übliche Nasenbluten oder das letzte Stück Schokolade im Kühlschrank.

Ich spüre einen Stich in der Herzgegend. Ein paar vergessen geglaubte Bilder kommen zurück. Plötzlich denke ich wieder an Mohammed, und ich denke an Kevin. Denke an all das Geschehene in dieser traurigen Kärntner Kleinstadt. Warum Kevin mit seinem verdammten Klappmesser angeben wollte. Und dann plötzlich Mohammed während der großen Pause niedergestochen hat. In diesem dreckigen Schulhof, ganz hinten bei den Biomülltonnen. Weil Kevin schlechte Laune hatte, oder einfach nur eine kalte Wut im Bauch. Und Mohammed im falschesten Moment vorbei kam. Mit seinem offenen Lächeln, seiner Liebenswürdigkeit und einer gewaltigen Sehnsucht nach einem besseren Leben.

In dieser Nacht träume ich von seltsamen Dingen. Sonst träume ich kaum etwas oder kann mich zumindest nicht daran erinnern. Irgendwie ist Träumen eher etwas für Mädchen. Die schreiben ganze Stammbücher mit diesen Träumen voll. Richtige Jungs pennen zwölf Stunden durch oder wichsen sich in den Schlaf hinein, aber träumen?! Nein, träumen ist irgendwie gar nicht. Höchstens bei einem Fieberschub, wenn man die Scharfblattern kriegt.

Dieser Traum ist ziemlich jenseitig. Vielleicht sind der Spinello, die angebrochene Colaflasche oder die Hanfschokolade aus dem Kühlschrank daran schuld, auf jeden Fall hat sich die Stadt unter meinem Gästezimmerfenster in ein riesiges Stadion aus Tuffstein verwandelt. Ein Stadion, das sich zwischen dem Vesuv und den seltsamen Schwefelfeldern erstreckt, also gleich groß wie Neapel, Ercolaneo und Pozzuoli zusammen sein muss. Auf jeden Fall passen mindestens 900.000 Einwohner rein, vielleicht auch alle 65 Millionen Italiener oder möglicherweise sogar die ganze Welt. Zumindest der krassere Teil davon. Das riesige Amphitheater bricht sich in gewaltigen Kurven zum Meer hinunter, es scheint vor tausenden Jahren begonnen worden zu sein, konnte aber niemals fertiggestellt werden, warum weiß eigentlich keiner. Irgendwie wirkt es baufällig, heruntergekommen, verwahrlost, auf eine gewisse Weise verflucht. Als ob alle Vulkane der näheren Umgebung auf einmal ausgebrochen wären und die Errungenschaften menschlicher Zivilisation unter einer dicken Ascheschicht begraben hätten, auf jeden Fall ist alles in ein flackerndes, orange-rotes Licht getaucht, in den Farben von AS Roma oder der Hölle.

Das Stadion ist randvoll mit den verdammten Seelen dieser Welt. Irgendwie kann ich keine richtigen Leiber erkennen, nur eine laute, rasende, stöhnende Masse. Wie in einem Riesengemälde von Michelangelo oder Caravaggio, aber alles in Echt und eine Million Mal so groß. Richtig krass jedenfalls. Als ob eine Legion von Spieleentwicklern mit der neuesten Version von Call of Duty nicht rechtzeitig fertig geworden wäre. Aber mit der Ewigen Verdammnis wird man sowieso nie fertig. Deswegen heißt sie ja so.

Die Stadionränge sind in viele Sektoren eingeteilt. Ganz oben rasen die Ultras in ihrem eigenen Wahn vor sich hin: sie sind laut, dumm, gewalttätig, die üblichen Wutbürger halt. Die ständig und grundlos Empörten. Sie schwenken ihre angekohlten Fahnen und plärren ihren maßlosen Hass heraus, mit dem sie ihr ganzes irdisches Leben lang zurechtkommen mussten: kaum geliebt, immer getreten, ohne Respekt füreinander. Ich hau dir in die Fresse, du haust mir in die Fresse, wir bluten gemeinsam wie die Schweine und skandieren zusammen wilde Hassparolen gegen Juventus Turin. Ab und zu schickt der Schöpfer dieses Elendszustandes Kugelblitze und Donnerschläge in die Runde, dann schreien die Gemarterten auf und scheinen die Verbrennungen auf ihrer Haut und den Tinnitus-Dauerton in ihren Ohren zu genießen.

In der Hölle geht es krass zu, aber auch geil. Man darf jede Sünde begehen, weil man sowieso schon hier ist. Egal ob man den Nachbarn totprügelt, seine Kinder auffrisst oder sonst was Krasses begeht, es bleibt folgenlos. Jeder, der umgebracht wird, steht sofort wieder auf, weil es eben das Inferno ist. Weil es so weiter geht bis ans Ende aller Tage. Und noch lange darüber hinaus.

Weiter unten, in den mittleren Rängen, fristen die Boshaften ihr ewiges Dasein: die Zyniker, die sich an ihren schmierigen Streichen erbauen. Sie vergiften alle Brunnen, verseuchen die Luft und fressen riesige Geldbündel auf. Sie vernichten die Welt und sind noch stolz darauf. Am liebsten führen sie die Opfer aus den billigeren Rängen vor: seht her, das perverse Schwein, das billige Stückchen Fleisch, dieses ohnmächtige Leben. Man geilt sich an der Wehrlosigkeit auf, röstet den Unglücklichen auf mäßigem Feuer und funkt davon hoch aufgelöste Videos in die anderen Galaxien der Bösartigkeit. Von denen scheint es Millionen zu geben. Natürlich revanchieren sich die intergalaktischen Zyniker mit ihren eigenen Rachefeldzügen, die live auf den riesigen Großbildwänden dieser Stadionhölle übertragen werden. Auch das Inferno hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts grundsockelsaniert.

Ganz unten, nahe am übelst riechenden Meer der Verdammnis, lauert eine Kombination aus geiferndem Hass und richtiger Boshaftigkeit: es ist die Fraktion der Verräter – in vornehmsten Kleidern nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Gerne liefert man die eigenen Kinder dem ewigen Missbrauch aus, denunziert die Nachbarn und verpetzt alle anderen verdammten Wichser um sich. Ganz unten bei den Verrätern ist es sehr leise. Der fiese Verrat wird geheim und diskret exekutiert. Distanziert, empathielos und kühl. Die allermeisten Verräter sind Kirchenfürsten, Militärs, Lehrer, Schulpsychologen und all das kranke Gesocks, das Jungs wie mir an den Schwanz greifen will. Auf jeden Fall geht es dort unten im pädophilen Sektor hoch her. Jede Menge Pranken, Fratzen, Gemächte und Spermafontänen treiben dort ihr Unwesen. Unbelehrbar, unbestraft, sich selbst überlassen. Eine vor sich hin verwesende Hölle.

Als eine Hydra mit tausenden Tentakeln nach meinem Leib greift, schrecke ich hoch. Schweißgebadet, todmüde, hellwach. Aus dem Zimmer meines Halbbruders höre ich hektische Stimmen, und dann den einen oder anderen Schrei: der Arzt, die Sanitäter, die eintreffenden Cops. Rocco. Antonia. Alle Fenster des gegenüberliegenden Hauses sind hell erleuchtet. Ich kenne die Nachricht noch nicht, aber ich wittere sie. Virgilio liegt tot im Bett. An seinen verdammten Drogen zugrunde gegangen.

Die Tür zu meinem Zimmer geht auf, und da stehen sie alle. Die meisten Gesichter und Leiber habe ich zur Kenntlichkeit entstellt in meinem Alptraum gesehen, ganz unten, in den widerwärtigsten Rängen. Die Gespenster der Ewigkeit starren mich an und stellen tausende Fragen. Oder auch nur die eine, aber in tausend Versionen: wo-zum-Teufel-wart-ihr-gestern-Abend? Ich zucke mit den Schultern. Gebe keine Antwort. Aber ich weiß ganz genau, wo ich diese Nacht war. In einem Amphitheater aus Tuffstein, in diesem brodelnden Stadion der Hölle.

*

Neapels größter Friedhof heißt Poggioreale und liegt in der Nähe des Flughafens. Irgendwie ist es seltsam, dass man von einem Friedhof Flugzeuge starten und landen sehen kann. Im größten Teil dieser Anlage gibt es keine Kreuze, weil die Namen der Toten nur in Steinmauern geritzt werden. Virgilio war nicht getauft. Rocco ist seit seinem 16. Lebensjahr Anarchist, und meiner echten Mamma ist die katholische Religion auch ziemlich egal. Ich selber bin mit zwölf ausgetreten, zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Das krasse Gerede vom Fegefeuer, den Todsünden und von der Ewigen Verdammnis ist mir voll auf den Sack gegangen. Viel lieber wollte ich Supermario sein und endlich mein erstes Smartphone bekommen. Ich war schon spät dran mit der Digitalisierung des Lebens. Sonst war noch Erdbeereis mit Schlagobers super, und die kleine Blonde in der ersten Reihe ganz rechts. Gleich neben der Tür ins Klassenzimmer. Ein einziges Mal habe ich sie küssen dürfen, beim Flaschendrehen am Schulskikurs. Wenigstens an diesem Abend hatte ich Glück gehabt. Am nächsten Tag habe ich mit dem Wichsen begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört. Den Pimmel zu rubbeln und an die kleine Blonde zu denken war meine Vorstellung vom Ewigen Leben – und nicht die dunklen, muffigen Kirchen. Die Beichtstühle, Altäre und die überlangen Predigten heiserer Priester waren absolut nichts für mich.

Bis heute hat sich daran wenig geändert. Ich mag Sonne, heißes Wetter, das Meer, eine Pizza Marinara und jede Menge Pornos und Zockerspiele. In den letzten drei Tagen habe ich über 60 Stunden Grand Theft Auto gespielt. War richtig gut in meiner Online-Gruppe unterwegs. Aber eigentlich habe ich nur gezockt, um das Drumherum zu verdrängen. Die polizeilichen Ermittlungen und all die bescheuerten Fragen. Sogar einen Drogentest habe ich machen müssen. Nicht nur ich. Auch Rocco und Antonia. Alle drei. Und natürlich haben sie auch meinem toten Stiefbruder etwas kaltes Blut abgezapft.

Ich fiel bei Marihuana durch, der Stadtplaner bei Chrystal Meth, und Antonia reagierte positiv auf Stimmungsaufheller. Virgilio dagegen hatte alles genommen. Egal. Mein österreichischer Dad wird jedenfalls eine Mitteilung kriegen. Von der italienischen Drogenfahndung. Ich freu mich schon voll auf Zuhause.

Vorher gibt es noch diesen Totentanz, die sogenannte Verabschiedung. Vor der Feuerhalle, mit dem Flughafen im Hintergrund. Mann, dass sie Virgilio echt in einer halben Stunde aufheizen werden. Richtig krass. Aber die Erwachsenen sind meistens krass drauf. In ein paar Jahren bin ich dann genauso wie die. Immerhin kann ich meine verdammte schwarze Stoffhose anziehen. War doch nicht verkehrt, sie mitgenommen zu haben. Auch wenn ich jetzt in keinem Sterne-Restaurant, sondern nur auf einem Begräbnis bin. Dazu noch das weiße Hemd. Von Finamore. Hat mir extra Antonia gekauft. Mein mitgebrachtes Leinenhemd hatte leider einige Mottenlöcher gehabt. Würdest du lieber ein schwarzes Hemd anziehen, hat meine echte Mamma noch gefragt. Achselzucken, Kopfschütteln. Nö. Davon wird Virgilio auch nicht mehr munter.

In der schwarzen Stoffhose und dem taillierten weißen Hemd sehe ich wie ein Kellnerlehrling in einem Hauben-Restaurant aus. Doof ist gar kein Ausdruck. Richtig unterbelichtet. Plemplem. Das Opfer seiner Lehrherren. Virgilios Freunde sind auch da, nicht alle, weil Sommerferien sind, aber einige schon. So fünf oder sechs, die alle mitteltraurig dreinschauen. Der sensibelste von ihnen hat vorhin hinter der Leichenhalle gekotzt. Zwei andere haben sich einen fetten Joint geteilt und der letzte hat sich auf die Schnelle zwischen Pinienbäumen einen runtergeholt. Claudio kommt auch noch daher. In schwarzer Robe. Das Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt. Eine vermummte Schlangenfrau. Ganzkörpertätowiert. Er oder sie erkennt mich und zwinkert mir zu. Alle Welt fragt sich, warum wir uns kennen. Und irgendwie frage ich mich das auch.

Kurz bevor die Zeremonie beginnt (zwei Geiger vom Teatro San Carlo haben bereits Aufstellung genommen), kommt ein Motorino angeknattert. In altrosa. Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf: Matilda und Beatrice. Bea wird mit Virgilio in dieselbe Klasse gegangen sein. Anscheinend braucht es ein Begräbnis, damit so etwas rauskommt. Matilda geht sicher in eine andere Schule, sofern sie überhaupt noch eine besucht. Wahrscheinlich hat sie längst bei einer Modelagentur angeheuert.

– Guarda, sagt Matilda in ihrem affektierten Luxus-Toskanisch und deutet auf meine KTM im Feuersalamander-Look, da ist der Arsch, der mir den Sattel geklaut hat. Hab ich’s doch gewusst, dass ich den hier treffen würde.

Ich könnte mich schuldig fühlen, aber in diesem Augenblick fangen die Geiger an, irgendwas von Brahms zum Besten zu geben. Klingt traurig und soll auch so klingen. Herzzerreißend irgendwie. Die ersten Schluchzer sind zu hören. Natürlich nicht von mir. Beatrice stellt sich neben mich hin. Einmal in diesem Scheißleben habe ich Glück, auch wenn es auf dem Begräbnis meines drogenverseuchten Stiefbruders ist. Ich atme den Geruch ihrer Haut ein, und dann noch ihr Sommerparfüm, ihren Pfefferminzatem. Wahrscheinlich bin ich der einzige, der bei dieser Verabschiedung eine Latte bekommt. Virgilio hätte darüber sicher ein paar schmutzige Witze gerissen.

Ich lege meinen Arm auf Beatrices Schultern. Matilda zischelt etwas hektisch von diesem Bernard mit dem offenen Hemd und der schwarzen Amex, aber Bea scheint davon nicht beeindruckt zu sein. Sie drückt sich ein wenig an mich, und ich fühle mich endlich als ihr großer Beschützer. Irgendwie frage ich mich, ob es auch okay wäre, mit der anderen Hand in ihrem Höschen zu fingern. Sie hat ein verdammt kurzes Kleid an. Schwarz mit roten Nelken drauf. Sexy und zurückhaltend zugleich.

Vor dem offenen Eingang zur Feuerhalle steht der verdammte weiße Sarg mit Schrauben dran. Scheiße. So sieht das Ende aus, genauso. In zwanzig Minuten wird Virgilio wie ein Pizzafladen in den Feuerofen geschoben, und das war’s dann. Vorher gibt es noch sinnlose Reden. Ich spiele an einem Feuerzeug herum und verbrenne mir den rechten Daumen dabei. Beatrice weint und kichert gleichzeitig. Ich möchte sie küssen. Was heißt küssen: am liebsten würde ich über sie herfallen, ihr meine Latte reinschieben, sie bumsen, ficken und nageln. Was weiß ich alles. Am Ende meines Lebens werde ich jedenfalls nicht zu jenen langweiligen Leichen gehören, die zur weißen Wolke auffahren dürfen. Mein Platz wird irgendwo in diesem Ewigkeitsstadion sein, und ich hoffe nicht allzu weit unten.

*

– Ti amo, Bea.
– Ti voglio bene anch’io.

Wir treffen uns auf einem flachen Dach mitten in den Quartieri Spagnoli. Keine Ahnung wo genau. Und wie wir uns da verabredet haben. Irgendwie haben wir uns hier einfach getroffen. Auf dieser leeren Dachterrasse mit ein paar wackligen Stühlen, dem kaputten Kamin und den Dutzenden Ratten, die sogar hier oben herumschleichen.

Auf dem Holztisch steht eine Flasche Falanghina, aus dem Weinkühlschrank von Mammas Pizzeria geklaut. Und eine angebrochene Packung Pringles. Ein großer Aschenbecher voller verrauchter Gespräche. Es ist Mitternacht, und ein gewaltiger Blutmond steigt über der Stadt auf. Wir hören auf zu reden und knutschen miteinander. Beas Gesicht ist heiß und ganz rot. Ich weiß nicht, ob es nur vom Mond ist, oder doch von was anderem. Die Mädchen sind alle irgendwie komisch.

Irgendwann sind wir nackt. Das Geräusch der Tischplatte beim Bumsen werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Dabei weiß ich nicht einmal mehr, ob es überhaupt richtig geil war. Es war okay. Mein erster offizieller Geschlechtsverkehr in der offiziellen Kategorie „Junge mit Mädchen“. Kurz bevor ich gekommen bin, ist eine Sternschnuppe vom Himmel gefallen. Vielleicht war es Virgilios letzter Gruß aus der ewigen Stille.

Hmmm. Keine Ahnung.

Ich stehe am Flughafen und löse mich langsam aus Antonias Armen. Lebewohl zu sagen fällt schwer. Es macht alle irgendwie traurig. Man merkt dabei, wie vergänglich das Leben ist, wie flüchtig und unwirklich fremd.

– War eine seltsame Zeit hier.
– Das kannst du laut sagen.
– Habe ich doch gerade, Mamma.
– Hör auf mit Mamma. Du bist kein kleiner Junge mehr. Sag Antonia zu mir. Du bist wirklich groß geworden. Sicher ein Meter Achtzig oder so. Ein richtiger junger Mann, der die Mädchen betört, oder?
– Hmmm.

Ich hätte jetzt gern ein wenig geheult. So viel zum jungen Mann, der alle möglichen Leute betört. Aber vielleicht hole ich das mit den Tränen im Flugzeug noch nach. Rocco steht immerhin auch noch da. Er sieht ein bisschen betreten zu Boden. Hat seinen Sohn im großen Krieg gegen unbekannte Mächte verloren. Ich sollte seine Hand nehmen und weiß der Teufel was damit tun. Aber ich kann es nicht. Starre auf das Display meines Handys, weil Beatrice mir ein letztes SMS gefunkt hat: Sei bello davvero! Ma chi lo sa….

Ich schlucke all meine Gefühle hinunter. Drücke Antonia ein Küsschen auf die Wange. Und schüttle Rocco artig die Hand. Dann nehme ich mein Handgepäck und schleiche zum Gate. Über der Passkontrolle sehe ich eine gesprayte Pforte, durch die ein kleiner tätowierter Troll zu huschen versucht. Man erkennt ihn kaum, aber ich weiß, dass es Virgilio sein muss. Per me se va ne la città dolente steht darunter in roter Farbe geschrieben, die nach unten zu vielen dünnen Fäden zerrinnt. Ciao Giusep, ciao Banksy, Buona Notte Virgilio.

Ich glaube, ich bin ganz plötzlich erwachsen geworden. Als ob ich durch Claudios geheime Spiegeltüre in ein neues Leben getreten wäre. Und zwar endlich in meines. ♦

Teil 3 – Andawörld ...
Klar ist, dass mich zuhause das totale Nirvana erwartet: Angela will mit dem drogenverseuchten Emo nichts mehr zu tun haben. Und mein Vater denkt darüber nach, mich in ein katholisches Internat zu werfen. Sogar der falsche Kinderindianer mit den Blechhandschellen lacht mich via Skype aus: Du siehst echt wie ein Affe aus. Nur auf schwul.

Na super. Meine einzigen Verbündeten in diesem Nest werden ein etwas älterer Geilspecht und ein 12jähriger Jünger sein: mit dem einen werde ich schmutzigen Sex in der Bahnhofsunterführung haben. Mit dem anderen werde ich ein Tüteneis essen gehen oder mit dem BTX im Wald herum gurken. Einmal Drecksau, einmal Kind und dann wieder retour. Wer sich da noch auskennt, darf mir ein paar Stunden Nachhilfe in Biologie geben.

Ich sehe aus dem Airbus-Bullauge. Capodichino. Die Rollbahn. Irgendwo hinter der Dunsthitze rotten die Toten auf dem Friedhof von Poggioreale dahin. Ein paar Sekunden denke ich an Virgilio, der jetzt auch diesem Schattenreich angehört. Diesem Nichts an Ewiger Stille. So sinnlos wie das Kirchturmläuten oder die Rosenkranzverse. Und was sonst noch zum Repertoire der Verzweiflung gehört.

Ich zucke mit den Achseln und sehe zur Besucherterrasse hinüber. Zwei allein gelassene Ex-Anarchisten wirken mir von dort zu: Antonia, die erfolgreich ihre Pizzeria Insolito führt. Und Rocco, der Stadtplaner auf Chrystal Math, der im Falle eines Vulkanausbruches halb Neapel evakuieren soll. Irgendwie wirkt er wie ein Nachfahre von San Gennaro: der Schutzheilige der Androgynen. Gut gegen ausbrechende Vulkane. Und drei Goldzähne hat er auch.

Ich winke der flimmernden Hitze über dem Rollfeld zu und habe absolut keinen Bock, in sieben Stunden und dreißig Minuten auf einem österreichischen Provinzflughafen zu landen. Das Leben – Läuterungsberg, Hölle, Paradies und eine Miniportion Ekstase dazwischen – wird anderswo sein. Nicht da draußen jedenfalls. Sondern irgendwo tief drinnen in mir. Wo mein Ich begraben liegt. Und Millionen fermentierter Träume.

Auf dem Nebensitz hockt ein junger Franzose im offenen Hemd. Bernard de Clairvaux ist es nicht, aber ich denke, jeder dritte Franzose unter 30 hat sein tailliertes Hemd bis zum Bauchnabel offen, zumindest im Sommer. Ich habe meine räudigsten Jeans an und trage ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „completamente drogato“. Der Security-Check in Neapel hat deswegen eine gute Stunde gedauert: alles, sogar mein Arschloch, ist doppelt und dreifach gescreent worden.

Der junge Franzose ist mindestens bi und flirtet ein wenig mit mir. Die Aussicht, mir in 9000 Metern Höhe einen blasen zu dürfen, reizt ihn wie eine neue Droge. Er macht mir so lange Komplimente, bis ich ihn einfach heranlassen muss. Pierre Aymeric, was für ein drolliger Name, beugt sich nach vor, als wäre sein Smartphone auf den Teppichboden gefallen. Natürlich kriegt keiner mit, was jetzt genau in Pierre Aymerics Mund steckt. Ich brauche nicht einmal zwei Minuten, dann spritze ich ab wie ein Hydrant, und der Franzose im taillierten Hemd schluckt alles hinunter. Echt geil. Kein Wunder, dass die Übung „französisch“ heißt. Die können das richtig gut. Der da zumindest. Für ihn bin ich das, was Beatrice für mich gewesen ist. Eine kleine, süße Maus. Ein zarter Sperling. Oder sonst ein niedliches Tier. Stoffhase vielleicht. Geiles Ferkel. Irgend so ein verdammtes Knuddelvieh jedenfalls.

Pierre Aymeric bedankt sich ganz lieb und gibt mir sogar seine Handynummer. Damit ich in fünfzehn Jahren dem französischen Konsul auf den Balearen in den Arsch ficken kann. Nach einem letzten Salù verschwindet er in der Menge am Mailänder Flughafen. Irgendwie war er der geile, größere Bruder, den ich schon immer haben wollte. Der mit hunderten Mädels ausgeht, aber mir an hohen Feiertagen auch einen ablutscht.

Auf jeden Fall habe ich wie ein Feuerwehrschlauch gespritzt. In meinem perversen Hirn wenigstens, das alles und jedes in eine Pornoszene verwandelt. Wenn ich einmal tot bin, werde ich garantiert keine Sternschnuppen auf ein Liebespaar rieseln lassen. Eher schleudere ich Donnerschläge und gewaltige Kugelblitze auf die versammelten Gemeinheiten im irdischen Inferno.

Im Transithallenklo pisse ich minutenlang den Wasserthron voll. Es hört gar nicht mehr auf. In der Kabine nebenan übergibt sich jemand. Irgendein gefährliches Virus oder Todesangst oder beides. Vor den Abfluggates sehen alle so verdammt gesund und ausgeglichen aus. So richtig Mittelperfekt. Als ob die Leute in einer unsichtbaren Netflix-Serie mitspielen würden. Vor dem Gate nach Frankfurt sehe ich einen Jungen an einer Spielkonsole hantieren. Er ist ein bisschen jünger als ich und hat nur Augen für die geilen Verfolgungsjagden auf dem verdammten Display. Genau wie ich vor ein paar Monaten noch. Nur dass er blonde Locken und kein einziges Piercing hat. Sein weißes T-Shirt ist mit einem übergroßen Nike-Logo bedruckt. Zwischen den Beinen herrscht noch heilige Ruhe. Nur die dünnen Schenkel wippen erregt auf und ab. Der Junge scheint Deutscher zu sein. Oder Holländer. Ich sehe ihm beim Zocken zu, bis seine Mutter misstrauisch wird. Die Leute sind immer misstrauisch. Besonders diejenigen, die als Helikopter-Elternteil unterwegs sind.

Okay, ein wenig nach Underground sehe ich aus. An beiden Armen tätowiert. Nasenring und Zungenpiercing. Kajalstift-Wimpern. Eine gefährliche Echse aus der Subkultur. Ich starre auf mein Handydisplay, mache ein Selfie und stelle es auf all meine Accounts. Nach ein paar Upload-Sekunden hagelt es vor allem Dislikes. Tausende angebliche Freunde fragen, ob DIESES WESEN da wirklich ich bin. Fest steht, dass mich bereits jetzt die gesamte Kleinstadt zu hassen beginnt. Vielleicht ist Papas Idee von einem Internat in Ostdeutschland doch nicht so blöd.

Je näher der Abflug nach Frankfurt heranrückt, desto lauter werden die deutschen Stimmen um mich. Ich habe echt keinen Bock mehr auf diese Sauerkraut-Sprache, mit all den Labskaus-Vokalen und Franzbrötchenkonsonanten. Ein Volk der Aalsuppenfresser, bei denen als Nachtisch ein Gericht namens Qualle auf Sand gereicht wird. Ist zwar nur eine trockene Kuchenmasse mit Quark und Früchten aber trotzdem: Qualle auf Sand. Also wirklich. Dazu noch die verdammten Kasseler Rippchen.

Besonders schlimm wird es, wenn Deutsche kreativ kochen wollen: Im Frühjahr hat Angela eine schwarze Pizza mit Belag aus Trüffelcreme, Spargel, Minz-Limetten-Schafskäse und Granatapfelkernen in den Fornaio geschoben. Das Ding sah aus wie ein zerquetschter Key Lime Pie auf einem Kuhfladen. Ich glaube, ich habe mehrere Wochen lang kein einziges Wort mit der Schlamassel-Köchin gesprochen.

All diese kulinarischen Niederlagen werden wiederkehren – und wie. Heute ist erst der 30. Juli. Noch mehr als vier Wochen Ferien. Früher hätte ich mich darüber gefreut. Aber jetzt lähmt mich die Aussicht auf 26 Tage weiteren Stillstand. Okay, ich werde gta v bis zum Abwinken zocken. Zu den Body-Meisterwerken auf YouPorn wichsen, bis der rechte Oberarm doppelt so dick wie der linke geworden ist. Oder TT im Strandbad spielen, auf dem grünen BTX rumkurven (was für eine Niederlage, wenn ich an die halloweenfarbene KTM in Neapel denke) oder Waldläufe machen, Gitarre spielen – und vor allem die Zeit totschlagen, bis sich kein Zeiger mehr rührt.

Ich habe keinen Plan für mein Leben parat. Nicht einmal einen doofen Beipackzettel dafür. Ich habe Lust auf alles und nach gar nichts zugleich. Das macht mich unberechenbar. Ich könnte jemanden umlegen. Oder in Info eine Eins schreiben. Die ganze Online-Zockerwelt in gta v schlagen. Mein grünes BTX gegen die Garagenwand fahren. Einen Wagen klauen und mich dabei so lange großartig fühlen bis mich die Bullen auf einem einsamen Parkplatz Hopps nehmen würden. Ich male mir die unmöglichsten Dinge aus, aber wahrscheinlich werde ich nur tagelang die verdammte Holzdecke in meinem Scheißzimmer anstarren. Und mich hundert Jahre alt fühlen. Lebendig begraben. Wie einer dieser ausgetrockneten Greise in Neapel-Umgebung.

Die Maschine nach Frankfurt gibt mir den Rest. Also weniger der Airbus 319 als ihr verkommener Inhalt: 95 Prozent sind Durchschnittsfamilien, die nicht einmal der Jüngste Tag aus dem täglichen Stumpfsinn holen kann. Die Kids zocken wie blöd auf den Smartphones herum, die Mütter sehnen sich nach der Flasche Sekt im Kühlschrank daheim und die Väter hoffen auf einen Lottosechser, eine geile Nutte im Laufhaus oder sonst auf ein mittelprächtiges Wunder. Richtig erbärmlich. Das allergrößte ist, dass mir eines dieser Michelin-Männchen aufs Kabinenklo nachläuft, um für einen 50er wer weiß was zu wollen.

– Hey, auf 17C bis 17E sitzen deine Frau und deine zwei Kinder.
– Und wenn schon. Ich bin so geil auf schwarzhaarige Emoboys.
– Aber das ist das Kabinenklo in einem Lufthansa-Airbus und keine Bahnhofsunterführung in Neukölln.
– Egal. Sieht doch keiner her.

Dann geht es los: der erste Zugriff auf meinen Hintern. Und jede Menge schleimige Komplimente. Ich frage mich, welche Drogen diesen Kerl so mürbe gemacht haben. Wahrscheinlich war es nur der eigene Wahnsinn. Immerhin kommt der Purser vorbei und fragt, was hier zwischen uns abgeht. Ich sage nichts, weil ich keinen zusätzlichen Ärger kriegen will, und der fette Glatzkopf verschwindet mit einem bösen Murmeln aufs Klo.

Am Frankfurter Airport bekomme ich Stress. Abflug nach Klagenfurt in nicht einmal einer halben Stunde. Mein Dad wird schön langsam von Zuhause wegfahren. Er ist immer mindestens eine Stunde zu früh dran, wenn er jemanden vom Flughafen abholen muss. Eigentlich habe ich Null Bock nachhause zu kommen. Was für ein Zuhause überhaupt? Wenn ich wohin gehöre, dann in die Hölle, und dort zu den allerschlimmsten Fällen hinunter. Neunter Höllenkreis. Wo die Kohlen vor sich her glühen. Und jeder die krassesten Sachen anstellt.

Die fette Glatze verdrückt sich mit seiner 17cde-Familie Richtung Ausgang. Sieht mich noch einmal sehnsüchtig an. Der Sabber blubbert aus seinem Maul wie eitriger Abschaum. Im neunten Höllenkreis wird es auch nicht wilder zugehen als in einem Airbus 319 oder hier am Flughafen.

Ich schaue auf mein Handy. Noch zu 3 % geladen. WhatsApp-Button: 112 ungelesene Nachrichten. Auf Instagram 62. Dazu 24 versuchte Skype-Anrufe. Und Christian mit seinen Snapchat-Anfragen: Komm, lass uns die Gesichter zu Katzenköpfen umzeichnen. Oder Häschen sind auch okay. Mit einer rosafarbenen Schleife im Haar. Und so Herzen um uns herum.

Hmmm. Irgendwie ist es höchste Zeit, mich vom alltäglichen Wahnsinn aus Patchwork-Familie, schrägen Freunden und meiner ewigen Unlust zu verabschieden. Ich atme noch fünfmal durch. Ein einziges Mal mutig sein, und zwar genau JETZT. Noch zehn Sekunden. Ich sehe einer typischen Kleinfamilie hinterher: entnervter Dad. Depressive Mom. Vier quengelnde Kinder, davon eines im Rollstuhl. The-Lifestyle-You-Ordered-Is-Currently-Out-Of-Stock.

Ich löse die zerkratzte Plastikhülle vom Smartphone, hole die Sim-Karte aus dem Schuber und werfe sie zusammen mit dem Akku in den nächsten Papierkorb. Eine dunkelhäutige Putzfrau sieht mich fragend an. Ich muss wie ein minderjähriger Dealer wirken, der sich seiner Beweismittel entledigt. Auf jeden Fall bin ich jetzt für die nächste Zeit off. Irgendwie der Welt abhandengekommen. Niemand kann mir jetzt in die Quere kommen. Oder irgendwelche Anweisungen geben. Oder auch nur etwas Bescheuertes mailen. Jeder Tweet, jedes Sms, jeder Chatversuch – alles vergebens. Ich kann Euch weder hören noch sehen noch sonst was. Ihr könnt mich kreuzweise. Ein schöner Gedanke, irgendwie. So beruhigend, so belämmert, so richtig ich.

Seltsam gelassen schlendere ich an den Departure Gates vorbei und erreiche den Ausgang. Ein lauer Abendwind empfängt mich. Dreihundert Taxis in die Innenstadt warten auf jene, die zu wenig Zeit haben. Also beinahe auf alle. Ab jetzt weiß niemand mehr, wo ich bin. Nicht einmal ich selbst. Cool irgendwie. Mega aufregend. Und sehr wahrscheinlich vollkommen irre. Egal. Ich habe 78 Euro in der Hosentasche und meine Under-Armour-Sporttasche in Schockorange und blauem Camouflage-Muster dabei.

Ein Typ fragt mich, ob ich mit ihm in die Stadt fahren will.

– Das geht ja schnell, hey. In welche Stadt eigentlich?
– Na, Frankfurt, du kleiner Kiffer. Wie alt bist du denn?
– Siebzehn, höre ich mich lügen. Ab sofort wird jedem alles Mögliche erzählt, nur nicht die verdammte Wahrheit.

Der Kerl ist Mitte 40, fährt einen riesigen BMW mit einer Million Extras und bietet mir eine Zigarette nach der anderen an. Irgendwie erwarte ich, dass er mir spätestens nach der dritten Ampel an den Schwanz greift. Aber es passiert nichts. Außer dass der Kerl mit irgendwelchen Leuten im Bankbereich telefoniert. Auf Englisch, Italienisch, Arabisch, was weiß ich. Irgendwie geht es um jede Menge Kohle, um Aktienbündel, Derivatprodukte, es geht ums Geldverdienen, um Leute-über-den-Tisch-ziehen, es geht wie immer um ein und dasselbe: schlauer zu sein als alle anderen. Und sich mit der Kohle der Betrogenen aus dem Staub machen. Gta v ist einfach überall. Nur dass es in der Wirklichkeit nicht ganz so kriminell aussieht.

Am Hauptbahnhof wirft mich der Typ raus. Ich frage mich, wozu er meine Anwesenheit gebraucht hat. Die Erwachsenen sind entschieden komische Leute. Irgendwie hat mich der Typ die ganze Zeit aus den Augenwinkeln heraus gemustert, aber hat nichts gewollt oder mich angefasst oder irgendwas Schräges gefragt. Es sah so aus, als ob er mich einfach bei sich haben wollte. Um ein paar Blicke auf meinen mageren Körper zu werfen. Und dabei ganz seltsam zu lächeln.

Das erste, was ich am Frankfurter Bahnhof sehe, sind fünf Cops, die einen Punk mit grünen Haaren abführen. Kabelbinder am Rücken, links und rechts je eine fette Agentin des Bundeskriminalamts. Los Santos verpufft in meinem Kopf zu Milliarden auseinanderstiebender Pixel. Die illusionsfreie Wirklichkeit hat mich wieder. Und wird mich nicht so schnell wieder loslassen.

Angeblich soll Frankfurt die reichste Stadt Deutschlands sein, aber hier am Bahnhof sieht es eindeutig nach Müllhalde aus. Von all den Banken und Versicherungstürmen keine Spur. Nur Bettler, Punks und räudige Hunde, deren Herrchen an einer kaputten Gitarre herum zupfen. Manchmal wirft jemand ein paar Münzen in die aufgestellte Blechdose. Wenn genug beisammen ist, gehen alle in den nächsten Aldi Apfelwein und Dosenbier einkaufen.

Ein dickes Mädchen mit feuerrotem Haar fragt mich, ob ich von zuhause abgehauen bin. Der Einfachheit halber sage ich ja. Eigentlich ist es umgekehrt: ich war auf dem Rückweg nachhause, hatte aber keine Lust mehr, den Anschlussflug ins heimatliche Elend zu nehmen.

– Bist aber noch nicht lange auf der Straße. Siehst ja irgendwie frisch geduscht aus.

Das Mädchen mit dem feuerroten Haar hat irgendwie einen Blick dafür. Ich kapiere, dass „frisch geduscht“ für die Leute rund um den Bahnhof eine Art Beleidigung ist. Hoffentlich fange ich bald zu schimmeln an. Ich kann es gar nicht erwarten, wie eine wandelnde Müllhalde auszusehen. Das Mädchen mit zu viel Henna im Haar hat eine Ratte dabei, die überall an ihrem fülligen Körper herumläuft. Irgendwie erinnert mich der Nager an das Gesicht von meinem Englischprofessor.

Ich gestehe grinsend, dass ich aus einem Jugendheim ausgebüchst bin.

– In Bayern, deswegen der doofe Dialekt.

Ich übe mich schon einmal im Geschichten-Ausdenken.

– Wie alt bist du überhaupt?

Ich würde gern Achtzehn sagen, traue mich aber doch nicht ganz drüber.

– 16einhalb.
– Echt? Ich hätte dir höchstens dreizehn gegeben.

Ich ziehe einen Schmollmund quer über den Bahnhofsplatz. Immerhin gibt mir das Mädchen etwas von ihren Schätzen ab: eine selbst gedrehte Roth-Händle, die halbe Bierdose und eine langsame Tablette. Gut gegen die Aufregung zum ersten Mal hier draußen zu sein.

Hmmm.

Ich nehme einen Schluck Bier und würge die Tablette hinunter. Ganz schön groß das Ding. Zehn Sekunden spüre ich gar nichts. Dann kippen die umliegenden Gebäude wie Kegel auf einer Bowlingbahn um, die Leute verwandeln sich alle in Mumien oder Zombies, und vom Himmel strömt giftgrüne Tinte herab. Danach gehen alle Lichter aus. Ich weiß noch, dass ich vornübergekippt bin und übertrieben laute Orgelmusik gehört habe. Aber nicht von Johann Sebastian Bach. Eher von den Toten Hosen oder von Deichkind gespielt.

In der Nacht erwache ich in einem Raum, wo noch zehn andere drin sind. Alles ist dunkel und unheimlich still. Das Mädchen mit dem feuerroten Haar liegt neben mir in einer Art Koma. An einem ihrer Mundwinkel klebt getrocknetes Blut. Ihre Ratte läuft nervös herum, auf der Suche nach Abfall. Es riecht nach Fabrikhalle, Erbrochenem und was weiß ich alles. Die Hälfte der Leute in diesem Unterstand scheint eher tot zu sein als einfach zu pennen. Wie ich hierher geraten bin, bleibt unklar. Meine Under-Armour-Tasche ist auch weg. Sicher geklaut. Ist aber eh nicht so wichtig. Das frühere Leben gleitet von mir ab wie ein Stück abgestorbene Haut. Fühlt sich gar nicht so schlecht an. Wie eine zweite Geburt.

Für ein paar Sekunden stelle ich mir Dad gestern Abend am Flughafen vor. Alle Passagiere kommen raus bis auf mich. Er muss ausgeflippt sein vor Angst, Wut und Enttäuschung. Wenigstens habe ich mein Handy weggeworfen. Zweitausend versuchte Anrufe, dreihundert Messages und all der andere Scheiß. Immer diese Aufregung. Dieser permanente Alarmzustand. Irgendwie typisch für die gesamte verdammte Gesellschaft.

Ganz sicher hat Dad noch am Flughafen eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Aufgrund der Passagierlisten muss ich am Frankfurter Flughafen abgehauen sein. Seit ein paar Stunden wird mein Fahndungsfoto durch alle Polizeicomputer der Welt gescannt, ich frag mich nur welches. Wenn es eines aus meiner Unterstufenschulzeit ist, werde ich ziemlich lang unentdeckt bleiben. Auf jeden Fall fühle ich mich gerade ziemlich cool und unangreifbar. Irgendwie über den Dingen schwebend. Beinahe wie ein – #halberrockstar.

Ich stehe auf und gehe zum Fenster hinüber. Gegenüber ist eine Art grauer Würfel, ein Wohnblock der unansehnlichsten Art. Jedes Zimmer ist fahl beleuchtet, und die darin befindlichen Menschen sehen unglücklich aus. In einem Raum steht ein Kerl vor dem Spiegel, und dieser Typ ist ungefähr so alt wie mein Dad. Mir ist nicht ganz klar, warum er da einsam vor dem Spiegel posiert. Er hat eine Art Sträflingsgewand an und rührt sich nicht von der Stelle. In einem anderen Raum fickt ein ungleiches Paar miteinander, aber beide haben irgendwie keinen Spaß dabei. Ihre Bewegungen werden so wie das Vor-dem-Spiegel-Verharren im Nebenraum von einer Kamera registriert. Im nächsten Zimmer hockt ein kleiner Junge und zockt gta v. Er ist vielleicht elf Jahre alt und so einsam, dass er es nicht einmal selber bemerkt: richtig eingeschlossen in einer empathielosen Kälte. So geht es weiter, durch das ganze verdammte Betonhaus. Niemand hat Spaß mehr im Leben, alle in diesem grauen Würfel wirken müde, leer und irgendwie tot: eine Handvoll überwachter Zombies in ihren Verliesen.

Ich scheine stundenlang dort hinüber gegafft zu haben. Wie einer dieser sensationsgeilen Typen, die mit ihrem eigenen Leben nichts anfangen können. Inzwischen ist es hell geworden, und plötzlich steht jemand neben mir am Fensterbrett. Ein Punk mit pockennarbigem Gesicht. Lilafarbenem Haar. Und jede Menge Sicherheitsnadeln in den Ohren und in beiden Wangen. Muss weh tun, irgendwie. Sieht aber auch steil aus. Auf jeden Fall ziemlich gefährlich. Natürlich raucht der Punk einen Joint und bietet mir auch ein paar Lungenzüge an.

– Ausgerissen, oder?

Es scheint die einzige Frage zu sein, die in diesem Gegenreich gestellt wird.

– Ja, so ungefähr. Ist doch egal, oder?

Ich drehe mich um. Ein leerer, kahler Raum gähnt vor mir. Der Putz fällt von den Wänden. Kein einziges Möbelstück steht hier herum, nur ein paar übereinander gelegte Europaletten stellen so was Ähnliches wie eine Einrichtung dar. Die anderen Leute sind längst abgehauen. Ein schwarzer Hund und eine traurig aussehende Akustikgitarre liegen noch am Boden herum. Der Köter scheint zwei Köpfe und einen Schlangenschwanz zu haben und beschnüffelt mäßig begeistert am Holz der Europaletten.

– Keine Angst, das ist Kerby. Er ist schon uralt, fast blind und hat ein riesiges Geschwulst am Kopf. Wo er hin kotzt, wachsen giftige Blumen.

Ich versuche nicht hinzuschauen und starre den seltsamen Hund erst recht ganz genau an. Irgendwie voll behindert das Tier. Und doch wieder rührend.

– Worauf hast du da drüben hin geglotzt, will der Pockenpunk wissen. Auf seinem löchrigen T-Shirt steht „Things at random“.

– Hmmm, auf nichts bestimmtes. Nur auf dieses graue Betonhaus mit den traurigen Leuten drin.

– Ist aber nur ein verdammter Friedhof da.

– Was?

Ich schaue wieder zum Fenster hinaus, und der graue Betonklotz auf der anderen Seite ist tatsächlich einer parkähnlichen Fläche aus tausenden Kreuzen und Grabsteinen gewichen.

– Gehen wir ins Peng, fragt der Punk.
– Wohin?
– Es ist nice dort: bunt, laut, schrill, lebendig. Und nicht so bescheuert tot wie der Rest der Welt.
– Also das genaue Gegenteil von freudlosen Wichsern in einem grauen Betonblock?
– Korrekt. Im Peng gibt es auch Cha-Tee, Hanfbier und Honigkuchen. Kerby frisst sowas auch gern. Außerdem sind nur abgefahrene Leute dort. Also garantiert keine Cops.

Klingt alles vielversprechend. Bullen muss ich nicht unbedingt sehen. Ich habe keinen Ausweis dabei, kein Handy, gar nichts. Nur ein paar lumpige Euros. Aber ich mach mir keine großen Sorgen um mich. Warum auch? Es ist Sommer, und endlich passt niemand mehr auf mich auf.

Keine Ahnung wie lange wir so dahin gelatscht sind, aber es war eine ziemliche Strecke, die meiste Zeit an einer langweiligen Einöde vorüber: aufgelassene Werkstätten, Müllhalden mit kaputten Autowracks, leerstehende Lagerhallen, Türme aus alten Reifen. Das Ende der Welt. Zumindest der Verbrennungsmotoren. Die Sonne glüht von einem grauen Himmel herunter. Die Luft riecht nach Schmieröl oder ranziger Butter. Ab und an bleibt Kerby stehen, hebt langsam einen Hinterlauf hoch und will pissen, aber es geht nicht.

– Sieht nicht gut aus, dein Hund.
– Kerby hat nie gut ausgesehen. Ist aber normal. Ich habe ihn schon vor Jahren aus einem Tierheim in der Höllenstraße geklaut.

Nach einer Stunde Fußmarsch kommen wir endlich beim Peng an. Klingt gefährlich nach Schusswechsel, aber in Wirklichkeit heißt der Laden Penguin. Die letzten drei Buchstaben sind irgendwann einmal abhandengekommen. Vom Dach fehlt auch schon die Hälfte. Aber drinnen ist richtig was los. Alle möglichen, nein, eher die unmöglichen Leute sind da. Die aus der geldgeilen Gegenwartsgemeinschaft Ausgeschlossenen, die Apokalyptiker und Anarchisten: also jene Leute, die eine Menge geiler Ideen, aber keine Sozialversicherung haben.

Der Punk verschwindet mit seinem Geschwulsthund in der Menge, und ich habe keine Ahnung, ob er jemals wieder zurückkommen wird. Auf jeden Fall halte ich jetzt seine alte Fender in der Hand. Irgendwie sieht die Gitarre cool aus: der zerkratzte Mahagoniholzkörper ist mit hunderten Stickern beklebt, und an bestimmten Bünden sind die Umrisse einer Höllenkatze zu sehen.

Das Irre ist – ich kenne die Bauart sogar. Es ist eine Rancid-Gitarre, von einem gewissen Tim Armstrong ertüftelt. Mein Dad hat dieselbe Klampfe an unserer Wohnzimmerwand hängen. Aber so lange ich keine Barré-Akkorde spielen kann, darf ich nicht ran. Das ist so ein Deal, den Dad mit mir ausgemacht hat. Er bildet sich ein, dass ich der nächste Lemmy Kilmister werden muss, oder Mick Mars von diesem zusammen gewürfelten Haufen, dessen Namen mir nie einfällt. Manchmal, wenn meine Ellis außer Haus waren, habe ich die Hellcat trotzdem von der Wand geholt, sie in aller Eile per CoachTuner gestimmt und darauf ein paar alte Nirvana-Hadern auf die Schnelle herunter gesäbelt. „Come As You Are“ zum Beispiel ist super, wenn man sein Instrument kaum beherrscht. Nur zwei Riffe und ein Strumming wie beim Gruppenwichsen.

– Hey, du bist doch Musiker oder?
– Was?

Ein Mädchen um die Zwanzig spricht mich an. Extremely nice. Es ist das allererste Mal, dass mich ein älteres Girl anspricht, wenn man von meiner älteren Schwester absieht. Wahrscheinlich hat sich die Gute bei den Kontaktlinsen vertan. Oder sie verwechselt mich mit ihrem jüngeren Stiefbruder.

– Ich bin Phoebe, sagt sie lächelnd.

Irgendwie hat sie einen komischen Akzent. Wie eine vor Jahren in die Staaten ausgewanderte Italienerin. Mit einer Stimme, die mich eher an Adriano Celentano als an eine junge Römerin erinnert. Vielleicht ist sie Kettenraucherin, ziemlich sicher sogar.

– Und wie heißt du, will sie noch wissen.

Leute über 18 wollen immer alles Mögliche wissen.

– Ich äh bin äh … Curt. Mit C. Curt wie in Cobain.

Zufällig habe ich heute ein Nirvana-T-Shirt an. Das einzige Kleidungsstück, das ich heute Morgen in meiner geplünderten Under-Armour-Tasche draußen neben einer Mülltonne gefunden habe. Ich hatte mir das Ding in aller Eile übergestülpt, kurz bevor ich mit dem Punk hierher ins Peng gelatscht bin.

– Hey Curt, magst du uns etwas vorspielen?
– Aber das ist doch nicht einmal meine Gitarre.
– Na und? Ist doch egal, wem etwas gehört oder?
– Nein, ganz und gar nicht. Jemand hat die Gitarre mal gekauft, und dem gehört sie dann. Außer er verkauft sie auf Geizhals oder Will-haben-at weiter.

Ich fühle mich wie ein Vater, der seiner 10jährigen Tochter die Welt erklärt, ohne selbst den blassesten Schimmer von irgendetwas zu haben.

– Du bist genauso altklug wie mein Bruder.
– Wer ist das schon wieder?
– Ach, er heißt Holden. Und steht da vorn an der Bar. In diesem komischen Anzug.

Kann gut sein, dass ich diesen verdammten Namen schon einmal gehört habe. Nicht gerade beim Online-Zocken, aber vielleicht im Englischunterricht oder so. Holden. Beim Poker gibt es so etwas auch: Texas Holden. Oder so ähnlich. Texas Is Always the Reason.

– Also, spielst du uns jetzt was vor oder nicht?

Phoebe schaut mich an, als ob ich höchstens 12 Jahre alt wäre – und sie nicht älter als neun. Das Mädchen hat ein indisches Kleid oder so an, ziemlich bunt und voll retro. Außerdem riecht sie nach Patchuli. Oder nach Shit. Das Peng ist knallvoll mit schrägen Leuten. Die meisten rauchen sich ein oder verziehen sich zur Einnahme härterer Sachen aufs Klo. Eigentlich hätte ich jetzt gern einen Kakao, kriege aber nur ein Hanfbier. Anstelle von Milch und Schokolade verschlammt bitterer Schaum meine Mundhöhle. Ich bemühe mich nicht zu husten und beim Trinken halbwegs erwachsen auszusehen. Es fällt mir so schwer wie die Augen offen zu halten. Oder Mathe zu lernen. Und den Angriffen der Killervektoren zu widerstehen.

Phoebe unterhält sich mit Zwanzigjährigen, die sich wie Sonderschüler aufführen. Es fehlt nur noch, dass sie einander mit Tafelschwämmen bewerfen. Nachdem auch der letzte Knallknopf die Gitarre in meiner Hand bemerkt hat, muss ich mit irgendwas loslegen. Der pockennarbige Punk ist sowieso untergetaucht. Zusammen mit seinem Geschwulsthund.

Ich probiere was Leichtes. Zwei Akkorde, die auch der Unterbelichtetste spielen kann. Em und Dsus, Jesus, wie geht der nochmal. Dann folgen noch drei weitere Griffe: G EM und C AM. Mehr als zurückhaltend betasten meine Finger die Metallsaiten, als ob noch ein Batzen Scheiße dran klebte. Nach einer halben Ewigkeit gerate ich doch in den Song: Come as you are / as I want you to be / as a friend / as a trend.

Meine Stimme klingt unfassbar kindlich. Richtig saudoof. Ich wünschte, sie wäre viel tiefer und rauer und klänge richtig gefährlich und so. Aber dem Sauhaufen vor mir gefällt es. Ein paar applaudieren sogar. Wow. Das ist der erste Applaus, den ich für mein Gitarrenspiel bekomme. Normalerweise brüllt mich Frau Aspetsberger von der Musikschule an und rät mir entweder die Klampfe auf den Müll zu werfen oder mit einem Kochlöffel meine klammen Finger zu spreizen. Nur dein Strumming ist gut.

Kein Wunder, das habe ich auch vom Wichsen übernommen. Ich beherrsche die wichtigsten Taktfolgen: unter der Schulbank fange ich gemütlich mit 4/4 an, wechsle danach zu den ersten Pornos am Schulklo in den Schnellpolka-Modus und spritze nachmittags hinter den Büschen im Stadtpark im irischen 6/8-Takt zu einem geilen Gangbang-Vid ab, wo die Wichse den Leuten nur so ins Gesicht spritzt…grrr! Wie geil das Verbotene ist. Besonders wenn es die anderen Jungs in der Klasse ebenso machen. Zumindest die Aufgeschlossenen unter ihnen.

– Du spielst super, lächelt Phoebe und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

Entweder ist sie vollkommen durch den Wind oder wirklich erst 10 Jahre alt. Auf jeden Fall scheint sie etwas mit diesem Holden zu haben, der vorne an der Bar mit einem gutaussehenden Kerl über irgendetwas in einem Whiskyglas streitet.

– Der andere heißt Stradlater oder so ähnlich, sagt Phoebe.

Alle in diesem Peng-Café haben komische Namen. Phoebe, Stradlater, Holden. Nur ich habe keinen, obwohl ich vorhin erwähnt habe, dass ich Curt heiße. Curt wie in Cobain, Crystal Meth oder Cocaine.

– Brauchst du etwas, fragt mich ein Typ, der grell geschminkt ist und eine Menge bunter Frauensachen anhat.
– Hmmm. Und was zum Beispiel?

Der Transgender-Pirat mit der schwarzen Augenklappe leiert minutenlang etwas auf Altgriechisch herunter und legt mir schließlich zwei Tabletten auf den Gitarrenkorpus. Die beiden Pillen sehen bunt und vertrauenswürdig aus, wie Kaubonbons aus dem roten Automaten vor unserem Schulhaus. Ich nehme die blaue, kriege einen Schweißausbruch und werde geil hoch zehn. Exakt das Gegenteil von dem, was ich jetzt bräuchte.

– Dann nimm gleich die rote dazu, die bremst dich etwas ein, rät Percey Prep, wie sich der Transenpirat nennt.

Ich folge seinem Rat, schlucke auch die rote Kapsel hinunter und warte, bis irgendwelche chemische Verbindungen mein Innenleben verändern. Und die öde Welt da draußen zu einem grell aufgepeppten Planeten mutiert, den man plötzlich richtig gut aushalten kann. Ich beginne mich gerade in der Drogenwelt etwas einzurichten, da bricht ein irrer Wirbelsturm los. Es ist Holden, der mit hochrotem Gesicht die nächste Superstory in die Welt twittert. Irgendwie kommt er mir vor wie der übergewichtige Alarmist aus dem Weißen Haus. Der mit der ruinierten Lederhaut und dem Katzenskalp auf der beginnenden Glatze.

– Hey Leute, ob ihr es glaubt oder nicht: dieser Stradlater hat vorhin Kerby erschossen!
– Wen?

Phoebe ploppt an einem nagellackroten Kaugummi herum, der wegen gefährlicher Inhaltsstoffe in Europa nicht mehr verkauft werden darf. Ihr Blick wird so langsam wie sich die letzten Tage vor den Sommerferien anfühlen. Eine endlose Durststrecke aus Neigungsgruppen-Unterricht, den überhaupt keiner will. Holden plustert sich auf wie ein Gelbbrust-Ara auf Acid, der gleich von der Stange in seinem goldenen Käfig plumpsen wird. Weil er sich über jeden Scheißdreck aufregt.

– Meinst du den Höllenhund von dem seltsamen Punk?

Diesen verdammten Satz hätte ich mir lieber für den jüngsten Tag aufheben sollen. Wenn die törichten Jungfrauen die Ankunft des Messias verpennen oder so ähnlich. Wer sollte Kerby sonst sein – Satans Blindenhund oder so ähnlich?

– Erraten, kleiner Troll. Der Typ heißt Lutz Iffer und war früher angeblich ein Fährmann am Rhein. Was natürlich frei erfunden ist. Wie jeder hier auf diesem verkommenen Planeten lügt was das Zeug hält. Was machst du eigentlich aus deinem Leben, kleiner Troll?

Mir ist klar, dass ich für den Rest meiner versifften Existenz Holdens kleiner Troll bleiben werde. Früher hätte ich jemandem wie ihm die Fresse eingeschlagen, aber jetzt lassen mich Holdens kleinen Sticheleien kalt – weil Percey Preps langsame Tablette endlich zu wirken beginnt. Oder Phoebe mit ihrer dunklen Reibeisenstimme dazwischenfährt. Was die Energie geladene Situation auch ein wenig entschärft.

– Lass ihn Holden. Das ist Curt mit C, und er spielt ziemlich gut Gitarre.

Das Patchouli-Mädchen bemüht sich so nett wie möglich zu sein. Wie mein dussliger Halbbruder Sven, wenn er noch eine Extraportion Vanilleeis haben möchte. Oder Johnny, der mir für einen Blowjob bis ans Ende der Welt nachlaufen würde. Meistens holt er mich noch vor dem Stadtpark ein. Und ich habe nichts Besseres zu tun als seiner Geilheit nachzugeben. Wieder einmal typisch ich.

– Außerdem ist Curt erst siebzehn.
– Siebzehn, häh? Darauf hätte nicht einmal Kerby einen Hundefurz gelassen. Unser kleiner Troll ist maximal vierzehn, grinst Holden und klimpert mit einem uralten Zündschlüssel in der rechten Hand herum.
– Eine Spritzfahrt gefällig, kleiner Troll? Du kannst zu Phoebe und mir in den rosafarbenen Chevy steigen. Irgendwie bist du sympathisch, ich weiß auch nicht warum. Vielleicht bist du ebenfalls aus einem verdammten Internat ausgerissen. Wie ich vor 70 Jahren oder so ähnlich.

Ich verstehe nur das Abstellgleis auf einem kalabresischen Bahnhof, aber egal. Meine Achseln zucken routiniert, und nebenbei schaue ich Holden etwas genauer an. Mr. Wiseguy trägt einen mausgrauen Anzug, der so aussieht, als wären darin schon mehrere Leute gestorben. Verbeult, aus der Fasson geraten, schäbig und irgendwie feucht. Wahrscheinlich nistet ausreichend Ungeziefer im Innenfutter, um damit eine eigene Universum-Folge zu drehen. Das Gegenteil von diesem Zegna-Zeug, das ich vor lauter Langeweile in der Galleria Umberto Primo in Neapel ausprobiert habe. Kein einziges Stück hat mir in diesem neapolitanischen Luxusladen gepasst. Kein Wunder bei 180cm und 55kg. Aber die Stoffe fühlten sich geil an. Geil und teuer. Doppelt geil also.

Die tödliche Attacke auf Kerby hat Holden jedenfalls richtig wütend gemacht. Aber das ist noch nicht alles. Stradlater hat anscheinend nicht nur den Hund umgelegt, sondern auch einen Glasballon des Peng-Cafés mit dem geheimen Goldfisch darin in den Gully versenkt.

– Was sagst du dazu, kleiner Troll? Ich meine, solche Wichser wie Strad verseuchen die Welt. Kommt, fahren wir los, bevor der Typ den Laden mit einer selbst gebastelten Bombe hoch gehen lässt. Reiche Schnösel in engen blauen Anzügen sind zu allem fähig. Nicht nur das Peng geht an solchen Leuten zugrunde, sondern der ganze verdammte Planet. Und soviel ich weiß, gibt es keinen zweiten in Reichweite.

Holdens Ausführungen erinnern irgendwie an ein Manifest oder an gewisse Artikel in unserer Schülerzeitung: meist von diesen verpickelten Siebzehnjährigen verfasst, die bei Leberkässemmel und zuckerfreiem Cola von der Weltrevolution träumen.

Davanti al cancello, tanta gente…, weiß der Teufel, warum mir dieser uralte Venditti-Song einfällt. Antonia hat ihn manchmal am Klavier gespielt, aber so viel Moll auf einmal war für mich kaum auszuhalten gewesen. Ich für meinen Teil habe lieber Martin Garrix gehört. Oder Alan Walker. Oder Amiciis, bevor er sich mit zwanzig Paletten Wodka ins Jenseits gebeamt hat.

Da ich sowieso auf der Flucht bin, gehe ich mit Phoebe und Holden auf die Straße hinaus. Es muss irgendwie Mittag sein. Die Sonne steht hoch am bleigrauen Himmel und versengt Mitteldeutschland. Der Chevy parkt um die Ecke. Ein Chevrolet Baujahr 1952, Leute. Ganze dreizehn Jahr älter als mein Dad und der ist schon uralt. Acht Meter lang ist die Karosse aus dem Frühmittelalter. Ein Blechpanzer in Barbierosa. 1952 war Lemmy Kilmister von Motörhead ganze sieben Jahre alt. Und der Rock’n Roll noch fast nicht erfunden.

Ich zögere etwas und frage mich, ob ich in einen Wagen einsteigen soll, der in Percey Preps Lieblingsfarbe lackiert ist. Aber wo soll ich denn sonst hin: ohne Kohle, ohne Gepäck, ohne Handy? Vollkommen lebensuntauglich gemacht für das dritte Jahrtausend.

Ich werfe einen skeptischen Blick auf den Schlitten und überwinde die tausend Einwände meiner guten Erziehung. Mutig bette ich meinen Arsch auf ungefähr 80 Grad heißem Nappaleder und betrachte das Armaturenbrett aus Drehzahl- und Geschwindigkeitsmesser. Laut Tankuhr gehen 55 Gallonen in das Gefährt. Was vielleicht für 400km oder so reicht.

Irgendwie hätte ich Lust, das prähistorische Ding selber zu fahren. Als ich elf war, habe ich einmal den 20 Jahre alten Renault meines Großvaters in Betrieb genommen. Unbefugt, natürlich. Ich bin damit ungefähr 50 Meter weit gekommen. Dann war Endstation. An einer Straßenlaterne, die in einer Rechtskurve stand. Mein Dad hat mich damals verdroschen. Es war das einzige Mal, dass er sowas gemacht hat. Aber die Haue hat mir irgendwie gutgetan. War nicht ungeil, das heftige Klatschen. Später habe ich Johnny gebeten, mir den Hintern zu versohlen. Aber nicht zu fest, na, du weißt schon. Gerade so, dass es noch Spaß macht. Mit vierzehn macht einem alles Mögliche Spaß. Und es gibt eine Menge Leute, die sowas ausnützen.

Holden setzt sich ans Steuer. Phoebe hat mit ihrer Patchouli-Wolke auf der Rückbank Platz genommen. Ohne seine Schwester scheint sich Holden keinen Zentimeter bewegen zu wollen. Irgendwie hat er etwas Trauriges an sich. Als ob er einer Klapsmühle entsprungen wäre. Oder nie richtig Sex gehabt hätte. Wenn ich so alt wäre, würde ich jeden Tag ficken. Und wenn es mit einem Riesenkürbis oder einem Wollschwein wäre. Percey Preps Tabletten wirken noch immer. Mein Schwanz rotiert in der Hose, und die Straße ist in allen Regenbogenfarben gestrichen. Das wilde Café heißt jetzt wieder Penguin, und nicht mehr nur Peng. Als ob die Zeit zurückgedreht worden wäre. Dafür hat der Laden jetzt geschlossen. Und so wie es aussieht, für immer. Zumindest hängt so ein Schild an der Türe. Mit vielen Buchstaben, die nicht das Beste verheißen.

Einige Meter hinter dem Chevy steht der Höllenhund-Killer. Der außerdem den geheimen Goldfisch vom Peng in den Gully geleert hat: Stradlater himself, das größte Arschloch während dieser letzten Tage der Menschheit.

Ich drehe mich um und mustere den gutaussehenden Typen um die Achtzehn oder so: jede Menge Brillantine im Haar, bergseeblaue Augen, Topfigur. Mit dem schleimigsten Grinsen im ganzen Sonnensystem. In einem sehr engen blauen Anzug. Das taillierte Hemd wie die Franzosen bis zum Nabel geöffnet. Wäre ich ein Mädchen, würde ich sofort auf seinem Schwanz reiten. Und dabei hoffen, dass der Sexgott erst in einer Million Jahre abspritzen wird.

Holden führt etwas anderes im Schilde. Er legt den Rückwärtsgang ein und fahrt geradewegs auf Stradlater los. Vollgas. Schwiegermutters Darling schaut entsetzt und hechtet zur Seite, aber Holden erwischt ihn noch mit dem Chevy am Kopf. Ein irrer Schrei. Im Rückspiegel erkenne ich die Fetzen eines blauen Anzugs am Straßenrand. Ein paar zappelnde Lackschuhe. Wo vorhin ein Schädel war, sind nur noch mehrere Liter Ketchup und zerbrochene Knochenschalen zu sehen. Und blonde Haarbüschel, die der heiße Sommerwind in das angrenzende Grundstück weht.

– Hey, du hast den richtig umgebracht, Holden. Ich meine, es war doch pure Absicht, oder? Vorsätzlicher kann man einen Mord kaum begehen.

Da ich auf Perceys Tabletten bin, finde ich das Straßengemetzel voll cool. Irgendwie unwirklich. Wie bei gta v, nachdem ich in der Rolle von Trevor einen Riesendeal gemacht habe, einen höchst illegalen natürlich. Phoebe hat von all dem nichts mitgekriegt. Weil sie in einem zerfledderten Buch liest und an einem Riesen-Lolly lutscht. Ich starre Holden von der Seite her an. Halb bewundernd, halb angewidert. Ungefähr so wie Christian, wenn er mir bei einer schnellen Nummer mit Johnny zusehen müsste.

– Das ist was anderes als dieser David-Copperfield-Mist, oder?

Ich weiß nicht, worauf Holden hinauswill. Also zucke ich bloß mit den Achseln und starre auf den kleinen Baseballhandschuh, der am Rückspiegel baumelt. Irgendwer hat mit rotem Nagellack Allie drauf geschrieben. Wahrscheinlich Phoebe, wer sonst? Keine Ahnung. Bei diesen Amis blicke ich einfach nicht durch.

Dafür fühlt sich das Dahingleiten im rosafarbenen Chevy großartig an. Ab und an werfe ich einen Blick auf die Hellcat-Gitarre. Irgendwie muss ich bald eine Band gründen. Mit Johnny, Christian und ein paar anderen coolen Jungs. Und einem Haufen Mädels als Dauergroupies. Kevin kann ja den Roadie machen, wenn sie ihn aus dem Jugendknast oder der Psychiatrie rauswerfen. Vielleicht reicht es für ein geiles Haus im Grünen und drei Kinder mit ADHS-Syndrom. Wäre sicher meganice: so in der Welt herumfahren, tausende Konzerte und Interviews geben. Sich von der Journalistenmeute bewundern lassen. Und ab und zu ein Hotelzimmer zerlegen. Einfach so weil es Spaß macht. Apple Music oder Spotify werden die Rechnung in Downloads oder in Bitcoins bezahlen. Und ich? Was weiß ich? – Rock’n Roll!

Wenn du ein Star bist, darfst du sowieso alles machen. Holden ist ja auch über Stradlaters Kopf gefahren ohne dass irgendetwas passiert wäre. Zumindest hat uns noch keine Polizeistreife aufgehalten. Obwohl so eine Riesenkarosse in Barbierosa kaum zu übersehen ist. Die Fluchtfahrzeuge auf gta v schauen definitiv anders aus.

Irgendwann halten wir bei einem Burgerladen. Phoebe hat die Kohle und dirigiert ihren seltsamen Bruder auf den Parkplatz der Fastfood-Hütte. Ich frage mich, ob Holden der Zwischenfall mit Stradlater überhaupt etwas ausmacht.

– Der hat es doch verdient, Kleiner Troll. War ein schnöseliger Parvenü. Wie die meisten Sportidioten.

Holden beißt in seinen Cheeseburger. Irgendwie redet er wie mein Opa. Auch wenn der schon eine Weile tot ist. Der verschlissene Anzug unterstreicht das noch. Vor dem Burger King funkelt unser rosafarbener Chevy in der Nachmittagssonne. Ein paar Hooligans in Fußballtrikots machen Selfies davon. Irgendwie traurig. Kommen sich verdammt groß vor und sind doch winzig klein. Vor allem mit dem Ami-Schlitten zusammen. Die hintere Stoßstange ist ziemlich verbeult. Außerdem klebt ein Stück Menschenfleisch am Kotflügel. Mir wird mulmig, irgendwie. Vor allem, weil gerade ein Rottweiler dran knabbert.

– Ob sie uns suchen?
– Wer denn, fragt Phoebe als ob sie einen IQ von hundertfünfzig hätte, aber mit dem falschen Vorzeichen.
– Na, die Bullen.

Die ganze Geschichte wird immer mehr zu einer nicht autorisierten Fassung von Grand Theft Auto V. Blöd, dass ich mein Handy nicht mehr dabeihabe. Das krasse Game hier wird mir echt keiner glauben. Ein paar Schnappschüsse aus dieser Parallelwelt würden sich daher als hilfreich bei meiner Rückkehr ins Kärntner Ödland erweisen.

– Die Cops suchen dauernd irgendwen, murmelt Holden und klaut mir ein paar Chicken Nuggets aus der Papierschachtel, das ist ihr gottverdammter Beruf. Der Beruf von Leuten, die sonst zu nichts taugen. Warum trägst du eigentlich dieses komische Metallzeug im Gesicht?
– Was?
– Na, die Ringe und Punkte da.
– Du meinst das…Piercing?

Ich fasse es nicht, dass Holden solche Essentials nicht kennt. Er muss schon ziemlich lang 18 Jahre alt sein. Oder 13. Oder 120.

– Du siehst damit richtig bescheuert aus. Wie all die anderen Perversen.

Irgendwie hätte ich jetzt Lust, Holden eine rein zu semmeln. Mit 14 ist das so: du merkst, dass dich die verdammte Sprache im Stich zu lassen beginnt und versuchst es dafür mit den Fäusten. Eine Anfangsgerade in die Bauchgegend und los geht’s: mein Kontrahent und ich, wir balgen uns zwischen zerquetschten Fritten und Ketchup verschmierten Servietten auf dem Boden herum und schlagen mindestens fünf Minuten aufeinander ein. Danach bluten wir beide ein bisschen, spucken vielleicht einen Schneidezahn aus und sind wieder die besten Freunde.

– Lass ihn doch, Holden, er ist doch noch fast ein…

…und jetzt kommt das Unwort – die schlimmste und dreckigste aller Vier-Buchstaben-Kombinationen: K.I.N.D.! Bäh, mir kommt fast das Speiben. Im Wandspiegel gegenüber sehe ich einen gefährlichen Emo auf Speed. Eigentlich verdammt abgehoben, fast schon mondän. Die Tätowierungen und das Piercing adeln mich jedenfalls zu einer ziemlich krassen Erscheinung.

Leider kullert mir gerade eine beschissene Träne über die rechte Wange, echt peinlich. Als ob ich wirklich noch 14 Jahre alt wäre. Immer passiert alles zur falschen Zeit: eigentlich willst du dem aufgeblasenen Ami die Fresse polieren. Aber dann beginnst du zu weinen. Und Phoebe streut mir noch ein paar Brisen Salz auf die Wunde, indem sie meine verdammten schwarzen Haare streichelt und mich obendrein zu trösten beginnt. Trösten. Noch so ein verdammtes Wort, aus derselben Unterliga wie Kind. Ungefähr so ekelhaft wie Griesbrei. Oder Fruchtzwerg. Oder das Laterndlfest zum Heiligen Martin.

Ich frage mich, wo zum Teufel wir eigentlich sind. Irgendwo in Deutschland wahrscheinlich. Nördlich von Frankfurt, wo es anscheinend nur noch Viehweiden, Landstraßen und Langeweile in extragroßen Säcken gibt.

– In der Nähe von Dis, antwortet Holden und setzt sich wieder ans Steuer.

Ich rauche eine von Phoebe geschnorrte Gewürznelkenzigarette und öffne mit dem Knie das riesige Chevy-Handschuhfach. Unabsichtlich, ich schwör’s. Hinter der offenstehenden Klappe lauern zwei Pistolen, mehrere Handschellen und kilometerlange Gaffa-Tapes.

– Wofür braucht ihr das Zeug? Wollt ihr Geiseln nehmen oder so? Und wo liegt Dis überhaupt?

Phoebe lächelt milde, wie meine Mamma Antonia kurz vor der Bescherung. Oder wir vor einer Polizeikontrolle. Irgendwann werden sie uns aufklatschen. Spätestens dann kommen die Pistolen aus dem Handschuhfach zum Einsatz. Ich sehe mich schon im Kugelhagel mit Dutzenden Cops zugrunde gehen. Einen ersten Treffer in den Oberarm, dann einen ins Herz, und den letzten ins Auge. Kurz vor dem Ewigen Schwarz bekomme ich noch mit, wie Holdens Schädel wie ein Feuerwerkskörper detoniert.

Dis könnte für Düsseldorf stehen. Die Amis kürzen alles ab. Damit sie die Wörter halbwegs aussprechen können. Mittlerweile ist es Abend geworden, und mir fallen fast die Augenlider herunter. Irgendwie bin ich noch nicht auf Schlafentzug eingestellt. Da fehlen mir noch fünfzehn Jahre bis dahin. Verrückt, aber ausgerechnet jetzt sehne ich mich nach meinem Bett unter dem Holzdach eines Kärntner Einfamilienhauses. Nach diesem 15-Quadratmeter-Zimmer, unaufgeräumt, versaut und doch meins. Mir kommt vor, als wäre ich hundert Jahre lang nicht mehr dort gewesen.

– Woran denkst du, fragt Holden.
– An nichts, lüge ich.

Irgendwie geht mir die komische Fragerei voll auf den Hammer. Aber so ist das in meinem Alter: die ganze Welt stellt Einem andauernd Fragen, aber meistens hast du in diesem idiotischen Quiz nicht eine passende Antwort parat.

– Die allermeisten Leute denken an nichts, doziert Holden, so sieht der Planet auch aus: eine im Stich gelassene Einöde, in der niemand mehr denkt.

Irgendwie erinnert mich Holden an meinen Ethikprofessor in der Schule. Den größten Moralisten unter der Sonne. Mit seltsamen Speichelflocken im rechten Mundwinkel. Ich weiß, wir stecken alle bis zum Hals in der Scheiße. Weil längst die Maschinen das Denken übernommen haben. Das Internet der Dinge. Das Ende der analogen Welt. Außerdem geistern da draußen ständig mutierende Viren herum. Hoffentlich kommt heute Abend kein Sexbot zu mir ins Bett und will ein Fuck-Update mit mir durchführen. Danke, kein Bedarf. Soweit ich weiß, funktioniert alles noch super. Die Wirkung von Perceys Tabletten lässt langsam nach. Ich hätte jetzt gern ein R&B ohne Zucker, einen veganen Cesar’s Salad und muss schön langsam aufs Klo.

Glücklicherweise hat Phoebe dieselbe Idee: also die mit dem Doppelbett oder so. Aber bitte ohne Sexbotbesuche und krasse Tabletten. Höchstens mit einem zuckerfreien R&B auf dem Kopfpolster. Jedenfalls mosert Phoebe so lange, bis Holden den rosafarbenen Blechpanzer tatsächlich vor einem Motel anhält.

Der Schuppen heißt Styx und liegt an einem riesigen Fluss. Wahrscheinlich der Rhein oder so. Auf der anderen Seite der Flut sind jedenfalls eine Menge Lichter zu sehen. Wahrscheinlich jene von Dis, also Düsseldorf. Vorne beim Eingang blinkt ein „Alles besetzt“-Schild in nervösem Rot, aber wir gehen trotzdem hinein. Erstens weil die Amis kein Deutsch verstehen und zweitens alles ignorieren, was außerhalb der Vereinigten Staaten stattfindet.

Der Nachtportier heißt Phlegmatovic und ist halb Grieche, halb Serbe. Er jammert ein bisschen über uns Ignoranten, die draußen das blinkende rote Schild übersehen haben. Wahrscheinlich haben wir ihn nur beim Pornoschauen gestört. Trotzdem gibt er uns die letzten zwei Schlüssel. So richtig altmodische Metalldinger mit einem runden Lederball dran. Die Zimmer haben keine Nummern, sondern seltsame Namen. Meines heißt Alekto, und das von Holden und Phoebe Tisiphone.

Außerdem will der serbische Grieche die Kohle im Voraus haben, man kann ja nie wissen.

Phoebe kümmert sich um das Finanzielle und begleicht die Rechnung mit einem Fünfhunderter aus einem dicken Bündel von lilafarbenen Scheinen. Der Nachtportier kann nicht herausgeben oder tut wenigstens so. Holden will schon eine der beiden Schusswaffen aus dem Handschuhfach holen, aber Phoebe beruhigt ihn lächelnd und überlässt dem griechischen Serben das höchste Trinkgeld seit 1813.

– Kein Problem, wenn du nicht rausgeben kannst. Behalte einfach den Rest.

Ich kriege Augen so groß wie Mühlräder. Der Rest macht dreihundertzehn Euros aus. Mehr als ich in fünf Monaten Taschengeld bekomme.

– Woher habt ihr die viele Kohle, will ich neugierig wie ein Achtjähriger wissen.
– Guck mal im Kofferraum nach.
– Soll ich wirklich nachsehen?

Irgendwie traue ich mich nicht. Das Gefühl in der Bauchgegend schreit Nein. Und zwar ziemlich laut.

Holden begleitet mich zum Chevy hinaus und reißt den Deckel des Kofferraums hoch. Mir gehen die Augen über. Mehrere Ballen Haschisch und einige Säcke kolumbianisches Marschierpulver lagern zwischen Ersatzreifen und Pannendreieck. Außerdem ist irgendjemand in einen persischen Teppich gewickelt. Zumindest sehe ich zwei Beine, die in Socken und schwarzen Lackschuhen stecken. Natürlich rührt sich da nichts mehr. Dem Geruch nach zu schließen schon ziemlich lange nicht mehr.

Was ich im Kofferraum erspähe, reicht für dreimal Lebenslänglich plus zweihundert Jahre. Für mich werden auch noch vier Jahre Knast rausspringen, wenn ich nicht sofort zur Polizei laufe.

– Vergiss den Kram und geh jetzt pennen, kleiner Troll.

Holden wuchtet den Kofferraumdeckel zu und verschwindet mit seiner seltsamen Schwester aufs Zimmer. Im Vorübergehen drückt mir Phoebe noch drei Scheine in die Hand. Tausendfünfhundert Euro. Oder 30 Monate Taschengeld im Voraus, fast bis zur Matura. Ohne dass ich etwas dafür machen muss. Außer den Schnabel zu halten. Die Götter müssen verrückt geworden sein, und zwar ausnahmslos alle.

Mein Zimmer mit dem seltsamen Namen geht zum Fluss hinaus. Das Wasser ist dunkel, fast schwarz, und die Lichter des Motels spiegeln sich in den Fluten. Ich schaue ein paar Minuten auf das schwimmende Leuchten im Wasser und habe das Gefühl, dass da draußen Leute im Fluss sind. Nicht ganz freiwillig sogar. Als wären sie von einem unerbittlichen Schicksal dort hineingejagt worden. Ich frage mich, warum und wieso. Schicksale sind eigentlich etwas für verregnete Samstagnachmittage vor dem Flatscreen im Wohnzimmer. Die Geschichte einer amerikanischen Durchschnittsfamilie zum Beispiel. Komplett mit Reihenhaus, telegenem Hund und diesen verdammten reizenden Kindern. Irgendwann kommen ein Hurricane, Krebserkrankungen und Herzinfarkte dazu. Dazwischen auch mal ein Millionen-Lottogewinn. Irgendwann sind die Minzblätter und Schokoladenkekse zu Ende – und der Samstagabend gelaufen. So weit, so schicksalshaft.

Über meinem Zimmer ist eine Art Leuchtturm. Sein Feuer gleitet über die Wellen. In den dahin huschenden Lichtkegeln sehe ich die Köpfe und Arme der verdammten Seelen vor mir. Ein paar rufen noch nach Hilfe, aber irgendwann gehen sie alle unter. Keiner wird ihnen geholfen haben.

Weit nach Mitternacht penne ich doch ein und vergesse den ganzen Mist, der mich umgibt. Eine Zeitlang zumindest. Kurz vor Tagesanbruch schrecke ich aus der Tiefe des traumlosen Schlafes.

Stimmen. Schwere Stiefelschritte. Hundegebell.

Plötzlich wird eine Türe eingetreten. Hier ist die Polizei! Hände hoch!! Durch ein Megaphon gerufen. Wie in einem Action-Film kurz vor dem Showdown. Draußen auf dem Korridor muss sich richtig was abspielen. Ich kriege mit, dass Leute verhaftet werden oder so. Mein Herz schlägt bis zur Decke empor, wie loderndes Feuer. Tut richtig weh in der Brust. Scheiße. Was ist, wenn ich jetzt abkratze? Muss ich dann in einem dieser Höllenkreise Virgilio Ewigkeiten lang einen blasen? Der wird sicher schon dort sein, hundertprozentig. Irgendwo zwischen den Gotteslästerern und den unkeuschen Sodomiten.

Ich schleiche zur Türe und riskiere einen Blick durch den Spion. Jede Menge Bullen in dunklen Uniformen, die allermeisten vermummt. Todsicher eine Spezialeinheit für die ganz krassen Fälle. In der Nähe meiner Zimmertüre kauert Phoebe in Handschellen am Boden. Zwei Beamte nehmen ihr das Bündel Fünfhunderter ab und reißen ihr zuerst die Perücke und dann die Gesichtsmaske herunter. Ich halte den Atem an, weil ich die Fratze erkenne, die unter der Gummihaut zum Vorschein kommt: schwarze Haare, hohe Backenknochen, großer Mund. Eine tätowierte Spinne mit weißem Kreuz auf der rechten Wange. Es ist Claudio. Fuck! Mit Holden machen die Cops ebenso kurzen Prozess. Unter der bleichen Kunststoffmaske des blasierten Gymnasiasten kommt ein pockennarbiges Gesicht zum Vorschein. Lilafarbene Haare. Der Punk von gestern Nacht. Kerbys Besitzer, ein Typ namens Lutz Iffer. Holdens Alter Ego. Luzifer. Der Teufel persönlich. Der es nicht ertrug, dass ein gutaussehender Schnösel seinen Höllenhund abgemurkst hat.

– Ach komm, Curt, kriege dich wieder ein. Sagt die eine innere Stimme, lege dich wieder ins Bett und penne bis morgen um elf.
– Hau sofort ab, heult die andere innere Stimme auf, wenn die Cops den unterbelichteten Nachtportier befragen, bist du geliefert. Dann kommen die vermummten Bullen in dein Alekto-Zimmer gestürmt und finden dich endlich, den vierzehnjährigen Postpunk, der in ganz Europa gesucht wird. Wie nach einer Heroinspritze in Neapels größtem Müllhaufen.

Ich vertraue der besorgten inneren Stimme. Ziehe meine dreckigen Jeans an und werfe die eingetragenen Unterhosen ins Klo. Zwänge mich durch das Fenster, springe fünf Meter tief in ein Brennnesselfeld und merke, wie sich das verdammte Kraut an meiner Haut weidet. Ich unterdrücke einen Aufschrei und schleiche mich wie eine Katze durch das verwilderte Grundstück. Irgendwann klettere ich einen Zaun hoch und latsche in den anbrechenden Morgen hinein. Als ich mich umdrehe, ist das Motel verschwunden. Als ob alles nur ein Traum gewesen wäre – aber so grauenhaft wirklich wie das erwachsene Leben.

An einer Diskonttankstelle trinke ich endlich ein R&B ohne Zucker und fresse eine Art Zimtkringel. So langweilig wie der schmeckt, muss ich schon irgendwo in Norddeutschland sein.

Ich frage den Typ an der Kassa wo wir eigentlich sind. Nicht dass es mich wahnsinnig interessiert, eigentlich will ich nur Phoebes oder Claudios lilafarbenen Schein kleiner machen. So in appetitliche 50er oder 20er aufgeteilt wäre super. Der Kassentyp murmelt „Dinslaken“ und deutet auf ein Hinweisschild: keine 200er und 500er Lappen, sorry.

Dicht hinter mir steht eine blonde Tussi um die 40 mit einem fetten Mops an der Leine. Ich kann ihr Parfüm riechen, irgendwas richtig Teures. Die Lady hat ihren riesigen SUV aufgetankt und will sofort weiter. Ihre Rastlosigkeit ist mit beiden Händen greifen, wie ein roter Ballon, der jeden Augenblick platzen wird.

Ich frage sie mit kieksender Stimme, ob sie mir den verdammten Schein kleiner machen kann. Sie sieht mir etwas zu tief in die Augen und kramt in einer Handtasche herum, die so viel wie ein Kleinwagen kosten muss. Ihre Blicke streichen dabei gierig über meine dürre Gestalt. Ich wünschte, ich hätte sie nicht gefragt sondern wäre einfach ohne zu zahlen aus der verdammten Tanke geflohen.

Fünf Minuten später sitze ich bei ihr im Wagen. Sie fragt mich, wo ich hinwill, und nach kurzer Bedenkzeit sage ich Hamburg. Ich weiß auch nicht warum. Ich spüre einen gewissen Drang, nach Hamburg zu müssen. In Angelas Geburtsstadt. Wo alle Labskaus und Matjesfilets mit viel zu fetten Saucen in sich hinein schlingen. Und eine unausgesprochene Angst vor Chaos und Unordnung haben.

– Du bist aber Österreicher?
– Nein, aus Bayern.
– Und wo genau in Bayern?

Verdammt, ich muss jetzt eine bayrische Stadt dissen. Stuttgart klingt so daher gelogen. Ich starre die Frau von der Seite her an. Die hat sicher schon hunderten Jungs irgendwas Wildes gezeigt. Vielleicht ist sie ja richtig passiv im Bett und lässt nach allen Regeln der Kunst durch…ähm…schustern.

– Also: woher aus Bayern?

Ich kombiniere „passiv“ mit „Sau“ und streiche ein paar überflüssige Buchstaben weg.

– Passau, wie schön. Da war ich schon mal.

Ich leider noch nie. Aber vielleicht können Sie mir was darüber erzählen. Eine Stadt, die nach passiver Sau klingt, muss etwas Animierendes haben: vielleicht gibt es dort ein Laufhaus mit zehntausend Quadratmetern und einer Happy Hour nach der letzten Schulstunde.

Die Luxustussi denkt weniger an belanglose Chats, sondern beginnt mich ohne Vorwarnung zu streicheln, und zwar genau DA. Am liebsten würde ich um Hilfe flehen, aber ich bin in ihrem riesigen SUV gefangen und muss sie irgendwie ranlassen. Auch wenn sie mindestens dreimal so alt ist wie ich. Schließlich hat sie mich in ihre Luxus-Karosse einsteigen lassen und mir den Fünf-Hunderter-Schein kleiner gemacht. Jetzt habe ich auch ein Bündel voller Geldscheine in der Hosentasche. Die vielen zerknautschten Zwanziger passen viel besser zu mir als so ein violetter Angeberlappen.

– Sie sind sicher voll reich, oder?

Mein hilfloser Versuch nach Kommunikation, wo gar keine sein kann. Ich meine, was haben wir schon gemeinsam? Nicht einmal die Geschlechtsmerkmale. Der riesige Porsche Cayenne hat sicher ein Vermögen gekostet. Die wasserblaue Lederhandtasche war auch nicht viel billiger. Die enganliegende Bluse mit den drei offenen Knöpfen ist immerhin eine Sehenswürdigkeit der geileren Art. Ich starre frech auf die praktisch freiliegenden Möpse. Der richtige auf der Rückbank protestiert heiser.

– Was ist das für eine wilde Bestie?
– Ach, Plutos ist harmlos. Der bewacht nur unser Weingut.
– Was für ein Weingut zum Teufel?

Die geile Madame aus der Oberliga der besseren Leute zieht einen Schmollmund. Sie sieht jetzt aus wie ein Pornostar aus dem letzten Jahrtausend. Immer noch geil, aber irgendwie schon ein wenig zerknittert.

– Kannst du noch ein bisschen mehr fluchen? Mich macht es richtig an, wenn so Minderjährige fluchen.
– Eigentlich bin ich schon siebzehn.

Sie lacht hell auf. Dumme Kuh. Aber geil irgendwie. Das mit der Kuh findet sie übrigens mega. Ich weiß auch nicht warum. Kühe sind ja die langweiligsten Tiere, die man sich vorstellen kann. Und in Indien sind sie nicht einmal essbar.

– Ja komm, gib mir Tiernamen!
– Also gut: Bergziege, Gottesanbeterin, Schnapsdrossel.

Diese Viecher turnen sie leider vollkommen ab. Dabei wollte ich kreativ sein und war richtig stolz auf die ersonnenen Tiere. Ich versuche vom Thema abzulenken und denke trotzdem noch immer dasselbe.

– Du produzierst Wein oder so?

Eine richtige Drogenproduzentin. Die geile Sau ist richtig krass drauf.

– Oh ja, großartig. Ihre gute Stimmung kommt schlagartig wieder zurück.

Mit leuchtenden Augen erzählt sie mir von ihrem Moselweingut „Seven Sins“. Ihre Hände patroullieren dabei zwischen meinem Schritt und der Windschutzscheibe. Das Lenkrad wirkt richtig verlassen, und ein paar Mal streifen wir fast die Leitplanken oder das eine oder andere Auto.

– Zweiundvierzig Hektar auf sieben Terrassen, und jede ist nach einer Todsünde benannt. Ein megageiles Marketingkonzept, sag ich Dir. Einfach unwiderstehlich. Robert Parker hat uns gerade 97 Punkte gegeben.

Das mit den Punkten erinnert mich an meine Mathe-Schularbeiten. Nur dass ich selber noch nie 97 Punkte gekriegt habe. Allenfalls 55, und da habe ich schon gefeiert. Ohne Mohammed wäre nicht einmal das möglich gewesen. Ob er wirklich in der Erde so dahin fault? Wie will er dann wieder auferstehen am jüngsten Tag, mit all dem Schimmel am ganzen Körper? Vielleicht ist dann nur noch ein Sechstel von seinem Fleisch dran. Womöglich würde ich ihn am Jüngsten Tag gar nicht erkennen. Nichts als Probleme mit dem Tod und den Toten.

Ich frage die Tussi, ob es auch eine Terrasse der Geilheit in ihrem Weingut gibt. Das wäre ziemlich genau meine. Ich stelle mir vor, wie ich es dort treiben würde. Mit einer Legion Jungfrauen zwischen den Weinreben. Oder doch lieber mit ein paar geilen älteren Weibern, die sich richtig durchknallen lassen und gar nicht genug kriegen können. Das wäre etwas. Geiler als jedes Inferno. Die letzten 7 Sätze (genau wie die Todsünden) hat die Winzerkönigin hoffentlich nicht mitbekommen.

– Lussuria, na klar. Das ist die zweite Terrasse von oben.

Meine minderjährige Versautheit bringt sie so richtig in Fahrt. Der SUV beschleunigt auf 140, obwohl es nur eine Landstraße ist. Sie erzählt mir, dass sie im Weingut drei verschiedene Weine machen. Den „Inferno“ für alle Sünder, einen gemischten Satz was immer das ist. Hauptwörter, Verben und versiffte Adjektive möglicherweise. Dann das „Purgatorium“ im mittleren Preisbereich. Und schließlich 666 Flaschen „Paradies“. Ihren Garagenwein: genau abgezählt und durchnummeriert. Die drei Sechser stehen für den Teufel. Teuflisch gut also. Das Paradies in der Hölle. Sehr kompliziert das Ganze.

Ich erzähle ihr, dass ich in der Pizzeria meiner richtigen Mamma eine ganze Dose Bio-Cola in den Falanghina geschüttet habe.

Dieser Satz macht sie total geil. Ich weiß auch nicht warum. Aber es ist so, ich schwör’s. Erwachsene sind voll die komischen Leute. Richtig pervers und versaut. Die da am Steuer dieses riesigen SUVs zumindest. Sie leckt sich die Finger ab und will endlich das tun, wozu ich keine Lust habe.

Die meisten Parkplätze an dieser öden Landstraße kommen für ihr Vorhaben absolut nicht in Frage. Auf dem ersten sind jede Menge Lastwagenfahrer, beim zweiten würden wir biedere Familien beim Picknick stören und der dritte ist wegen Umbauarbeiten gesperrt.

– Schöne Scheiße, sagt sie entnervt und trommelt mit den Fingern ihrer rechten Hand auf meinen Oberschenkeln herum.

Warum Scheiße schön sein soll, bleibt mir ein Rätsel. Zumindest meine sieht nicht besonders geil aus. Und schön schon gar nicht. Aber ich frage lieber nicht weiter. Sonst eskaliert das Ganze auch noch. Ich hoffe, ich komme mit ein bisschen Knutschen und Blümchensex auf billig davon.

Schließlich biegen wir in einen dunklen Wald ein. Bevor wir richtig drinnen sind, fahren wir an einer Blutwurstbude vorbei, wo Fässer mit sündigem Blut herumstehen. Als wir mitten im dunklen Tann sind, hören wir sprechende Sträucher und Bäume, also ich wenigstens. Eine Art wahnsinnig machendes Flüstern, aus der Tiefe der letzten Dinge heraus.

– In diesem Wald bringen sich ganz viele Leute um, erzählt die geile Winzerin von der Mosel. Eigentlich sei sie ja ausgebildete Opernsängerin.

Das sind genau jene Sirenen, die mich im Stadttheater Klagenfurt regelmäßig beim Online-Zocken stören. Das Schüler-Abo fördert aber deine Entwicklung. Mein Dad und Angela im O-Ton. Danke, aber ich weiß selber sehr gut, was meine Entwicklung ankurbeln würde: eine zehn-Punkte-Karte für den Swingerclub in der Landeshauptstadt. Und wenn nur noch 8 Eintritte drauf sind, wäre es auch egal. Alles besser als noch einmal den Fliegenden Holländer überstehen zu müssen. Oder den Rosenkavalier. Viereinhalb Stunden Walzer. Welcher Vollidiot hält denn so etwas aus? Die italienischen Opern sind die schlimmsten. So ein Puccini-Aktschluss ist lauter als jeder Bombenangriff.

Nach einigen Kilometern Wald kommen wir an einer Lichtung vorbei, wo sich ausschließlich Typen aneinander aufgeilen. Ein Baggersee ist auch in der Nähe. Zwei Drittel der Kerle haben gefärbtes Haar und einen Bierbauch. Ein paar ficken trotzdem herum. Wie aufgeblasene Dickhäuter, die übereinander herfallen. Schon bizarr, das Ganze. Die Winzerkönigin von der Mosel mustert mich mit mehr als lüsternen Blicken.

– Hast du schon einmal homosexuelle Erfahrungen gemacht?
– Ich?

Ich denke an Jonathan, an das Blasen auf der Kapelle im Stadtpark und die stundenlangen Wichsorgien in meinem saublöden Kinderzimmer. Wo die dreckigsten Jeans der Welt herum lagen, eine verstimmte Gitarre an der Wand hing und mich Martin Garrix zu freudlosen Orgasmen hoch pushte. Naja, geil war es trotzdem.

– Ähm. Ja. Ein bisschen. Nicht so oft. Und wenn, war’s reine Notwehr.

Ich hätte moralisches Geschimpfe erwartet, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die blonde Tussi ist ganz begeistert von meinen schwulen Eskapaden. Weil es ihr so gefällt, schmücke ich meine ersten Erfahrungen noch weiter aus – bis eine Art Massengangbang am Schulklo herauskommt. Im Übertreiben war ich schon immer Vizeweltmeister.

Es dauert keine zwanzig Minuten, dann ist der Moselwinzerin alles egal. Sie hält den SUV an der nächsten Ausweiche an und verführt mich zwischen einer morschen Parkbank und einem Ameisenhaufen. Zwei sechzigjährige Greise geilen sich auch noch auf dabei. Es ist das Gegenteil von schön, aber so ist anscheinend das wirkliche Leben.

Nach ein paar Minuten ist ihr Walkürenritt vorüber, und ich frage mich, ob es überhaupt geil war. Für sie scheint es das Größte überhaupt gewesen zu sein. Die Offenbarung schlechthin. Dabei habe ich nicht einmal einen riesigen Schwanz. Sogar Johnny schafft mehr Zentimeter als ich. Und der ist eigentlich eine Tussi. Wenn ich einen einzigen Wunsch frei hätte, dann wäre es ein Schwanz mit 25x6cm, alles glatt, mit riesigen Eiern. Eine richtige Pornowaffe. So wie man sie in den Dokumentarfilmen auf youporn oder xhamster bewundern kann.

Ich ziehe meine verschimmelten Jeans an und lasse mich an der nächsten Autobahnauffahrt rauswerfen. Auf einem Schild steht „Hamburg 124 km“. Und auf dem anderen „Ortsende von Hemelingen“.

Wo zum Teufel immer das ist. Im hintersten Off aller Offs dieser Welt.

Ich habe keine Ahnung, wie lang ich zwischen den beiden Schildern gestanden bin. Mit vierzehn kommt einem alles endlos vor, das länger als fünf Minuten dauert. Jede Schulstunde: endlos. Jedes Mittagessen daheim: noch endloser. Die Zahnspangensessions bei Dr. Mahringer: am endlosesten. Ich potenziere die Ewigkeiten. Und trete doch nur auf der Stelle, wenn ich zum Beispiel hier, vor dem Ortsende-Schild von Hemelingen, ein paar staubige Kieselsteine vor mich her kicke.

Kurz vor dem Ende der ersten Ewigkeit hält ein klappriger Kombi mit einem tattrigen Greis am Steuer vor mir: der Achtzigjährige hat blutunterlaufene Augen und jede Menge Geifer an den Lippen. Sein Gesicht erinnert mich an den Tod, wie ihn mittelalterliche Maler gemalt haben. In der Knochenkapelle unserer Stadtpfarrkirche zum Beispiel.

Ich stammle ein „Nein, danke“ daher. Und dass ich hier nicht einen auf Autostopp mache, sondern nur mit den blöden Steinen herumspiele.

Der Alte versucht es mit allem: mit einer Packung Marlboro, mit einem zwanzig-Euro-Schein, mit seinem verschrumpelten Schwanz. Ich kann euch sagen, ich habe schon geilere Dinge gesehen. Irgendwann haut er ab und ich frage mich, welcher Geheimdienst welche Viren in das Kanalnetz von Hemelingen-Nord gekippt haben muss.

Die Welt rastet vollkommen aus. Okay, hysterisch bin ich auch. Zumindest jetzt, bei gefühlten 35 Grad im Schatten. Aber hier ist kein Schatten. Meine letzten Zigaretten sind weggeraucht, und die Drogen sind alle. Ich halluziniere schon wie ein abgefuckter Junkie auf Entzug. Wie Virgilio an diesem Sonntag, als wir zu seinen Großeltern fuhren. An den schwelenden Vulkanen vorüber. Eine knappe Woche, bevor Virgilio Richtung Hölle abgedampft ist. Einfach so. An einem vollkommen normalen bescheuerten Freitag.

*

Gegen Abend hält schließlich ein Kleinbus an, und zwar nicht irgendeiner. Leute, ich traue meinem Augenlicht kaum: es ist ein uralter VW Bulli aus Siebziger Jahren, voll gesprayt in mehr als einer Million Farben. Und dreihundert Rosttönen. Dass so etwas überhaupt noch fährt. Total in die Jahre gekommen, mit kaputten Scheiben, die nur noch von schwarzen Klebebändern zusammengehalten werden.

Hey, sagt der Fahrer, der wie ein Zirkusartist aussieht: schrilles Sakko, riesengroße Fliege in Schockorange, obszön wirres Hemd voller Pinselstriche und Kleckse. Ziemlich sicher selber geschnitzt. Das schwarze Haar ist ein einziger Aufstand. Fast einen halben Meter hoch. In jede Richtung. Echt cool, dass man so einen Style hinkriegen kann. Der Typ raucht einen Joint so groß wie eine kubanische Zigarre. Im Inneren sitzen noch drei Typen und eine Frau, allesamt eingekeilt zwischen Gitarrenkoffern, Trommeltaschen und Marshall-Verstärkern. Steile Leute, todsicher. Das genaue Gegenteil von dem Sabbergreis, der mir für einen blauen Lappen an den Schwanz fassen wollte.

– Hey, antworte ich, seid ihr eine Band (in meinem dürftigen Englisch natürlich)?
– Nein, wir sind Eisverkäufer, antwortet der Zirkusartist mit dem Joint, und die anderen vier im Wagen brechen in lautes Gelächter aus, was möchtest du für Sorten haben: A-Moll, G-Dur oder etwas mit Cis?
– F, Em und B, aber ohne Sahne.
– Du hast aber einen guten Geschmack, Kid. Steig ein. Wir können einen Roadie gebrauchen. Unseren hat heute Vormittag ein rosafarbener Chevy überfahren. Aber Strad hat sowieso nicht zu uns gepasst. Mit seinem knappen blauen Anzug und diesem debilen Collegeboy-Grinsen.

Ich beschließe jetzt lieber die Klappe zu halten. Fühle mich ziemlich schuldig, weil ich ja selber im Chevy saß, als Holden oder Lutz oder wer auch immer den Roadie im blauen Anzug niederfuhr. Immerhin haben die Cops den Übeltäter und seinen Transgender-Helfer im Styx-Motel verhaftet. Ob es wirklich Claudio war? Oder doch eine andere Kellerassel aus der nächsten Parallelwelt? Nach einigen Schweigeminuten riskiere ich schließlich doch eine Frage.

– Hat der verdammte Roadie nicht Stradlater geheißen?
– Keine Ahnung, wir haben Strad zu ihm gesagt. Oder Straight. Weil er so schräg geradlinig war. Ein Vollidiot aus dem College. Außer Baseball und Gruppensex wenig im Schädel. Vielleicht noch die amerikanische Nationalhymne und Budweiser Light. Ist sonst jemand von uns im College gewesen?
– Nö, nö, nö und nö.

Ich grinse die smarten Verweigerer der Superlativgesellschaft an und fühle mich im Bulli bereits richtig wohl.

– Du warst doch auch im Peng, fragt mich der Zirkusartist, du hast dort „Come as you are“ für ein paar unterbelichtete Junkies gespielt. Und gar nicht so schlecht. Ich glaube, du hast richtig Talent. Deswegen haben wir auch deine Gitarre mitgenommen. Diese zerfledderte Hellcat. Muss wohl von irgendeiner Karre geplumpst sein. Bist du auch auf Tour, Kumpel?

– So ähnlich. Eher auf der Flucht. Aber vor mir selbst. Eigentlich habe ich keine Ahnung mehr, wo es lang geht. Werft mich einfach vor der nächsten Polizeiwache raus. Der Rest sind drei Anrufe und ein Rückfahrtticket in die Unterentwicklung.

– Sei nicht so depro, Kid. Du klingst jetzt, als wärst du achtundneunzig Jahre alt. Dabei bist du vielleicht – siebzehn.

Ich strahle den Zirkusartisten an. Er heißt James und ist offensichtlich einer von ganz wenigen Leuten, die mich nicht für vollkommen plemplem halten.

– Ja siebzehneinhalb, antworte ich leicht bekifft, weil ich schon fünfmal an dieser Joint-Trompete gezogen habe, wo kommt ihr eigentlich her?
– Von der Venus.
– Direkt aus der Hölle.
– Nein, aus dem Peng!
– Oder aus dem Jahr 1979. Da war gerade London Calling draußen.

Die Antworten schwirren nur so durch den Bus. Kreativität live bei der Arbeit. Ich halte mir den Bauch vor Lachen. Hey Leute, ich habe gar nicht mehr gewusst, was genau Lachen ist. Und dass es sich sogar ziemlich gut anfühlt.

– Nein, im Ernst: wir kommen vom Hellfest. Aber eigentlich sind wir aus Philadelphia. Auf Tour durch Europa, aber kaum einer kennt uns. Meistens sind wir die allerersten, die auftreten müssen. Um 13 Uhr oder so. Auf irgendwelchen Festivals. Unser Plattenlabel sagt, es ist schon okay so. Auch Zwerge hätten klein angefangen. Also spielen wir vor Alkoholleichen oder fickenden Schlammechsen. Wenn fünfzig Leute richtig mitgehen, ist das schon echt viel.
– Und wo fährt ihr jetzt hin?
– Zum Krawallo-Festival. Soll in der Nähe von Hamburg sein, aber wird wohl draußen auf dem Land sein, auf irgendeiner Kuhweide wahrscheinlich. Mit drei Bühnen, einem Vergnügungspark und fünftausend Zelten. Wir sind übrigens Arctic Slang.
– Spielt ihr Punk oder so, frage ich neugierig.

Die einzige Punkband, die ich kenne, heißt Green Day. Ich habe sie genau einmal live gehört – naja, nicht ganz live. So Viertel-Live sozusagen. Gegen Mitternacht im Garten meiner Großeltern, die fünf Kilometer vom Nova-Rock-Festivalgelände entfernt wohnen. Ich war gerade zwölf Jahre alt und hatte von nichts eine Ahnung. Aber die Songs, die aus der Nacht zu uns herüber wehten, waren geiler als geil. Am nächsten Morgen habe ich sie mir alle heruntergeladen, nachdem ich gecheckt habe, welche Götter hinter den Weizenfeldern vor der Haustüre aufgetreten sind: GREEN DAY-JOEY-ARMSTRONG.

OH MY GOD!

Jesus of Suburbia. Boulevard of Broken Dreams. American Idiot. Und vor allem Know Your Enemy, die Hymne für jene Kids, die auf Randale aus sind: Ahjajajajaa…..ahjajajajaa….. ahjajajajaa…..jajajajajajaaaaaa!

Zwei Tage später haben mich die Großeltern in den nächsten Regionalzug gesetzt, weil sie den Wirbel in ihrem Reihenhaus nicht mehr ertrugen. Dabei waren die beiden eigentlich taub.

– Nein, wir sind nur das Streichquintett vom Cleveland Symphony Orchestra.

Wieder Gelächter im ganzen Bus. Die Jokes machen die Runde wie anderswo Speed-Tabletten und Spritzbesteck.

– Hey, eigentlich rauchen wir nur Joints, davon allerdings reichlich. Zuviel Wirklichkeit bekommt uns nicht besonders. Da verwandelt sich so manche geile Achterbahn in einen ordinären Hamsterkäfig. Lass dich nicht klein kriegen. Steig ein, Kid. Ride the wild haze.

Ich nicke, haue mich auf den leeren Beifahrersitz und warte auf irgendein Wunder.

– Eigentlich sitze ich auf deinem Platz, Kid, seufzt James, aber nachdem unser Strad von einem rosafarbenen Chevy niedergebügelt wurde, muss ich den verdammten Bus fahren. Obwohl ich nicht die leiseste Ahnung habe wie das geht. Egal, wir Amerikaner sind Selfmade Men. Anything goes. Wenn man nur daran glaubt. Dann geht es auch, irgendwie.

James legt einen Gang seiner Wahl ein, und der Bus rumpelt los. Rumpeln ist genau das richtige Wort. Als ob wir nicht auf den passenden Reifen, sondern auf kaputten Felgen unterwegs wären.

– Ich habe mir geschworen, so lange selbst zu fahren, bis wir einen Nachfolger für Strad gefunden haben. Ungefähr so wie ein Pilger, der solange zu Fuß herumlatschen muss, bis er einen Fluss gefunden hat, der aufwärts fließt oder so.

Endlich ist der Moment gekommen, wo ich auch einen Trumpf ausspielen kann. Nach neunzehn haushoch verlorenen Partien kommt jetzt mein verdammtes Pik As an die Reihe.

– Hey, Leute, wo ich herkomme, gibt es echt so einen saublöden Fluss. Der nach Westen fließt, obwohl alle anderen Scheißbäche in die andere Richtung unterwegs sind.
– Na, siehst du. Deswegen haben wir dich mitgenommen. Weil wir diesen einen Fluss finden wollten. Wo kommst du übrigens her?
– Ich?

Mein Blick gleitet über das Armaturenbrett in eine brachliegende Landschaft hinaus. Felder. Wiesen. Kühe. Ab und zu ein Dorf. Deutschland kann megalangweilig sein. Noch viel langweiliger als diese Kleinstadt in Kärnten. Irgendwie habe ich das Gefühl, mit der Wahrheit herausrücken zu müssen. Zumindest mit etwas, das vage mit meinem Leben zu tun hat.

– Aus Neapel, antworte ich nach gefühlten zwei Stunden, es klingt nach einer Lüge, ist aber nicht gänzlich erfunden. Nur ein wenig vielleicht. Sagen wir gut erzählt. Und daher irgendwie wahr.
– Eine ziemlich entfesselte Stadt, Kid. Wir waren vor einem Monat oder so dort. Ein wirres Durcheinander von Verkehr, streunenden Tieren und Menschen. Wie Free Jazz, aber nicht von John Coltrane gespielt. Irgendwie mystisch auch.
– Mystisch? Das stimmt. Ich habe Dante Alighieris Beatrice auf einer Dachterrasse gebumst. Deren Lichtgestalt ein gewisser Banksy auf eine Hauswand gesprayt hat. Mit einer Beretta samt Heiligenschein über dem Kopf.

Der bunte Bus fällt beinahe auseinander vor lauter Gelächter. Ich lache mit, auch wenn die Geschichte mit Beatrice verdammt wahr gewesen ist. Sogar das mit der Sternschnuppe und meinem toten Stiefbruder Virgilio. Und Banksys Bild habe ich selbst gesehen. Um die Ecke von Mammas Pizzeria, die Insolito heißt. James nimmt einen tiefen Zug vom Joint und einen noch tieferen aus der Weinflasche.

– Ganz okay das Zeug, auch wenn es Inferno heißt.

James reicht mir die Flasche. Auf dem Etikett ist ein Blitz zu sehen, der in einen Grabstein einschlägt. Der Rest ist schwarz wie der Tod. Auf der Rückseite steht in gotischer Frakturschrift „Mosel Riesling“ und „12 Prozent Alkohol“ geschrieben. Ich nehme einen Schluck. Schmeckt irgendwie nach Litschisaft, in den einer reingepisst hat.

Die Flasche macht eine Runde durch den Bus und kommt danach wieder halb ausgetrunken zu mir. Obwohl ich schon leicht beduselt bin, weiß ich jetzt, warum mir das Zeug nicht schmecken will. Es ist IHR Wein. Die Gülle der verdammten Tussi, die mir vorhin an die Wäsche gegangen ist.

– Leute, ich schwör’s, ich habe heute Nachmittag die Winzerin von diesem Höllenwein gebumst.

Das war’s. James fällt vor Lachen fast aus dem Bus und hält in letzter Sekunde in einer Ausweiche an. Die Inferno-Flasche fällt mir aus der Hand und zerbricht in tausende Scherben. In Fragmenten ist noch der Blitz zwischen meinen schwarz gewordenen Sneakers zu sehen.

– Also, Leute, ich kann nicht mehr. Die Joints, der Inferno-Fusel und dazu noch diese Geschichte. Ohne Scheiß: jemand anderer muss jetzt ans Steuer. Und zwar sofort.

Hinten im Bus meldet sich keiner. Der zweite Gitarrist kotzt aus der geöffneten Schiebetür ins Freie, der Bassist setzt sich schnell einen Schuss, die Keyboarderin ist eingeschlafen und der Schlagzeuger feilt an einem Stück Eisen herum.

– Was wird das, wenn es fertig ist, will ich neugierig wissen.
– Nichts. Nur Späne. Muss nicht immer alles irgendwas werden.

Ich finde die Antwort nicht ungeil. Irgendwie voll aus der Zeit. Alle anderen Wichser wollen was werden, was sein oder zumindest was haben. Ganz schön arschlöchrig geworden, unser Planet.

– Es findet sich also niemand, der diesen verdammten Bus steuern will?

James sieht mich mit einem mittelirren Blick von der Seite her an.

– Und was ist mit Dir? Wie war das noch mit deinem Fluss, der aufwärts dahinfließt?
– Hey, James, ich habe nicht einmal einen Führerschein.
– Komm mir jetzt nicht mit diesem Büroscheiß, Kid. Ich habe den Lappen auch nicht. Niemand von uns hat jemals eine verdammte Prüfung bestanden. Ist ja nicht unsere Schuld, dass Strad von einem rosafarbenen Chevy umgelegt wurde. Und außerdem: warst du nicht auch in diesem verdammten Lollipop-Schlitten?
– Ähm. Ja.

Scheiße, ich kann die ganze Welt anlügen, außer genau zwei Leuten: meine Mamma und James, diesen Zirkusartisten mit der wirren Frisur. Wahrscheinlich ist James einer der letzten aufrichtigen Menschen auf dieser verseuchten Weltkugel.

– Okay. Du bist siebzehneinhalb und noch nicht total von der Rolle. Also fährst du uns die letzten paar Kilometer zum Krawallo-Festival, right?
– Und wo liegt denn das?
– Irgendwo da vorne. Am Horizont. Wie all der andere Scheiß.

Besonders genau sind James Angaben nicht. Ich steige aus und habe ziemlichen Schiss, diese angesprayte Karre aus den Siebziger Jahren zu fahren. Das Ding ist richtig laut, und der Auspuff scheint beschädigt zu sein. Alle paar Minuten kracht der Motor, als ob jemand mit einer Glock rumballern würde.

James holt die Hellcat aus dem Innenraum und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Ich klemme mich hinter das Lenkrad und weiß nicht so recht, was ich tun soll. Jeden Moment wird herauskommen, dass ich erst mickrige vierzehn bin, okay, vierzehneinhalb. Andererseits will ich James auch nicht enttäuschen. Ich bin jetzt wie Christian, der erst zwölf ist und zu mir wie zu einem irren Gott aufsieht: Was immer du machen willst, mach es mit mir, oh Herr. Ganz schön beknackt, dieses Leben.

Das Lenkrad des derangierten Bulli fühlt sich nach geschmolzenem Vollplastik an. Vielleicht ist es auch längst nicht mehr echt. Was ist schon echt heutzutage? Der Ganghebel erinnert mich an einen verkohlten Ast mit einem Schwanzkopf oben drauf. Irgendwie phallisch. Fühlt sich beinahe wie Johnnys Ding an, das sich steinhart in meine Faust schmiegt. Krachend lege ich den ersten Gang ein. Auf dem Beifahrersitz stimmt James die herunter gekommene Hellcat-Gitarre.

– Nur so ein Tipp, Kleiner: ich würde die Kupplung bedienen.
– Geht aber auch so.
– Irgendwie geht alles irgendwie so.

Die Stimme des Drummers hinter mir, der sein Metallstück in lauter Eisenspäne zerfeilt. Ob es eigentlich dieses Wort gibt – zerfeilt?

– Du hast es ja gerade gesagt. Also gibt es das verdammte Wort. Auch wenn dieser Ausdruck noch nie verwendet worden ist. Jetzt gibt es ihn eben. Wie einen Song. Diesen hier.

James holt einen Capodaster aus dem Handschuhfach, klemmt ihn an den vierten Gitarrenbund und legt los: Too young to die, too old to die young.

Klingt irgendwie nach Campfire. Und Alpenverein. Oder nach Blasen im Sportbus auf der Rückfahrt von Wolfsberg. Am Schwanz eines der größten Idioten, die unsere Kleinstadt je hervorgebracht hat: unterbelichtet und ignorant. Spritz mir ja nicht in den Mund, du Sau. Und mein leises Schmatzen dazwischen. Draußen regnet es in Strömen. Es ist Nacht und alle scheinen eingeschlafen zu sein, inklusive dem Busfahrer. Weiß der Teufel, warum mir das jetzt einfällt. Mutig geworden, lege ich den vierten Gang ein. Der verdammte Bus fällt um ein Haar auseinander.

– Du fährst wie mein vierzehnjähriger Bruder, beschwert sich die Keyboarderin auf der Rückbank, und Ernie ist noch dazu dauernd bekifft.

Ernie. Einen viel blöderen Namen kann es nicht geben. Außer meinen. Aber den sag ich euch nicht. Offiziell heiße ich seit gestern Curt. Das muss für den Rest des schrägen Road Movies reichen.

Irgendwie kommt es mir vor, als würde ich den verdammten Bulli schon zwei Jahre lang lenken. Einfach so dahin, mehr oder weniger gerade aus, auf einer Landstraße, die so aussieht, als würde sie nirgendwohin führen. Im Bus sind alle eingeschlafen, es wird langsam Abend da draußen, und ich habe keine Ahnung, wie man die Scheinwerfer einschaltet. Es muss einer der wenigen Knöpfe neben dem Lenkrad sein, aber welcher? Es gibt kein Symbol, keinen Hinweis auf den Drecksknöpfen. In einer scharfen Rechtskurve wacht James aus seinem Dussel auf und reibt sich die Augen.

– Da vorne rechts abbiegen.
– Was?
– Rechts abbiegen. Da vorne. Ist doch nicht so schwer zu verstehen, oder?
– Woher weißt du, dass ich ausgerechnet an dieser verkackten Kreuzung nach rechts abbiegen muss?
– Ist so ein Gefühl.
– Ein was?
– Ein Gefühl. Gefühle trügen dich nie. Oder kaum. Oder, naja, ist eh scheißegal. Wir treten heute Abend erst weit nach Mitternacht auf. Wenn alle im Publikum auf irgendwas drauf sind. Ich glaub, da vorne geht es wirklich nach rechts weg.

Ich lenke den Bus etwas vorsichtig um die Kreuzung. Ein ungeduldiger Typ in einem dunklen BMW hupt empört hinter mir.

– Lass dich nicht von diesem Idioten irritieren. Siehst du die Hinweisschilder am Straßenrand? Zum Krawallo-Festival. Wird also nicht mehr weit sein. Wo sind unsere verdammten Festivalpässe? Irgendwo in diesem Handschuhfach wahrscheinlich. Ziemlich beschissen, wenn man keinen Tourmanager hat. Und der eigene Roadie von einem Lollipop-Chevy überrollt worden ist. Dafür bist du da, Kid. Und, kleine Überraschung: du wirst heute Abend auftreten.
– WAS?

Ich glaube, mich tritt ein mittlerer Elch in die Magengrube. Was werde ich um Mitternacht tun?

– Na, auftreten. Und diese verdammte Ballade auf deiner Hellcat zum Besten geben.
– Ich bin doch kein Musiker, ich kann höchstens gta v, Tischtennis und an meinem Schwanz herumspielen.

Die ersten Lacher sind im Bus zu hören. Die bekiffte Meute auf der Rückbank wacht langsam auf. Einige andere Autos überholen uns und hupen. Festivalbesucher oder so. Leute, die auf Bands stehen. Irgendwie beginnt mein Herz etwas lauter zu schlagen als normal. Aber was ist schon normal heute Abend? Diese Band und dieser Bus todsicher nicht.

– Doch, du bist ein Gitarrist, und nicht einmal ein schlechter. Deshalb wirst du noch ein paar Stunden an deiner Hellcat üben. Schau einmal her.
– Hey, James, ich habe Mühe, den Bus auf der engen Landstraße zu halten, ich kann nicht einfach zu dir rüber linsen.
– SCHAU EINFACH NUR HER. LENK DEN SCHEISSBUS IN DEN GRABEN, LASS VON MIR AUS EINEN ANGSTFURZ, ABER SCHAU VERDAMMT NOCH MAL HER.

Ich gebe nach und riskiere ein paar Blicke. James hat zwar nicht rumgebrüllt, aber seiner Stimme einen gewissen Nachdruck verliehen. Wie ein Kommissar, der in einem Verhör von mir wissen will, warum ich in Frankfurt nicht die verdammte Anschlussmaschine nach Klagenfurt nehmen wollte.

– Okay, Kid. Der Song besteht aus vier Akkorden, ist also wirklich nicht schwer. Em7. Dsus4. Cadd9. G. Capo am vierten Fret. Und das Strumming geht so.

James tätowierte Hand gleitet an den sechs Metallsaiten auf und ab. Down-Up. Up-Down-Up-Down. Down-Up. Sieht echt nicht kompliziert aus. Plötzlich hupt es irgendwo. Instinktiv mache eine Vollbremsung, und die Hellcat knallt gegen das Armaturenbrett. Ich erwarte einen harten Aufprall, lautes Krachen, eine riesige Stichflamme aber nichts passiert. Ein paar Atemzüge Stille, dann blicke ich hoch. Ungläubig ist nicht das richtige Wort dafür, eher von allen Göttern verlassen oder so. Um ein Haar wäre ich glatt auf den riesigen Tourbus von Green Day geprallt, stellt euch vor, Leute von GREEN DAY.

Hinter dem schwarzsilbernen Ungetüm baut sich der Eingang zu diesem Festival auf: tausende Leute, bunte Lichter und das Dröhnen verzerrter Gitarren von draußen. Ich glaube, die Foo Fighters sind dran. Irgendwie klingt die Nachtluft nach „Walk“. Nach dem geilsten Musikclip aller Zeiten. Wo Dave Grohl mit einem Golfcaddy zwei dröge Wichser nieder fährt. Der verdammte Clip hat mir schon hunderte Male das Leben gerettet: nachdem ich zum Beispiel einen Fetzen in Info hingelegt habe und mit der ganzen Welt verfeindet war. Am meisten mit mir natürlich. Diesem grenzdebilen Idioten vor allen Spiegeln. Der zu faul für das Lernen ist, und zu blöd für alle Schulen auf diesem Planeten. Der am besten irgendeine Autobahnbrücke hinunterspringen sollte. An einem verregneten Novembertag, ganz wie es sich für einen registrierten Chatter im „Last Exit“-Forum gehört.

– Hey, Kid, du wärst um ein Haar auf Joey Armstrongs Hintern geknallt.

James grinst mich von der Seite her an. Ich starre mit mehr als großen Augen auf den fetten Tourbus vor uns. Ein extrem geiles Ding. Riesig wie eine Boing Dreamliner, nur ohne Flügel. Ob Joey wirklich da drinsitzt? Und wenn ja, was macht er gerade? Gta v spielen, ein Groupie vögeln, eine Flasche Jack Daniels runterkippen? Ich stelle mir die wildesten Dinge vor. Also Dinge, die einem Vierzehnjährigen einfallen. Viel wahrscheinlicher ist, dass Joey gerade seinen Reichtum abfragt und die nächsten paar Millionen Dollar auf ein steuerschonendes Konto in der Schweiz manövriert. Auf einer Geheimapp, die nur er und ein paar Hollywood-Stars haben. Von dieser Bank in Ludendorff, Yankton, vielleicht, die schon öfter von Hank, Michael und Trevis überfallen worden ist: Du vergisst jeden Tag tausend Dinge, also vergisst du auch das hier, okay?

Mann, hätte ich jetzt Lust, gta v zu spielen. Aber ich muss ja gleich auftreten. Zusammen mit einer Band, die ich gestern noch gar nicht gekannt habe. Arctic Slang. Auf meiner Hühnerbrust baumelt der Band-Pass mit dem Foto von Strad. Function: Artist & Roadie. Richtig-scheiß-cool. Dass mir beide Augen aus der verdammten Netzhaut fallen wollen, ist klar. Ich meine, wir reden hier vom Backstage-Bereich. Von den Zelten hinter der Bühne. Wo es richtig abgeht. Und die Stars rumlungern. Ich könnte hier jeden zweiten Junkie um ein Autogramm bitten.

– Lass das lieber, meint James, und übe noch ein bisschen an deiner Hellcat herum.

Ich haue mich brav auf ein knallrotes Sofa mit Millionen von Brandlöchern und versuche James‘ Song hinzukriegen. In einer Stunde oder so treten wir auf. Neben mir fickt der Drummer einer Speedmetal-Band einen Zwerg. Es ist nicht so leicht, einen Campfire Song einzustudieren, wenn auf demselben Sofa ein ganztätowierter Metal-Star einen Zwerg bumst.

Es wird elf, es wird Mitternacht, es wird verdammt spät. Alle Headliner sind durch, der Backstage-Bereich lichtet sich langsam, und in einer Ecke kotzt ein Groupie-Girl seinen Ekel heraus. Runter gelassene skinny Jeans, einen tätowierten Acid-Igel auf den Arschbacken. Das Mädchen ist nicht viel älter als die Girls in meiner Klasse. Aber auf irgendwas drauf. Ich gebe ihr eine Papierserviette. Sie wischt sich den Mund ab und sieht mich an wie ein angeschmorter Zombie direkt aus der Hölle.

– Gehörst du auch zu den perversen Wichsern hier?
– Irgendwie schon, aber ich trete gleich auf. Nur für einen einzigen Song. Eigentlich bin ich nur die Aushilfskraft. Weil sie den Roadie von unserer Band überfahren haben. Naja egal, es ist eine wilde Geschichte.

Das Mädchen riskiert ein halbes Lachen. Aber es sieht so aus, als würde ihr das Lachen richtig weh tun. Wie mit einer Rasierklinge ins Gesicht gefetzt. Aus den Mundwinkeln rinnt ein dünner Blutfaden. Das Mädchen ist echt winzig. Sicher zwei Köpfe kleiner als ich. Nach ein paar Lichtjahren dämmert es mir: sie war der Zwerg auf dem roten Sofa, der Zwerg, der mit dem Speed-Metal-Typen rumgemacht hat. Sagen wir es mal so.

Und dann, Leute, ist es soweit. Zwanzig Minuten vor eins. James tippt mir mit einem Drumkit auf die Schulter. Showtime, Baby. Und plötzlich kommt es mir vor, als ginge es jetzt nicht auf die Bühne, sondern zu meiner eigenen Hinrichtung hinaus.

Noch zehn Meter bis zum Rampenlicht. Fünf. Drei. Zwei. Die Scheinwerfer sind auf mich gerichtet. Mich, einen vierzehnjährigen Dolm. Ich habe die Hellcat von Lutz Iffer umgehängt und darf für einen Song ganz nach vorn auf den Bühnenrand. Ich frage mich, ob ich das Lied hinkriegen werde. Lieber nicht auf die Massen unter mir blicken. Einfach auf die Gitarre-Saiten starren und an Em, Dsus4, Cadd9 und G denken. Wird schon gehen. Scheißdrauf. Ist eh nur ein Auftritt. Auf dem Krawallo-Festival. Vor zigtausend Leuten.

Und dann beginne ich einfach zu lächeln. Bin die Ruhe selbst. Ich weiß nicht wieso. Als ob ich irgendwo angekommen wäre, wo es keinen Sturm mehr gibt, keinen Daueralarm, keinen anderen Scheiß. Es ist vollkommen klar, wie der Song geht, und wie ich die Saiten anschlagen muss. Ich bin der Song, und der Song ist irgendwie ich. Ganz plötzlich ist alles so einfach. Ich hebe den Blick, schaue fest auf die Massen vor mir, als hätte ich schon hunderttausend Gigs abgespult. Ich spüre meine rechte Hand am Gitarrenhals. Und das Plektrum in meiner linken. Die ersten Riffs, dann gehen die Leute mit. Und die Band setzt ein. Wir fetzen gemeinsam los. Bis zur zweiten Zugabe. Egal, was und wie ich gespielt habe: es war verdammt gut.

Leider dauert mein Ruhm nicht allzu lange. Sagen wir, zwanzig Sekunden.

Als ich mich umdrehe und die Bühne verlassen will, sehe ich ein Dutzend Cops mit erwartungsvollen Gesichtern beim Bühnenabgang. Es ist klar, wen die uniformierte Meute hopps nehmen will. Mich, den flüchtigen Vierzehnjährigen, der seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt ist. Nach all den Highlights der letzten Tage – die Punks im Peng, der überfahrene Roadie, Holden, der eigentlich Lutz Iffer, und Phoebe, die anscheinend Claudio war, die geile Winzerin mit dem Inferno-Wein und der coole Haufen von Arctic Slang inklusive Auftritt vor tausenden Leuten auf dem Krawallo-Festival hier – nach so vielen Wows will ich mich nicht einfach von ein paar übergewichtigen Bullen festnehmen lassen.

Ich drücke James die Hellcat in die Hand, nehme einen Anlauf und hechte von der Bühne. Die Fans unter der Stage fangen mich auf und transportieren meinen Körper wie eine Leiche über ihre Köpfe hinweg. Ich spüre tausende Arme wie Tentakel überall und irgendwo, und erst ganz hinten, wo keiner mehr genau mitgekriegt hat, was da vorne auf der Bühne wirklich ablief, spüre ich wieder den Boden unter den Füßen. Ungläubig starre ich noch ein paar Sekunden auf die riesige Bühne, wo Arctic Slang gerade ihre allerletzte Zugabe spielen.

Ich drehe mich um und verschwinde Richtung Ausgang.

– Willst du in die Stadt?
– Was?
– Ob du in die Stadt willst?

Es ist der Typ vom Frankfurter Flughafen. Der mit dem schicken dunklen BMW. Der uns heute Abend kurz vor dem Krawallo-Gelände mit lautem Gehupe überholt hat.

– Ach, Sie schon wieder. Wer sind Sie eigentlich?

Der Typ zuckt mit den Schultern und sagt nur: Ein Freund. Genau das ist er todsicher nicht. Aber er hat ein Fluchtfahrzeug, und die Cops sind hinter mir her. Jetzt wissen sie verdammt genau, wie ich aussehe: Ungewaschene schwarze Haare, Arctic Band T-Shirt, schwarze Jeans mit fetten Löchern am Knie, angekohlte Sneakers. 1,80m groß, 55 kg leicht. Tätowiert und gepierced, eine richtige Splatter-Movie-Erscheinung. The Punk-Kid on Elm Street. Volume Five.

– Ok, ich will in die Stadt. Falls es Hamburg ist.
– Es ist die Stadt an der Elbe.
– Na schön, dann komme ich mit.

Ohne viel nachzudenken steige ich in den schwarzen Rennschlitten, und der Typ Mitte Vierzig legt los. Er muss irgendwie mit diesem Festival zu tun haben, weil sein fetter BMW im VIP-Bereich parkt. Auf der anderen Seite handelt er mit Wertpapieren oder so. Manche Leute haben hundert Jobs, hundert andere keinen. Ob das die sogenannte Umverteilung ist? Keine Ahnung, in Wirtschaftskunde habe ich nie aufgepasst. Für mich gibt kaum etwas langweiligeres als Wirtschaft. In der Wirtschaft bin ich maximal Konsument. Einer, der euch die Kohle hinwirft, die Kohle von meinem Dad, meiner Mamma, von Angela und den tauben Großeltern. Die Kohle anderer Leute. Dafür lade ich mir Computerspiele herunter, kaufe mir eine Spielkonsole oder saufe mich am Samstag mit den Kumpels im Stadtpark an. Wodka Bull bis zum Abwinken. Und dann die Blumenwiese vollkotzen. Total unterbelichtet. Und doch so verdammt – schön.

Der Typ bietet mir alles Mögliche an. Diesmal ist er gesprächig, und ich weiß auch wieso. Er will etwas von mir. Genau dasselbe, was die blonde Tussi gewollt hat. Seine rechte Hand bewegt sich wie eine Königskobra auf meinen Schritt zu. Der Tacho zeigt 160. Im Hintergrund sind Millionen Lichter zu sehen. Die Lichter von Hamburg, dieser Labskaus-Metropole. Die Männerhand hat ihr Ziel erreicht, und natürlich werde ich steif. Ich werde immer steif, und wenn mich der Teufel am Schwanz packt. Ich habe schon daran gedacht, mir das Ding abzusäbeln. Es ist doch nicht normal, dass ich ständig geil bin. Auch wenn ich es gar nicht will. So wie jetzt.

– Stört dich meine Hand?
– Nö. (Und was ist, wenn es so wäre? Soll ich die Wagentüre aufmachen und rausspringen, bei 173 km/h?! Wohl kaum. Also stört es nicht. Oder es hat nicht zu stören.)

Der Typ ist begeistert von meiner Geilheit. In seinen Augen flackert ein Waldbrand. Seine Hand zittert beim Herumgreifen. Er weiß, dass er sich auf illegalem Terrain bewegt. Aber das ist ihm furzegal. Er ahnt, dass ich auf der Flucht bin und ganz gern ein Dach über dem Kopf hätte. Er hat mich in der Hand. Buchstäblich. Meine 14cm drücken dagegen. Je mehr er herumgreift, umso härter werde ich. Das ist der Deal. Ohne einer zu sein.

Wir rauchen eine Zigarette im Wagen und starren auf die Lichter der anderen Fahrzeuge. Auf dem Display zwischen uns läuft ein Porno. Ich bin so entspannt wie ein Deliquent auf dem Weg zum elektrischen Stuhl. Ein paar Minuten noch, dann werde ich die Elektroden auf der Haut spüren, das feuchte Leitgel und die schwarzen Lederfesseln um die dünnen Unterarme herum.

Wir sind jetzt in seinem Appartment, einem richtigen Penthouse. Der Typ muss irre reich sein, also irre und reich in einem. Egal, was dir in den Sinn kommt, mach es bitte nicht zu krass. Mir fällt der Titel eines Albums aus der Plattensammlung meines Vaters ein. How could Hell be any worse?

Cut.

Ich erwache zum x-ten Mal in diesem Doppelbett. In SEINEM Schlafzimmer. Die gesamte Etagenwohnung ist luxuriös und reduziert eingerichtet. Der Zinnober muss Millionen gekostet haben, aber ER scheint das mit links hinzukriegen. Andere sparen Lichtjahre für ein Zehntel dieses Reichtums an. Die meisten Dinge hier sind bereits intelligent. Viel intelligenter als ich. Das Licht geht nur dort an, wo sich gerade jemand bewegt. Die Dusche stellt die Wassertemperatur nach der Raumluft ein, und im Klo riecht sogar das Spülwasser nach Bergamotte und Lavendel. Wenn im altarhohen Kühlschrank etwas ausgeht, steht zehn Minuten später Ersatz in der Freshbox beim Eingang parat.

Es gibt dreitausend Channels am Flatscreen, und ich kann gta v auf dem 142-Inch-Bildschirm spielen. Ich kippe wieder richtig hinein in den Wahnsinn, werde zum King der Online-Zockerrunde, besser als IngenieurX, der Zockerbandit98 oder CallmeGodnow. Ich frage mich, wer sich hinter diesen Kürzeln verbirgt. Ein paar schräge Spinner wahrscheinlich. Die es mit ihrer Arbeit nicht so genau nehmen. In etwa so Idioten wie ich.

Abends kommt ER heim, der reiche, aalglatte Typ ohne Gesicht. Wir essen Sushi oder eine Pizza, die nach Traurigkeit schmeckt. Mit Artischocken aus der Dose. Und weißen Batzen, die früher einmal Winterreifen oder so waren. Echter Büffelmozzarella schmeckt jedenfalls anders. Trotzdem hat der Fladen fünfundzwanzig Euro gekostet, nur weil Sommertrüffel drauf sind oder so. Neapel scheint auf einem anderen Planeten zu liegen. ER trinkt französischen Weißwein dazu. Die Flaschen haben Etiketten, die wie Urkunden aussehen. Sicher sauteuer. Ich frage IHN, ob er einen Riesling namens Inferno kennt. ER meint, das wäre billige Scheiße.

Das war es auch schon mit dem Kommunizieren.

Nach dem Essen hocken wir beide auf einem Sofa, das mindestens 40.000 Euro gekostet haben muss. Es ist fast so groß wie Vorarlberg. ER verwaltet seine hunderten Email-Accounts, und ich spiele gta v. Unterschiedlicher kann man nicht sein. Das einzig Gemeinsame zwischen uns ist der Sex, in einem Doppelbett, umgeben von Glaswänden. Es ist irritierend, mich selber beim Blasen zuzuschauen. Vor allem, wenn der andere Körper haarig und alt ist. Irgendwie graust es mich vor mir selbst.

Mein „Ich“ sagt, dass es komplett falsch ist, diesem reichen Kerl einen abzulutschen. Das „Über-Ich“ droht mit Jugendknast und anderen Erziehungsmaßnahmen: Arschwischen im Altersheim. Öffentliche Toiletten reinigen. Oder – das Schlimmste – ein besserer Mensch werden. Nur meinem „es“ geht es prima: es kann zocken, Porno schauen und Pistazieneis fressen, und zwar rund um die Uhr. Oder den ganzen Tag im Bett bleiben. Und Tischtennis auf allen Sportkanälen gucken.

Das „es“ hat keinen blassen Schimmer, dass mein Ich eingesperrt ist. Dass ich einem reichen Perversen meinen Mund, meinen Arsch, meinen Körper hinhalte. Halb freiwillig, halb gezwungen. Wohin kann ich sonst gehen? Hauptsache, mein „es“ kann zocken und herumsauen.

An einem sonnigen Nachmittag blicke ich aus dem Fenster. Gegenüber ist ein riesiger Park. Laut Google soll dort früher ein Friedhof gewesen sein, ein Friedhof für Selbstmörder, Straftäter und Heiden. Ich stelle mir die tausenden Toten unter der Erde vor und frage mich, wie sie früher so gelebt haben. Bevor sie sich umbrachten. Oder einen anderen umlegten. Oder einfach nur nicht an diesen stummen Gott glaubten.

Ich drehe mich um und starre auf die teuren Möbel im Wohnzimmer. Und plötzlich erkenne ich diese Umgebung wieder. Ich habe den einsamen Jungen in einem solchen Raum aus Grautönen zocken gesehen. Und einen Kerl wie IHN freudlos nackt vor dem Spiegel betrachtet. Das ungleiche Paar im Haus gegenüber waren wir: ER, der auf Jungs steht, und ich: Sein Liebhaber. Oder sein Opfer. Wir beide waren und sind die traurigen Leute in einem grauen Betonklotz. Hunderte Sensoren und 360-Grad-Kameras überwachen uns permanent wie Versuchstiere. Als ob wir in einem Leben gefangen wären, das nicht mehr unseres ist. Umgeben von einer tödlichen, viralen Hülle.

Ich blicke auf den Park hinunter, und die Leute tragen plötzlich allesamt Gesichtsmasken. Und Einweg-Handschuhe. Dazu hellblaue Schutzmanschetten über den Schuhen. Als ob die gesamte Umgebung da draußen vergiftet und verseucht wäre. Obwohl es überhaupt nicht danach aussieht. Ein warmer Spätsommertag flirrt zwischen den Alleebäumen. Alles da draußen sieht wunderbar aus. So lebendig. Gefährlich schön irgendwie. Gerade richtig, um an etwas Unsichtbarem zu sterben. Ich beuge mich aus dem Fenster und sehe einen vermummten Zwerg vor einer grauen Steinmauer. Vielleicht ist es ein kleiner Junge oder auch nur ein Troll oder eine Elfe auf Acid. Irgend so ein verdammtes Wesen aus einer anderen Welt.

Die vermummte Zwergengestalt hat eine Spraydose in der Hand und legt los. Zuerst ist nur ein schwarzer Punkt zu sehen, der dann zu einem Aufstrich wird, ich erkenne ein krakeliges „a“ und dann ein „n“ und ein „d“ und danach gebe ich auf. Die kleine Gestalt sprayt irgendein Unwort gegen die Steinwand, in hypergroßen sich selbst entstellenden Buchstaben. Nach einer Minute oder so ist der Gnom verschwunden. Und das Wort steht schwarz und unübersehbar groß auf der Steinmauer: „andawörld“. Unterwelt. Deutsch ist das nicht. Und Englisch auch nicht. Irgendetwas dazwischen. Aber die ganze Scheißwelt da draußen scheint zu diesem entstellten Schriftzug verkommen zu sein. Nicht mehr Welt. Nicht Planet. Nicht mehr Napoli. Nicht mehr Hamburg. Weder Kärnten noch irgendwas. Einfach nur „andawörld“. Wie der letzte beschissene Ortsname auf einem sich selbst überlassenen Planeten.

Ich renne aufs Klo und kotze ins Lavendelwasser hinein. Gut die Hälfte geht daneben, aber das ist mir egal. Nach dem Kotzen tauchen sie wieder auf, die Bilder aus einem früheren Leben. Samt den dazugehörigen Leuten. Mein Dad. Angela. Sogar der Dolm von Stiefbruder. Rocco und Antonia natürlich. Beatrice von der Dachterrasse. Bernard mit dem offenen weißen Hemd und Matilda. Virgilio, Mohammed, Christian und nicht zuletzt Jonathan, vulgo Johnny. Dazu kommt noch meine ältere Schwester. Teresa. Meine Teresa mit den langen dunkelblonden Locken, ohne „h“ nach dem „T“. Die beste Schwester der Welt.

Ich zögere lange, aber kurz bevor es draußen in der allgemeinen Vergiftung zu dämmern beginnt, halte ich es nicht mehr aus. Von SEINEM Smartphone aus rufe ich diese eine Festnetznummer an. Die Nummer von – ich trau mich es gar nicht zu sagen – Zuhause. Auch wenn meine Arme tätowiert und die Augenbrauen, die Zunge und der Bauchnabel gepierced sind: ich bin noch immer ein vierzehnjähriger Junge, der nach Hause möchte. Egal was passiert ist. Und wie abgeklärt ich mich geben mag. Leute, mein Seufzer muss im ganzen Sonnensystem zu hören sein:

ICH – WILL – NACH – HAUSE.

Auch wenn es dort gar nicht so toll ist. Und ich Angelas Kasseler Rippchen nicht ausstehen kann. Ich will in mein verdammtes Zimmer unter dem Holzdach zurück. Mit all den schrägen Wänden und dem schmalen Bett. Ich habe Sehnsucht nach den löchrigen Unterhosen im Schrank und dem geheimnisvollen Rascheln unter dem Kasten. Ich habe Lust auf meine Pringles-Rollen und das nächtliche Butterkeks-Fressen unter der Bettdecke, nur ich und mein Handy, auf dessem Display die nächste Verfolgungsjagd wogt. Irgendwie gehöre ich noch immer in dieses Thuyenheckenhaus, in diese Kleinstadt, die an einem verdammten Fluss liegt, der wirklich aufwärts fließt. Für ein paar Jahre noch möchte ich dortbleiben. Bis zur Matura oder so. Wenn das Reifezeugnis auch mich in ein Leben entlässt, das irgendwann meines werden wird. So richtig meins. Und nicht nur ausgeborgt oder so.

Nach dem fünften Freizeichen meldet sich eine Frauenstimme. Die meiner Wunderschwester Teresa. Kleinlaut flüstere ich meinen Namen, und sie stößt einen spitzen Schrei aus.

Da bin ich wieder. Mit der Welt da draußen verbunden. Einer Welt, die ich mir gar nicht ausgesucht habe. In die ich einfach hineingeraten bin. Und in der ich mich doch geborgen fühle. Vorläufig noch. Bis auch ich jemanden gefunden habe, der einzigartig sein wird. Nur für mich gemacht. The One and Only – jemand, der wie ein Fluss ist, der aufwärts fließt.

Gegen alle anderen Flüsse. ♦

THE END

 

Die Nacht, der Tag und andere Komplizen

Thriller

 

Sie sind wohlhabend.
Intelligent.
Erfolgreich.
Gutaussehend.
Sie sind verschwunden.
Und haben nichts hinterlassen außer
Ihr dunkles Geheimnis.

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 146

„Seit 4000 Jahren erzählen wir uns gegenseitig, was wir wissen zu müssen glauben – dass man alle Ungeheuer besiegen kann, wenn man weiß, wer sie wirklich sind.“ A. L. Kennedy, Als lebten wir in einem barmherzigen Land

Teil 1 – Der Duft von Regennächten ...
Es war eine dieser melancholischen Nächte, in denen alles Mögliche passieren konnte – und dann doch nichts geschah. Ein verregneter Juniabend mit Wolkenbänken über der Stadt wie im Oktober. Die ideale Nacht, um jemanden draußen vor der Stadt zu begraben. Jemanden wie meine Katze zum Beispiel. Die rot gestreifte Tigerkatze, die es nicht mehr geschafft hatte. 13 Jahre waren wir zusammen gewesen, länger als mit meiner Ex-Frau Agnes, einer Buchhändlerin für esoterische Literatur und ganzheitliche Ernährung. Mittlerweile über verworrene Kommunikationswege mit einem flämischen Hellseher aus dem Jenseits liiert – aber das war nicht die Geschichte, die hier gerade anfing. An diesem 13. Juni. Nachts gegen 22.30 Uhr. Draußen vor der Stadt. Auf dem Friedhof der Namenlosen. Außer den Toten war keiner hier.

Ich trank ein paar Schlucke Absinth, packte die tote Katze aus dem schwarzen Müllsack und warf ein paar letzte Blicke auf die Tierleiche. Isola würde nie wieder aufstehen und miauend davonlaufen, soviel stand fest. Sie lag da und verweste. In ihren Gedärmen begannen die Würmer zu fressen, und in ein paar Wochen oder Monaten würde sie nur noch eins mit der fetten Erde hier sein. Ich griff nach der Schaufel, hob neben einem Kindergrab eine noch kleinere Grube aus und legte Isola in die fette Flussufererde. Murmelte so etwas wie ein Gebet. Trank noch ein paar Schlucke Absinth aus dem Flachmann. Der hohe Alkoholgehalt und das Thujon wirkten so zuverlässig wie ein Stich in die Augen. In meinem limbischen System begann die Grüne Fee einen langsamen Walzer zu tanzen. Allein. In sich selbst versunken. In einem leeren, fensterlosen Saal ohne jede Bedeutung.

Nachdem sich das rhythmische Ticken im Schädel gelegt hatte, griff ich wieder zur Schaufel und schippte Erde auf das tote Tier, glättete den kleinen Erdhügel und rauchte das ungefähr zwanzigste Zigarillo des Tages. Hinter dem Erdwall und jenseits der kleinen Aufbahrungshalle, die auch für nichts mehr gut war, tutete eine Schiffsirene. Ein rumänischer Frachtkahn passierte den Alberner Hafen. Und wenn schon. Meine Katze war tot, und ich fühlte mich seit langer Zeit wieder allein. Wie ein abgestelltes Gepäckstück, das niemand mehr haben wollte. Ungefähr 55 Jahre alt, mit tiefen Falten im Gesicht und schütteren Haaren. Von Beruf Privatdetektiv, also einer von jenen Kerlen, die in den Angelegenheiten anderer Leute herumschnüffelten, meist im Auftrag deren idiotischer Partner. Scheidungsfälle, Missbrauchsvorwürfe, Verdacht auf veruntreutes Familiensilber und anderen Unsinn mehr – wofür die Leute bereit waren, ohne Bedenken Geld auszugeben. Gegen ein paar handfeste Fotos und sachdienliche Angaben, die vor einem Richter dicht genug waren, um das eingeklagte Recht zugesprochen zu kriegen. Es ging nur um Recht, nie um Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit gab es nicht mehr auf dieser Welt, sie war längst auf einer Müllkippe entsorgt worden und verweste unter all dem anderen Schrott wie meine Katze unter den paar Schäufelchen Erde.

Während ich meinen alten Toyota zurück in Richtung Innenstadt lenkte, prasselten die Abendnachrichten wie schiefer Regen an meiner Trägheit vorüber. Morde, Vergewaltigungen oder ein Börsenkrach irgendwo. Ein Krieg, der nicht und nicht aufhörte. Dieser betrunkene LKW-Fahrer, der letzte Nacht drei Menschen niedergemäht hatte. Als ob sie Grashalme gewesen wären. Und jetzt waren sie alle ebenso tot wie meine Hauskatze Isola, Insel auf Italienisch. Warum ich dieses Vieh so genannt hatte, wusste ich nicht mehr. War jetzt auch schon egal. Meine Insel gab es nicht mehr. Sie war vor ein paar Tagen zugrunde gegangen. Und ich hatte sie soeben beerdigt. Auf dem Friedhof der Namenlosen. Unter all den Wasserleichen und Selbstmördern. Eine gute Umgebung für eine Insel, die es nun nicht mehr gab.

Es war kurz nach Mitternacht, als ich in meine Wohnung im ersten Bezirk zurückkam. Okay, es war keine riesige Bude, eher ein Loch, nicht einmal vierzig Quadratmeter groß, im Mezzanin über einer Änderungsschneiderei gelegen, in der ich manchmal meine ausgeleierten Anzüge aufbessern ließ. Nebenan gab es eine Frauen-WG, in der es zuging wie in einem Taubenschlag. Türen auf, Türen zu, Gelächter, Kampfgeräusche, Geschrei wie bei einer Gruppenmasturbation unter Teenagern oder wenn jemand auf einem besonders schlimmen Trip war – egal. Es waren die besten Nachbarn, sorry, die besten Nachbarinnen der Welt. Die meisten kamen und gingen, tauchten auf und verschwanden innerhalb von wenigen Wochen. Namen gab es so gut wie keine. Ich hatte mich auch nie vorgestellt. Auf der Wohnungstür stand „Hartmann“, das genügte. Ein kleines, vergoldetes Türschild aus längst vergangenen Zeiten. Ich hatte keine Lust herauszufinden, wer sich hinter diesem deutschen Namen verbarg, ein SS-Offizier, ein unbekannt gebliebener Dichter, ein Bezirkspolitiker, egal wer. Ich hatte einfach den Namen des unbekannten Vormieters übernommen und nannte mich ebenfalls „Hartmann“. Privatdetektei Hartmann. Spezialist in Sachen Observation. Wer gerne etwas Schmutzwäsche über seine intimsten Freunde einsammeln wollte, war bei mir richtig. Schließlich hatte jeder – zumindest jeder Erwachsene – auf diesem Planeten etwas zu verbergen, womit man in die Schlagzeilen einer Boulevardzeitung oder ins Visier behördlicher Ermittlungen geraten konnte. Der eine hatte vor Jahren einen Totschlag begangen, der nächste betrog seinen Arbeitgeber, der dritte ging regelmäßig ins Bordell, obwohl (oder weil) er Religionslehrer war, der vierte schlug nachts im Wiener Wald mit einem Baseballschläger auf die ins Holz geritzten Namen seiner Vorgesetzten ein und so weiter. Jeder hatte etwas zu verbergen. Sogar ich. Der sich einfach Hartmann nannte. Und nicht einmal einen Vornamen besaß – außer jemand fragte danach, dann sagte ich Joe. Joe Hartmann. Höchstwahrscheinlich gab es auf diesem dritten Stern neben der Sonne keinen einzigen Arsch, der sich so nannte. Außer mir natürlich. Diesem Joe Hartmann von eigenen Gnaden.

Ich sperrte die Wohnungstür auf, warf den grauen Mantel Richtung Türhaken, verfehlte ihn, und das Stück lag wie ein verrückter Betrunkener am Boden, zerknautscht, fleckig und mitleiderregend. Von mir aus. Schließlich war ich aus gutem Grund etwas von der Rolle: ich hatte meine Katze im Friedhof der Namenlosen beerdigt. Neben dem Grab eines elfjährigen Kindes, dessen Leiche vor hundert Jahren aus der Donau gefischt worden war. Jetzt hatte der kleine Selbstmörder nach einem Säkulum Dauerschlaf wenigstens eine Katze zum Spielen.

Ich zuckte mit der Schulter, betrachtete mein vernarbtes Gesicht, die tiefen schwarzen Ränder unter den dunkelbraunen Augen, die noch immer diesen jugendlichen Schimmer hatten – mach dir nichts vor, Joe. Du bist alt geworden. Und wirst noch älter werden, es sei denn, der verdammte Absinth holt dich vor der Zeit unter die Erde. Unter derselben, in der jetzt deine Katze liegt. Deine Katze Isola.

Ich ging in die Küche hinüber und goss mir etwas von der Grünen Fee in den nächstbesten Becher. Fischte zwei Eiswürfel aus dem Gefrierschrank, warf die gletscherkalten Dinger in den Steingutbehälter und schlürfte am flüssigen Wermutkraut mit 68 Prozent Alkohol und der Extraportion Thujon. Der gute, alte Pernod. Niemand schien das Zeug mehr zu kennen, nur die Bartender der Stadt parfümierten ihre Cocktailgläser damit und der eine oder andere Haubenkoch verwendete das Destillat für seine verdammte Donaufisch-Suppe. Die übrigen 99,3 % der Bevölkerung schienen die grüne Fee vergessen zu haben. Ich trank einen Schluck, rauchte das letzte Zigarillo des Tages und fühlte mich auf wunderbare Weise verlassen. Der schnöden Welt da draußen abhandengekommen. Alles, was noch fehlte, waren Mahlers Kindertotenlieder. Nach diesen Friedrich-Rückert-Gedichten. Manchmal hörte ich mir sowas in meinem Wagen an. Während ich verdächtige Leute observierte. Mir etwas notierte. Und Absinth trank. Das nächste Zigarillo rauchte. So verging die Zeit, und mein Leben.

Unter dem schwarzen Festnetztelefon leuchtete die digitale Zahl „4“. Vier Kontaktaufnahmen in Abwesenheit. Mein Anrufbeantworter aus den frühen Achtzigern funktionierte immer noch einigermaßen. Ich drückte auf die locker gewordene Taste und hörte mir das Geschwafel an: ein Betrunkener, der sich nicht sicher war, in einem Bordell angerufen zu haben, ein gewisser Prinz von Zamunda, der mir ein unschlagbar tolles Geschäft über 5 Millionen Euro offerierte, wenn ich so doof sei, ihm vorab 50.000 an ein nigerianisches Treuhandkonto zu überweisen, und der dritte war ein falscher Amazon-Bote, der mir gegen Mahnspesen eine Sendung andrehen wollte, die es nicht gab. Es knackste im Anrufbeantworter, dann war Nummer 4 an der Reihe. Eine recht ansprechend klingende Stimme, dunkles Timbre, mitteldeutscher Akzent, ein Bankier aus Frankfurt, siebzig Jahre alt, aber immer noch im Hedgefonds-Geschäft, sicher vollgestopft mit Kohle bis obenhin, der mir trotzdem sein Leid aufs Band heulte, das die Familie seines einzigen Sohnes betraf. In Wien aufhältig, aber seit mehr als einem Monat verschwunden. Spurlos verschwunden. Ohne irgendwas hinterlassen zu haben. Keine Ankündigung. Keine Nachricht, nichts. Auf den Konten keine einzige Bewegung mehr. Funkstille.

„Es muss etwas Schreckliches geschehen sein“, vermutete die Stimme, „und ich biete Ihnen, Herr Hartmann, viel Geld an, wenn Sie das herausfinden könnten. Die Polizei tappt im Dunkeln (das tat sie sowieso in neunzig Prozent aller Fälle, wenn der Täter nicht innerhalb zweier Armlängen neben der Leiche herumstand und sich widerstandslos festnehmen ließ), ich möchte Gewissheit haben. Ich zähle auf Sie. Rufen Sie mich an. Jederzeit. Rund um die Uhr, hier ist meine Nummer, falls ihr Anrufbeantworter zu schwachsinnig ist, um…“

Es folgten zehn oder zwölf Zahlen, dreimal hintereinander wiederholt. Ich brauchte gar nicht erst mitzuschreiben. Dann knackste es, und ich hatte die verdammte Telefonnummer im Kopf. Unausrottbar. Wie den neuesten Ohrwurm in den Charts. Ich trank den Absinth aus. Sah auf die Uhr. Eine Viertelstunde vor eins. Ob ich den Kerl jetzt mitten in der Nacht anrufen sollte? Warum nicht. Er hatte schließlich „rund um die Uhr“ gesagt, „jederzeit“, „wann immer Sie wollen“ – er hatte mich sogar ausdrücklich dazu aufgefordert. Ich drückte die Zigarillo-Kippe im versifften Abwasch aus und wählte die Nummer in meinem Kopf. Es läutete viermal, fünfmal, sechsmal, dann hob jemand ab. Genau dieselbe hellwach klingende Stimme wie auf dem Anrufbeantworter. Ich fragte mich, welche Schönheitsfarm es hinkriegte, einen siebzigjährigen Knacker mit solcher Jugendlichkeit auszustatten. Vielleicht gab es wahnsinnig teure Injektionen dafür. Oder Bluttransfusionen. Oder eine andere teure Masche, um zumindest phonetisch das ewige Leben zu erlangen.

Der Bankier aus Frankfurt war jedenfalls dran. Seine Stimme klang begeistert, als hätte er nie in seinem mit Kohle zugenagelten Leben mit meinem Rückruf gerechnet. Aber ich hatte zurückgerufen, was dachte er denn: dass ein behördlich konzessionierter österreichischer Privatdetektiv der letzte Arsch unter dem Nachthimmel war?

„Schießen Sie los,“ murmelte ich in den schwarzen Hörer und goss mir die nächste Runde Pernod in die Tasse, grabschte nach zwei weiteren Eiswürfeln und hörte mir die Story an, die wie jede wilde Geschichte in meinem Leben mit einer Extraportion Absinth begann, und nicht mit einem verdammten grünen Salat.

Der Rap von der perfekten Familie durchflutete meine Wahrnehmung. Die jugendliche Stimme des alten Bankiers lullte mich ein wie die Stehsätze eines Provinzpolitikers bei der Eröffnung eines neuen Autobahnabschnitts: Das verschwundene Familienoberhaupt war der einzige Sohn des Herrschers über Millionen von Vermögenskonten und anscheinend ein erfolgreicher Immobilienentwickler, seine Frau eine Größe auf dem Gebiet der chirurgischen Gynäkologie (mein Stammhirn lieferte dabei ziemlich unglaubliche Bilder, zu jeweils der Hälfte aus Youporn und Onlyfans zusammengestohlen), der ältere Sohn ein Vorzeigestudent, die jüngere Tochter Ballettschülerin und lauter Einser schreibende Oberstufenprinzessin, dazu eine begabte Zeichnerin und anderen Unsinn mehr. Wohin man auch sah, überall brillierte hohe Intelligenz oder loderte das Feuer von Ausnahmetalenten – und trotzdem waren alle wie vom Erdboden verschluckt. Aus dem sogenannten Leben verschwunden. Nicht mehr auffindbar. Wie ein alter Frachtkahn im Alberner Hafen untergegangen.

Ich zündete mir eine Moods an und inhalierte den Rauch, während die Bergpredigt am anderen Ende der Leitung nicht aufhören wollte. Die Wohnung der verschwundenen Familie lag gleich hier um die Ecke, ich hätte, wenn ich gewollt hätte, hinpissen können. Neutorstraße, nahe der ehemaligen Börse, in einem sanierten Altbau, natürlich war es das Penthouse, ganz oben, sechster Stock, nach der Beschreibung des Bankiers eine Oase an entfesseltem Luxus. Ganz wie es das Geschäftsmodell eines gehobenen Immobilien-Entwicklers vorsah, mit dem obersten Gebot: du sollst keine anderen Wohnpaläste haben neben den meinen.

Der Zigarilloqualm in meinem Kopf verstärkte die Wirkung des fünften Absinths. Ich fühlte mich in einem Limbo zwischen noch nicht tot und gerade eben auferstanden, es war weit nach zwei Uhr früh als ich auflegte und der Bankier in seine Restnacht geflohen war. Auf jeden Fall war die Leitung tot, und ich hatte den verdammten schwarzen Hörer in der Hand, ein vorsintflutliches Modell aus dem analogen Zeitalter. Ich sah mich um und brauchte keinen Stilberater, um festzustellen, dass ich in einem erbärmlichen Loch hauste. Vierzig Quadratmeter heruntergewohntes Elend. Überall Aschenbecher mit ausgedrückten Kippen und leergetrunkenen Tumblern, in denen Myriaden von Fruchtfliegen Schnellpolka tanzten. Die Vorhänge zerschlissen, das ungemachte Bett ein übelriechendes Stillleben des Grauens. Die Toilette erinnerte an frühe Schüttbilder von Hermann Nitsch. Und in der Küche standen noch geöffnete Dosen mit Katzenfutter herum, die keiner mehr brauchte. Meine rotgestreifte Tigerkatze Isola war tot. In den letzten Tagen hatte sie kaum noch gefressen, hatte das Wenige erbrochen und Dauerdurchfall gehabt. Schließlich war sie letzte Nacht einfach umgefallen und wenige Sekunden später gestorben. Hatte einfach so dagelegen. In einer Lache aus irgendeiner Flüssigkeit, die aus allen Löchern getreten war. Kein sehr schöner Anblick, falls mich jemand fragen sollte, aber es war sowieso niemand da. Hier drinnen in der Küche roch es erbärmlich, nach abgestandener Luft und dreierlei Erbrochenem von der toten Hauskatze. Ich sollte all den Dreck wegräumen und vierzehn Tage durchgehend lüften. Aber vielleicht konnte kalter Zigarilloqualm auch einiges davon kaschieren.

„Ich überweise Ihnen eine gewisse Summe im Voraus, dann können Sie loslegen“, hatte der Bankier aus Frankfurt das nächtliche Telefonat mit einer neugierig machenden Verheißung beendet. Zwanzigtausend. Müssten morgen auf Ihrem Konto sein. Er nannte mir eine Zahlenkombination, die mir nicht ganz unbekannt war: die notleidende Soll-und-Haben-Station eines mittelmäßigen Versagers. Ich war ständig im Minus. Die Mietraten und Energiekosten stiegen wie Heißluftballone in ungeahnte Höhen, der alte Toyota verschlang immer mehr Sprit, der sechzehnjährige Sohn fing an teuer zu werden, und die Absinthflaschen waren auch nicht umsonst bei der Heilsarmee zu erwerben. Wie mies die Geschäfte auch gingen, auf das destillierte Wermutkraut konnte ich nicht verzichten. Der gute alte Pernod half mir, die Gegenwart zu ertragen, die Vergangenheit zu vergessen und die Zukunft für einen waghalsigen Akrobaten zu halten, der den dreifachen Auerbach gehechtet niemals hinkriegen würde. Mein Sohn dagegen schon. Philipp war begeisterter Wassersportler. Mittlerweile ein Meter achtzig hoch, dünn, aber trainiert, mit einem Po, der auf TikTok jugendliche Massenhysterien auslösen könnte. Keine Ahnung, warum ich jetzt daran dachte. Ich holte einen zerkauten Kugelschreiber aus dem Sakko und notierte mir ein paar Stichwörter auf einer ziemlich gebrauchten Serviette: Die perfekte Familie. Das Penthouse, nicht einmal dreihundert Meter entfernt. Der geheimnisvolle Bankier, der mir das Licht eines Auswegs in Form von zwanzigtausend Eiern in Aussicht gestellt hatte. Ich konnte den verdammten Underliner drehen und wenden, wie ich wollte, soviel hatte ich noch nie für einen verdammten Auftrag bekommen, schon gar nicht im Voraus.

Ich ging die paar ausstehenden Rechnungen in meinem Kopf durch. Die meisten meiner Klienten zahlten zögerlich, und wenn, dann in bar, ohne Quittung und alles. Den meisten waren die erteilten Aufträge peinlich, vor allem, nachdem sie erfahren hatten, mit welchen Psychopathen sie unter einem Dach auskommen mussten: mit dem heimlichen Crossdresser im Ehebett, einem drogenfressenden Stiefsohn, der dauerbissigen Dogge, und dem Postboten, der sie alle mit seinem Riesenpenis beglückte, Hund inklusive, wovon ich sogar Sequenzen im Darknet aufgetrieben hatte. Der normale Wahnsinn eben. Worauf die Leute abfuhren, wenn keiner so genau hinsah.

Diese Vorzeige-Familie aus dem Luxus-Penthouse war jedenfalls verschwunden. Vater-Mutter-Sohn-Tochter, allesamt weg. Ich ahnte, dass diese mysteriöse Geschichte Abgründe verbarg, die sich unter all dem oberflächlichen Glanz nach und nach auftun würden. Sobald die Bankierskohle mein Konto erstrahlen ließ, würde ich einen gewissen Küppers anrufen. Den Facility-Manager des Neutor-Straßen-Gebäudes, eine Art Hausmeister. Küppers, das klang nach einem Schokoriegel für Achtjährige oder einem zwielichtigen Tanzlehrer aus Mitteldeutschland. Ich warf skeptische Blicke auf eine Handynummer aus ziemlich vielen Sechsen und einer Null hintendran. Mein Ich war noch immer geflutet von der geschilderten Perfektion. Okay, welcher Vater denunzierte schon gern seine Familie, ich war auch stolz auf meinen Sohn und konnte meiner Ex-Frau kaum böse sein. Wir hatten uns einfach auseinandergelebt wie zwei traurige Clowns, die nicht mehr miteinander auftreten wollten. Ich frequentierte schwule Saunen wie andere Leute den Wirt nebenan, und Agnes betrieb eine esoterische Buchhandlung, deren Ladenhüter gegen das geballte Grauen im Alltag ankämpfen wollten: glatte Haut, schöne Gedanken, entgiftete Leber – Friede, Freude und Eierkuchen. Das Leben war ein rauschendes Fest ohne Alkohol, und der Planet eine verdammte Scheibe.

Wenn ich so nachdachte, war unser Familienleben völlig aus dem Ruder gelaufen: ich hatte eine Vorliebe für devote jüngere Männer entwickelt, Agnes versuchte die Welt mit ganzheitlicher Literatur zu retten, und Philipp wollte Staatsmeister über die 100 Meter Delphin oder Kraul werden. Wir drei passten ungefähr so gut zusammen wie ein blutiges Tomahawk-Steak, gesüßtes Schlagobers und ein angerösteter Stöckelschuh. Wenn jemand von uns dreien sprach, hörten die beiden anderen kaum zu. Dachten an ihre Eskapaden in der Römersauna, an einen Hochwald voll mistelschneidender Druiden oder an die verdammten Bahnen im Stadthallenbad. 37,3 / 38,5 / 39,0 / 36,9 – was nach erhöhten Körpertemperaturen klang, waren Philipps Durchgangszeiten über 50 Meter Delphin. Super – aber noch nicht Weltklasse. Der Junge war ehrgeizig wie eine Legion aus Elitestudenten. Woher er das hatte, wussten weder Agnes noch ich. Seine Eltern waren jedenfalls faul, demotiviert und trotzdem Burnout gefährdet. Gegen das Ausgebrannt Sein würde ich Einspruch erheben. Dafür konnte ich meinen Hang zu allgemeiner Bequemlichkeit mit einigen Ausrufezeichen unterschreiben. Und richtig motiviert war ich das letzte Mal als Elfjähriger gewesen, als ich das Onanieren in versifften Bahnhofstoiletten entdeckt hatte, unter der Aufsicht älterer – aber lassen wir das. Die Leute mussten nicht jeden Fussel aus meiner zerfransten Vorvergangenheit wissen.

Ich schrak aus meinem Selbstgespräch hoch, aber es war niemand hier. Nur ich selbst, eine Flasche Absinth und fünf Millionen nutzloser Dinge. Meine rotgestreifte Katze ging mir schwer ab. Ihre kratzenden Pfoten und das klägliche Mauzen, wenn sie Hunger hatte, ihr sanftes Schnurren, wenn das Schüsselchen leergefressen war. Ich fühlte mich alleingelassen. Mit einer Kippe zwischen den Lippen und dem nächsten Tumbler in der Hand. Ich atmete schwer und schwitzte im Stehen. Man konnte Mitleid mit mir haben. Den nächstbesten Arzt rufen. Oder es einfach sein lassen. Ich entschied mich für letzteres, starrte auf die geöffneten Dosen Katzenfutter und spürte, wie sich die Einsamkeit wie eine riesige Boa Constrictor um meinen vergammelnden Körper schlang. Und draußen begann es wieder zu regnen.

*

Die Dachterrassenwohnung war groß. Mehr als das. Sie war riesig, von unglaublichen Ausmaßen. So einzigartig wie praktisch unbezahlbar. Und was einem sonst noch einfiel zu allgemeinem Größenwahn und Imponiergehabe. Zwei Stockwerke, jedes davon 30 Meter lang, in mehr als großzügige Räume unterteilt, und von zwei turmähnlichen Gebäudeteilen begrenzt, die ebenfalls zur Immobilie gehörten. Die Wände allesamt blütenweiß, dafür kaum mit Bildern behängt. Allein die Möbelstücke mussten mehr als so mancher Sportwagen gekostet haben: Rolf Benz, Minotti, Ligne Roset und wie die Lieblingsmarken blasierter Innenarchitekten so hießen. Ich brauchte einige Minuten, um den Luxuströdel als das wahrzunehmen, was er ohnehin darstellte: hin geprotzter Reichtum, der sich selbst genügte. Die inszenierte Wohlstandsverwahrlosung diente vor allem der eigenen Heiligsprechung, und ich wettete 10.000 Euro gegen ein Loch in der Hosentasche, dass die verschwundenen Luxusgestalten genau das vorgehabt hatten: sich über den Dächern Wiens einzigartig zu fühlen. Dass dafür einige Millionen Cash nützlich sein konnten, lag auf der Hand. Sogar auf einer so schmutzigen wie der meinen.

Mittlerweile hatte der mysteriöse Bankier tatsächlich die zwanzig Riesen rübergeschoben, mein marodierendes Girokonto wäre um ein Haar explodiert und in einer höheren Guthaben-Stichflamme aufgegangen. Meine Bankbetreuerin hatte todsicher hundertmal nachgesehen, ob mit der fetten Überweisung alles seine Richtigkeit hatte, aber wie sie es auch drehen und wenden wollte, die fünfstellige Zahl auf dem verfluchten Konto ging einfach nicht weg, sondern blieb auf der schwarzen Ziffernseite wie ein verdammtes Stück Kaugummi auf dem Trottoir kleben: hingespuckt, von einer unsichtbaren Schuhsohle auf den Kontorahmen gepresst und solange dort aufhältig, bis sich die Grundbedürfnisse des Kontoinhabers dieser Summe erbarmten: eine halbe Palette Absinth beim Getränkehändler meines Vertrauens geordert, einige offene Rechnungen in aller Stille beglichen, meiner Exfrau die eine oder andere irdische Freude bereitet und Philipp fünf Paar brandneue Sneakers gekauft, um ein bisschen mehr Vater zu sein, jener Typ Sugar Daddy, der auch einmal etwas springen ließ und nicht nur salbungsvoll von Ethik, Moral und anderen metaphysischen Umständen schwadronierte.

Wie ein Dieb, der vom Glanz der soeben aufgebrochenen Wohnung geblendet war, stolperte ich im Atrium herum, inspizierte die edlen Möbelstücke und überlegte, ob im Flügelaltar hohen Kühlschrank neben der offenen Schauküche ein paar Craftbier-Flaschen herumlungern würden, voller Sehnsucht nach einem Speed-Opener und einem durstigen Ermittler wie mir. Auf einer Marmorablage über dem Induktionsherd stand eine einsame Flasche Absinth, mein Durstgefühl wurde stärker, direkt proportional zur abnehmenden Bereitschaft, mich konzentrieren zu müssen. Der gute alte Pernod starrte mich durchdringend an, und ich schaute schuldbewusst und kleinlaut zurück. Der grüne Stoff war nur wenige Armlängen von mir entfernt, und doch lagen mehrere Welten zwischen uns: beinahe das gesamte Spektrum der verwahrlosten Wohlstandsgesellschaft. Die an der Oberfläche so untadelig wirkte. Womit wir wieder hier wären: in dieser riesigen Penthouse-Wohnung mit viel Marmor und ohne einen einzigen Staubfussel.

Küppers stand in der Nähe des Eingangs und ließ mich ungerührt reden. Ich fragte ihn ein wenig aus, aber viel hatte der Mann in mittleren Vierzigern nicht zu erzählen. Oder er wollte es nicht. Jedenfalls schien er die verschwundenen Bewohner dieser Räumlichkeiten nur oberflächlich gekannt zu haben. Der Vater sei redselig gewesen, wie es wohl typisch für einen erfolgreichen Immobilienentwickler war. Die Mutter wirkte dagegen eher zurückgezogen und scheu, aber durchaus attraktiv, eine gebürtige Portugiesin, die in Lissabon, Frankfurt, Paris und Stanford/Kalifornien Medizin studiert hatte. Die beiden Kinder, adrett und hübsch anzusehen, waren ziemlich intelligent, wenngleich auf beinahe schamlose Weise verzogen.

Irgendwie schien Küppers angewiesen worden zu sein, mir wenig als ein paar Allgemeinplätze zu verraten. Er rührte sich kaum von der Stelle, zog nicht einmal die Augenbrauen hoch, machte nichts. Stand einfach da und musterte mich misstrauisch. Wie einen ungebetenen Staubsaugervertreter. Oder den Leichenbestatter, der sich in der Tür geirrt hatte. Diese Wohnung hatte 850 Quadratmeter. ACHTHUNDERTFÜNFZIG. Mein Loch in der Sterngasse hätte hier ungefähr zwanzig Mal hineingepasst, und es wären immer noch einige Quadratmeter für einen Hund oder die Hauskatze (ein Stich durchquerte wie ein Kondensstreifen meine Herzgegend) übriggeblieben.

Ich inspizierte die Zimmer, allesamt mit blütenweiß gestrichenen Wänden, jeder Menge Led-Spots an der Decke – und mit Möbeln vollgestellt, die eine durchgeknallte Innenarchitektin in jahrelanger Feldforschung ausgesucht hatte. Wörter wie „gediegen“, „distinguiert“ oder „zeitgemäß luxuriös“ flanierten in meinem limbischen System herum. Ich bekam Lust auf den nächsten Absinth, einen Joint, eine Leberkässemmel, auf irgendetwas, das im Kontrast zu dieser versammelten Pracht und Herrlichkeit stand.

Küppers folgte mir wie ein frustriertes Schoßhündchen, das ein Leckerli zu wenig bekommen hatte, beinahe winselnd. Irgendwie hatte ich Mitleid mit ihm. Er war ein Lakai wie er im Buche stand, und zwar in einem ziemlich seltsamen Buch. Jeder Raum wirkte, als stünde er seit Monaten leer. Trotzdem war kein einziger Staubkrümel, kein bisschen Lurch zu entdecken. Eine Putzbrigade vom Feinsten musste hier täglich ver-, oder nein: gekehrt haben. Irgendwie begann ich mich zu fragen, wo die Kohle für diesen übertriebenen Luxury Lifestyle herkam.

„Immobilienentwicklung“, krächzte Küppers mehrmals wie ein dementer Papagei und rieb seinen juckenden Rücken gegen den Türrahmen eines der Jugendzimmer. Ich öffnete einen riesigen Einbauschrank. Ballettkleider, spitze Tanzschuhe und sehr enge Tops. Die Tochter sei eine emsige Elevin an der Wiener Staatsoper gewesen. Ich hob den Kopf und musterte den Lakaien ohne Gesicht. Küppers kleinkariertes Hemd war scheußlich, die Jeans verbeult und sein Tweed-Sakko hatte schon glücklichere Schafe gesehen. Ein Bild minderen Jammers unter all dem sinnlosen Luxus. Ich hatte die Hälfte der Räume absolviert. Alle sahen gleich langweilig aus. Man musste schon schräg drauf sein, um in diesen aseptisch wirkenden Räumen überleben zu können. Die riesigen Flatscreens waren so groß wie Garagentore und ersetzten die kaum vorhandenen Bilder. Wenn es etwas Gerahmtes gab, waren es Auszeichnungen wie ‚Immobilienagentur des Jahres‘, ‚Gynäkologin des letzten Jahrzehnts‘, ‚bestes Abitur ever‘ oder ‚Schulprinzessin 2023‘, was auch schon ein paar Jahre her war.

Auf einem riesigen Marmortisch im oberen Stockwerk lagen vier Fotoaufnahmen. Küppers hatte sie aus undurchschaubaren Gründen hier im Esszimmer deponiert. Zwei Weinkühlschränke starrten mich feindselig an. In ihrem Inneren surrte eine perfekt eingestellte Klimaanlage. Bezeichnungen wie ‚Sassicaia‘, ‚Domain Drouhin‘ oder ‚Chateau Palmer‘ wucherten wie Blumen des Bösen in meinem Stammhirn. Jetzt einen fetten kalifornischen Chardonnay köpfen, in einen dieser riesigen Zalto-Kelche aus dem Designer-Glasschrank blubbern lassen, sich die obersten drei Hemdknöpfe aufmachen und die tödliche UV-Einstrahlung auf der geräumigen Dachterrasse genießen – bourgeoise Gelüste malträtierten meine Wahrnehmung. Küppers lächelte dazu wie der letzte Unterstufen-Idiot. Im Laufe unserer Hausbegehung war er immer schweigsamer geworden. Winselte etwas von seinem niedrigen Monatsgehalt. Und erinnerte mich an einen verlotterten Rauhaardackel aus dem nächstbesten Tierheim. Einen Augenblick befürchtete ich, als höbe er sein Bein und würde meine letzte gute Stoffhose ruinieren. Zu meinem Glück ließ er dieses Vorhaben bleiben.

Von dieser Dachterrasse aus gab es Blicke, die in einem Journal wie Besser Wohnen als ‚überwältigend‘ oder ‚atemberaubend‘ beschrieben wären. Einfach pittoresk. Postkartenverdächtig. Instagrammable jedenfalls. Der gotische Dom im Hintergrund glich verblüffend seinem Ebenbild auf dieser pinkfarbenen Haselnuss-Schnitten-Verpackung: eine markante schwarze Silhouette, die den ersten Bezirk wie eine dunkle Verheißung bedrohte. Der Anblick des mittelalterlichen Memento Mori bedrohte meine Sterblichkeit zu Beginn des dritten Jahrtausends. Ich zündete mir das nächste Zigarillo an und begann mich etwas wohler zu fühlen, nur ein Tumbler mit der grünen Fee und einigen Eiswürfeln darin fehlte.

Küppers wirkte immer abweisender, als befürchtete er, ich würde angesichts der eingekühlten Weinschätze länger verweilen wollen. Alle paar Sekunden blickte er auf seine billige Quarzuhr und ermahnte mich, die verdammten vier Fotografien auf dem Marmortisch mitzunehmen. Die Bilder des Vaters, der Mutter, des älteren Sohnes und der jüngeren Schwester. Adrette, strahlende Gesichter in einer keimfreien Umgebung. Alles in diesen Räumen war blankgescheuert wie ein Säuglingshintern. Makellos. Genau das war das verdammte Wort, nach dem ich gesucht hatte. MAKELLOS!!! In Großbuchstaben hin gekrakelt und mit drei Ausrufezeichen versehen.

Ich sackte die Bilder ein und ging mit Küppers nach unten. Ohne seinen Protest abzuwarten, langte ich nach der Absinthflasche über der Kochinsel und genehmigte mir im Vorübergehen ein paar tiefe Schlucke Pernod. Die grüne Fee jubilierte kurz in meiner Mundhöhle, dann war die Euphorie schon vorüber. Ich drückte das angerauchte Zigarillo in einem Abwasch so groß wie ein Kinderplanschbecken aus und begrub die zerquetschte Kippe unter dem Wasserstrahl einer vergoldeten Küchenarmatur. Bewegungen und Gesten, die Küppers als unangemessen empfand. Aber er hatte sowieso nichts zu reden. Kein Mitspracherecht, nicht die geringste Befugnis zur Einwandbehandlung. Er war ein kleiner Lakai und sonst gar nichts. Wahrscheinlich hatte ihn die Familie wie ein Haustier gehalten. Komplett mit Leine, Brustgeschirr und einem rosafarbenen Napf für das Trockenfutter.

Kurz bevor er mich rauswarf, durfte ich meine Fingerkuppen auf einer Festplatte für den digitalen Türöffner abspeichern lassen. Damit ich ab sofort die verdammte Wohnung ohne Küppers träge Anwesenheit betreten konnte. 850 Quadratmeter. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Mindestens fünfzehn Räume, sechs Schlafzimmer, ein echter Hammam und weitere Saunaanlagen in den beiden Türmchen auf der Dachterrasse, die von zahlreichen Denon-Möbeln, dem Napoleon-Grill in X-Large-Ausführung, einer perfekt bestückten Außen Bar und einem guten Dutzend Stechpalmen vollgestellt war. In den Wohnsalons standen fette Lederfauteuils auf massiven Stahlrahmen herum, und ein Korridor beinahe so breit wie die Ringstraße führte zu Luxusküchen und Badezimmer, die der Innenarchitekt des russischen Diktators auch nicht geschmackloser hätte ausstatten können.

Im Aufzug Richtung Alltagselend hinunter fragte ich mich, wie man in dieser Luxuswelt überleben konnte. Ich hatte mich in diesem Dachausbau dort oben nach nicht einmal zwanzig Sekunden wie lebendig begraben gefühlt, mit einem Zettel am großen Zeh, meinem besten Anzug um den verwesenden Leib, eine blasse Leiche, wie man sie sich trostloser kaum ausdenken konnte. Immerhin hatte Küppers meine Fingerkuppen erfolgreich auf dem dafür zuständigen Server gespeichert. Ich drückte die rechte Zeigefingerspitze gegen das Lesegerät, irgendein digitaler Scheiß summte kurz auf, und eine riesige Glas-und-Stahl-Türe entließ mich wie einen elenden Hausierer ins Freie.

*

Eine halbe Stunde später saß ich in der Loos, in diesem Verschlag gleich vorne links neben dem Eingang, und nippte an meinem Absinth Sour mit Eiweiß, das schleimige Grün sah zwischen den Hoshizaki-Eiswürfeln richtig anziehend aus. Auf dem wackligen Hochtisch hatte ich die vier Fotografien ausgebreitet, als wollte ich mir selbst mit ein paar Tarotkarten die Zukunft prophezeien. Dabei ging es eher um die Vergangenheit dieser vier verschwundenen Leute. Warum sie sich über Nacht davongemacht hatten und warum es kein Lebenszeichen mehr von ihnen gab? Ob das Verschwinden aus freien Stücken passiert oder erzwungen war, und wenn letzteres stimmte, wodurch und von wem?

Der Absinth Sour roch ein wenig nach Grab, nach nassem Erdhügel oder welkem Laub, das im Herbst auf den teuren Marmor von Prominentengräbern in einem der nobleren Wiener Friedhöfe fiel. Ich unterdrückte dieses melancholische Gefühl der Vergänglichkeit und vergeudete mehrere Blicke durch das Fenster hinaus an Passanten, die vor der Loos vorüberstrichen wie Tote auf Pauschalurlaub. Männer und Frauen, Fremde und Einheimische, manchmal überraschend gut, die meisten aber nichtssagend gekleidet. Einige Male erkannte ich Leute, mit denen ich etwas gehabt hatte: die Frauen sahen ostentativ weg oder spielten nervös an ihren Handys herum, aber die Männer blickten zurück und schienen sich zu fragen, ob sie tatsächlich mit diesem schrägen Absinth-Konsumenten in einer Sauna gewesen waren und ob sie dieses Erlebnis nicht wiederholen sollten – wenn, dann sicher nicht mehr mit diesem heruntergekommenen Typen in der Loos-Auslage, der mit verkatertem Gesicht, grauen Bartstoppeln und Waschbär-Rändern unter den entzündeten Augen den nächsten Absinth Sour bestellte, während das verdammte Leben an ihm vorüberfloß wie ausgeschüttete Milch.

Eines von diesen Gelegenheitsgespenstern legte mir sogar seine Visitenkarte auf den Tisch, mit unkenntlich gemachter Firmennummer und darüber geschmierten Zahlen, die auf ein Wertkartenhandy hinwiesen, wohl jenes, das unablässig in seiner Sakkojacke summte, nervös und gefährlich, wie die Begegnungen da draußen auf den Schlachtfeldern des Begehrens so waren. Ich hatte zwar ausreichend Sex, aber viel zu oft mit den falschen Leuten. Diesen toxischen Typen der Nacht, die sich im Morgengrauen des nächsten Tages in harmlose Buchhalter, biedere Busfahrer oder Familienväter auf Abwegen verwandelten, die geleaste Mittelklassewägen fuhren, in freudlosen Supermärkten Rabattmarken einlösten, unaufhörlich Lotto spielten und zuhause in Ruderleibchen und ausgebeulten Shorts Andreas Gaballier hörten. Nackt, mit jeder Menge Poppers in den Nasenlöchern und in Begleitung der eigenen Geilheit waren sie in gewissen Dampfkabinen und Dunkelkammern durchaus begehrenswert gewesen, auf jeden Fall hatten sie mir ihren behaarten Arsch hingehalten und das bekommen, wonach sie hinter ihrer kleinbürgerlichen Fassade tatsächlich gierten, aber jetzt vor der Loos sahen sie wieder hilflos und kläglich aus, wie quengelnde Kleinkinder, die heimlich ihren nervösen Eltern entwischt waren – womit mein Blick wieder auf das Foto des gutaussehenden Mannes in den frühen fünfziger Jahren zurückgekehrt war: das verschwundene Familienoberhaupt. Längere hellbraune Haare, die wie Spaghetti-Fäden Richtung Schultern flossen, im Stil jenes griesgrämigen österreichischen Autors, der auch schon auf die Achtzig zuging und mittlerweile den Literaturnobelpreis eingesackt hatte. Ich konnte mich erinnern, in der Unterstufe mit dessen früheren Werken traktiert worden zu sein. Von einem Gymnasiallehrer mit Schnauz und längeren Haaren, der sich ebenfalls für einen Dichter gehalten hatte, allerdings dann doch nur der Autor von zwei dünnen Lyrikbänden im Selbstverlag geworden war.

Ich schlürfte am algengrünen Alkoholschleim – der gute alte Pernod schmeckte in jedem Drink zu jeder Tageszeit und in jeder erdenklichen psychischen Verfassung. Ich warf einen neuerlichen Blick auf das Foto: dieser Immobilienmensch mit dem Peter-Handke-Haircut war sportlich, keine Frage. Seine Haut glatt und dunkel gebräunt, wie die jener Tennislehrer, auf die ich schon als Junge in den frühen neunziger Jahren abgefahren war: braune Haut, kurze weiße Shorts, enganliegende Polos, ebenfalls in der verdammten Farbe der Unschuld. Die Härchen auf dem Armrücken waren von zahlreichen Einzelstunden unter einer gnadenlosen Sommersonne gülden gefärbt und die strammen, muskulösen Beine gerade richtig behaart. Die drei eingesteckten Tennisbälle in der rechten Shorttasche erinnerten mich ständig an den Drang, hinter irgendwelchen Plakatwänden oder blickdichtem Buschwerk onanieren zu müssen, meine vierzehnjährige Imaginationskraft verwandelte die Beule dieser drei gelben Bälle in einen fleischgewordenen Zauberstab, der quer in den Shorts lag und mir den versauten Himmel auf Erden versprach, zumindest solange ich hinter der blöden Plakatwand wichste und mein pubertäres Gehirn genauso kläglich wie das vergossene Sperma im einsetzenden Regen zu verfließen begann.

Keine Frage, dieser Mann auf dem Foto war begehrenswert, und er wusste das selbst nur allzu genau. Sein Lächeln war anzüglich, aber nicht vulgär, sondern strahlte eher eine erotische Selbstbezogenheit aus. Ein distinguierter Mann, in weißes Leinen gehüllt. Das Foto musste im letzten Sommer aufgenommen worden sein, auf der riesigen Terrasse jener Wohnung, die ich vor ein paar Stunden aufgesucht hatte. Auf dem Beistelltisch eine Ausgabe der Zürcher Tageszeitung und ein Tumbler mit irgendwas Bernsteinfarbenen darin, im Hintergrund der Stephansdom wie ein in den Himmel ragender Fluch. Der Mann lächelte sehr entspannt in die Kamera und hatte wohl allen Grund dazu. Seine Bankkonten waren gut gefüllt, die Blutwerte schienen perfekt zu sein, und unten in der Garage parkten Ferraris und Porsches unter seinem dreckigen Namen. Auf dem Foto schien alles so wunderbar in Ordnung zu sein, ich hätte vor Bewunderung loskotzen können. Weil mich der Typ so entspannt vom Foto herunter anmachte oder da draußen hinter der Loos-Scheibe die nächsten Schatten schlecht verdrängter Vergangenheit vorüberstrichen, wie verlorene Gespenster, die sich im Horrorfilm geirrt hatten.

Ich nippte an meinem Absinth, drehte das Foto mit dem entspannten Immobilienhelden um und konzentrierte mich auf seine Gattin, eine adrette Frau in den späten Vierzigern, hübsches Gesicht, pechschwarze Haare, einen weichen, üppigen Mund, sehr bestimmte Gesichtszüge. Diese Frau wusste genau, was sie wollte – mehr vom Leben. Mehr vom Geld. Mehr von allem, meiner Meinung nach. Dem Grübchen am Kinn zufolge musste sie ehrgeizig sein, vielleicht auch mit einem Hang zur Hysterie ausgestattet, wenn irgendeine Erwartung genauso kläglich ins Wasser geplumpst war wie dieser peinliche Onkel, der sich auf allen Familienfesten betrank und oft genug von der Feuerwehr aus dem Dorfteich gefischt werden musste, einen halben Augenblick, bevor er zur Wasserleiche mutierte. Wahrscheinlich besaß die Medizinerin auch eine Extraportion Humor, jedenfalls hatte sie mit Sicherheit eine genaue Vorstellung davon, wie die Welt da draußen funktionieren musste: nach ihrem Willen, ihrem Ehrgeiz, ihrem hohen Anspruch vor sich und den anderen acht Milliarden Menschen.

Nach außen eher zurückhaltend, war sie vielleicht von ganz unten gekommen und hatte inzwischen den Zenit der bürgerlichen Existenz erreicht, als erfolgreiche Gynäkologin und zweifache Mutter, Auszeichnungen hier, Auszeichnungen dort, Ehrendoktorat und jede Menge beeindruckender Boni inklusive. Ich hatte die gerahmten Urkunden in dieser riesigen Wohnung gesehen, Ärztin des Jahres, Gynäkologin des Jahrzehnts und so weiter. Dass sie niemals freiwillig auf dieses Leben verzichten würde, war so klar wie sechs Richtige im Lotto. Die gebürtige Portugiesin wollte alles vom Leben, die gesamte Torte mit sämtlichen Kirschen darauf – warum sollte ausgerechnet sie aus diesem makellosen Leben verschwinden?

Da war es wieder, dieses Wort „makellos“, das mich schon bei der Wohnungsbesichtigung heimgesucht hatte. Makellose Einrichtung, makelloser Glanz, makellose Sauberkeit, makellos war dort alles gewesen, bis auf Küppers und mir.

Nach weiteren motivierenden Schlucken vom algengrünen Absinth-Drink sah ich mir die beiden Fotos vom Nachwuchs an, des älteren Sohnes und der jüngeren Tochter. Beide trugen langweilige Markenpolos und Jeans aus dem hochpreisigen Segment, Etro-Hemden und Hackett-Chinos, Leinenschuhe von Logan, und das Mädchen Hollister-Jeans und eine Jacke von Johnny Choo, falls meine Absinth-trüben Augen nicht trogen. Das typische Outfit von Leuten, mit denen es das sogenannte Schicksal mehr als gut meinte.

Der Sohn war zwar kein Junge mehr, aber ebenso wenig bereits ein richtiger Mann: glatte dunkelbraune Haare, penibel geschoren, zurecht gezupfte Augenbrauen, strahlend graue Augen über einen weichen, wie in einem Aquarell dahinfließenden Mund, dazu ein ironisches Lächeln in den Mundwinkeln als kleine sinnliche Draufgabe. Genauso hübsch wie durchtrieben. Irgendwie kam mir dieser Bengel sogar peripher bekannt vor, ich wusste nur nicht woher und weshalb. Vielleicht modelte er für irgendwelche Scheinmarken oder er war als blasierter Prinz in den ‚Seitenblicken‘ nach der ‚Zeit im Bild‘ aufgetreten, wo gelangweilte Millionärskinder auf bescheuerten Cocktailpartys peinliche Statements zu ihrem sorgenfreien Dasein abgaben. Wie auch immer, dieser junge Mann war wohlerzogen, gebildet, von seiner Umgebung hofiert, vielleicht auch bewundert oder beneidet. Das knappe ironische Lächeln hatte er sich von seinem Dad abgeschaut – schließlich musste er seinen beruflich mehr als erfolgreichen Erzeuger bewundern. Derselbe feste Blick in die Kamera, dasselbe anzügliche Lächeln, derselbe langweilige Style, dieselbe Langeweile, die alle vier Fotos wie eine verdammte Aureole umgab.

Die jüngere Tochter wirkte genauso distanziert – etwas kindlicher noch, weil sie erst 18 Jahre alt war. Trotzdem schien sie genau wissen, aus welch edlem Stall sie kam und wie hoch ihr Marktwert an der Stock Exchange des täglichen Begehrens sein musste – eine high performende Aktie mit fiebrigen Erfolgskurven nach oben. Eine Ballettelevin im Korps der Wiener Staatsoper, Vorzugsschülerin an einer dieser Eliteschulen namens Sacré Coeur, Theresianum oder Montessori Superior plus – egal wie skeptisch ich diese vier Fotos auf diesem wackligen Hochtisch in der Loos betrachtete, niemand aus dieser Familie wollte freiwillig die eigene Existenz aufgeben: alle vier Personen waren genauso makellos und gediegen wie ihre riesige Dachgeschosswohnung im ersten Bezirk, eine 850 Quadratmeter große Erfolgslandschaft aus schwerem Marmor, blank gescheuerten Böden und dutzenden Sitzgruppen in mindestens Fifty Shades of Grey. So makellos, dass es meinen Augen weh getan hatte. So gediegen und unangreifbar, dass man hinterher gern wieder abhauen wollte. In eine schwule Sauna, ein versifftes Bahnhofsklo oder einen schummrigen Darkroom, wo unsichtbare Münder und Schwänze wie Schlingpflanzen in einem Dorfteich wucherten. Ich packte die Fotos in einen Umschlag und fragte mich nochmals, warum zum Henker diese perfekte Familie verschwunden war. Ohne die geringste Spur hinterlassen zu haben. Eine Luxusentität, die gar nicht untergehen konnte. Wie dieser Dampfer vor mehr als 120 Jahren, der als unsinkbar gegolten hatte und dennoch an einem Eisberg zerschellt war. Ich musste herausfinden, wo es solche Eisberge gab. Zumindest hatte ich dies dem Bankier mit der jugendlich klingenden Stimme versprochen.

*

Ich traf meine Ex-Frau an einem neutralen Ort in der Nähe ihrer esoterischen Buchhandlung. Da Agnes wusste, dass ich mit ihrem ganzheitlichen Wahnsinn nichts anfangen konnte, zogen wir unser Date in einer leicht heruntergekommenen Bar in der Nachbarschaft durch. Wir saßen an einem wackligen Tisch am Fenster, sie nippte an einem Wellness-Smoothie herum, und ich leerte routiniert den dritten Pernod Absinth. Es mochte später Vormittag sein. Jedenfalls war hoch über uns eine im Dunst verfließende Sonne zu sehen. Im Wandspiegel über der Back-Bar waren Agnes und ich als ungleiches Paar zu erkennen, das sich zwischen einem Wellness-Smoothie und dem nächsten Absinth durch die elfte oder zwölfte Stunde des Tages stritt. Warum sie ausgerechnet mit einem flämischen Hellseher aus dem 18. Jahrhundert spirituellen Kontakt halten musste, einem gewissen Zacharias Brueghel, der die meiste Zeit seines Lebens in einem Sauerkrautfass verbracht und dort vor sich hin meditiert hatte. Meine esoterische Ex konterte mit peinlichen Fragen zu meinem Privatleben zwischen einem aus dem Ruder gelaufenen Absinthkonsum und heimlich verbrachten Nächten an den gewissen Orten sexueller Befreiung.

Immerhin: seit ich die offenen Rechnungen bezahlt hatte, war Agnes etwas freundlicher zu mir und verzichtete auf ihre giftigen Anspielungen aus dem Hinterhalt. Wenn man von ihrer Neugier absah, woher zum Teufel ich das ganze Geld hatte. Ich kam mir vor wie ein Kind, das gerade ein paar Kekse aus der Vorratsdose geklaut hatte, wurde rot im Gesicht und versuchte mich zunächst an halbseidenen Ausreden, um dann doch mit der sogenannten Wahrheit herauszurücken: dem Auftrag eines geheimnisvollen Bankiers, der die verschwundene Familie seines einzigen Sohnes suchte, bisher vergeblich, daher auch der hohe Vorschuss. Es klang trotzdem unglaublich. Wie im Absinth-Rausch erfunden.

Agnes runzelte ihre hohe Stirn und sah mir ganz direkt in die Augen. Versuchte ein paar Reste zerrüttetes Vertrauen aufzubauen und erntete doch nur Mitleid. Sie wurde immer dicker, warum wusste ich auch nicht. Aus dem fröhlichen Gesicht von früher war eine verhärmte Maske geworden, die früher wohlgeformte Brust hatte sich in einen unansehnlichen Hängebusen verwandelt und der Arsch erinnerte mich an ausrangierte Whiskyfässer einer schottischen Brennerei – ich wusste, ich jetzt alles andere als fair, aber schließlich nannte sie mich auch einen heruntergekommenen Versager, der in anderer Leute Unterwäsche herumschnüffeln musste, um sich irgendwie über Wasser zu halten: in seiner 40-Quadratmeter-kleinen-Müllhalde, die mit hunderten geleerten Absinth Flaschen vollgeräumt war und ein ideales Biotop für Kakerlaken darstellte. Kein Zweifel – das war meine Wohnung. Wenig mehr als ein Nachtasyl für besonders traurige Gestalten.

„Immerhin im ersten Bezirk,“ wandte ich ein, „Sterngasse 4, eine noble Adresse, und anstelle der schäbigen Änderungsschneiderei wird bald eine schicke Vinothek einziehen.“

Keine Ahnung, warum ich das gesagt hatte. Vielleicht um nicht ganz so heruntergekommen zu wirken. Der riesige Spiegel über der Back-Bar schien sich auf seine Weise über das ältere Ehepaar lustig zu machen: die Glaskarikatur einer esoterisch angehauchten Frau in den Wechseljahren und des Privatdetektivs im ausgeleierten anthrazitgrauen Anzug. Zerknittertes Hemd, zerfurchtes Gesicht, vier Tage alte Bartstoppeln, Absinth-Fahne. Ich sah aus wie der Oberkellner in einem Nachkriegs-Jazzklub gegen vier Uhr morgens. Keine Gäste mehr im Lokal, nur ein Haufen überquellender Aschenbecher neben einem liegengelassenen Saxofon. Und Joe Zawinul hatte Wien auch schon Richtung Manhattan verlassen.

Ich ließ meine Exfrau reden, weil ich noch etwas brauchte von ihr. Geld war es nicht, seitdem der Bankier mit der Anzahlung herausgerückt war. Zwanzigtausend, einfach so, ohne Beleg. Ohne Vorleistung. Ohne irgendwas. Dieser lebende Geldschrank musste verrückt geworden sein. Oder sein Schotter war so geheim wie verboten. In weitem Bogen am Fiskus vorbei manövriert. Was mir so egal konnte wie alkoholfreies Bier. Hauptsache, ich konnte die ausstehenden Rechnungen bezahlen und mir den Gerichtsvollzieher vom Leib halten. Vorläufig wenigstens. Ich bekam Lust, mir einen ordentlichen Ofen zu bauen. Hier in der Bar ging das nicht. Vielleicht später in meinem Toyota. Manchmal brauchte ich einen Joint, eine schnelle Tablette oder eines dieser kleinen Riechfläschchen. Letztere bekam ich in gewissen Saunen oder in einem ordentlichen Sexshop, in dem es nach Sperma, Hochleistungssex und räudigen Gedanken roch. Ich fessle dich an die Heizung, du Sau, und bewerfe dich mit Biotomaten. Wenn du dabei nicht hemmungslos stöhnst, pisse ich dir zur Strafe direkt ins Maul.

Ich schweifte vom Thema ab. Bestellte den vierten Absinth. Wartete das Ende von Agnes Fragestunde ab. Und kniff unmittelbar danach die Augen zusammen.

„Du kennst doch diesen Kurt,“ fragte ich meine Ex.
„Welchen Kurt?“
„Diesen neunmalklugen Spießer aus dem Juridicum oder wie dieser Knast für angehende Rechtsverdreher heißt.“
„Das ist einer meiner besten Freunde. Ein talentierter Wünschelrutengänger und Bienenzüchter. Und außerdem direkter Nachfahre von Zarachias dem Hellseher. Ebenfalls Flame. Und Gewinner der Goldenen Wabe für seinen Akazien-Waldblütenhonig.“

Ich gähnte. Es gab entschieden geilere Hobbys als Wasseradern aufzuspüren, wehrlosen Insekten den Honig zu stehlen oder der Nachfahre eines Hellsehers im Sauerkrautfass aus dem 18. Jahrhundert zu sein. Wie auch immer. Dieser Kurt war Lektor an der juridischen Fakultät, und genau deshalb brauchte ich eine Auskunft von ihm.

„Wann wirst du endlich Philip im Stadthallenbad besuchen?“, zischte Agnes und rührte in ihrer riesigen Handtasche herum, auf der Suche nach einem Smartphone oder nach der verloren gegangenen besseren Welt, „der Junge fragt die ganze Zeit nach dir. Er ist in dem Alter, wo er seinen Vater braucht. Auf der anderen Seite…““
„…Ja…?“
„… eignest du dich kaum als Familienoberhaupt. Eher… als…“ und dann kam wieder ihr Rap von einem Mann, der nicht erwachsen werden wollte, obwohl er schon Mitte 50 und mehr vom Tod als vom Leben gezeichnet war. Okay, ich hatte mich seit Tagen nicht mehr rasiert, roch nach destilliertem Wermutkraut und hatte nicht die ruhigste Hand. Dennoch war und blieb ich Phillips Vater. Ich dachte an den schlaksigen Jungen, einen Meter achtzig groß, dünn, aber definiert, weil er seit seinem achten Lebensjahr Schwimmen als Leistungssportart betrieb. Mittlerweile war er mehrfacher österreichischer Schüler- und Jugendmeister geworden. Soweit ich mich erinnerte, gab es in seinem Zimmer jede Menge Pokale, und über dem kleinen Schreibtisch neben dem Bett waren ein paar Zeiten auf einer Schiefertafel notiert: 49,45 – 46,86 – 56,88. Die Weltrekorde über 100 m Delfin, Kraul und Brust auf der Langbahn. Ich kannte kaum einen Burschen, der zielstrebiger als Phil war. Aber was zum Teufel hatte ich schon mit den jungen Leuten am Hut, ich wusste nicht einmal über die Schulfreunde des eigenen Sohnes Bescheid. Philipp hätte sich mit dem größten Abschaum abgeben können, und ich bekäme nichts davon mit. Akribisch malte Agnes einige Zahlen auf eine Papierserviette und schob mir Kurts Handynummer herüber.

„Frag ihm aber nicht zu viele Löcher in den Bauch.“
„In Ordnung.“
„Und besuche Philipp demnächst in der Schwimmhalle. Montags bis freitags, 14 bis 19 Uhr.“ Es klang nach den Öffnungszeiten einer Arztpraxis oder eines forensischen Zentrums für die etwas außergewöhnlichen Fälle.

„Lass dich bei Gelegenheit einmal von einem Arzt untersuchen. Du siehst irgendwie verbraucht aus.“

Die letzten beiden Sätze überhörte ich. Bedankte mich artig für die Handynummer des Lektors. Und nahm mir ernsthaft vor, bei Philipp im Stadthallenbad aufzukreuzen. Im 15. Bezirk, neben dem März-Park. Im Schatten dieser stalinistisch aussehenden Konzerthalle. Eine absolute Einöde aus Beton und Asphalt. Philipp fuhr stets mit dem Rad dorthin. Bei jedem Wetter, sogar im Winter, wenn die Straßen von ein paar Zentimetern Neuschnee bedeckt waren. Wie alt war der Junge jetzt wirklich? Fünfzehn, sechzehn, sechzehn ein halb? So um den Dreh herum. Langsam, aber sicher wurde aus dem unscheinbaren Jungen ein richtiger Mann. Ein gutaussehender noch dazu. Definierte Brust. Lange Beine. Leuchtende helle Augen. Breiter Mund. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mir zu den vagen Bildern in meinem Kopf einen runtergeholt.

*

Eine Stunde später traf ich Kurt in seinem Büro im Juridicum. Abteilung Strafrecht, irgendwo oben im dritten Stock. Der typische Paragrafen-Nerd mit Hornbrille und dem bohrenden Blick dahinter. Wehe, man konnte die bizarren Musterfälle in seinen Seminaren nicht exakt nach den einzelnen Vergehen sortieren. Ein Mann überfährt im Vollrausch eine schwangere Frau mit einem Kind an der Hand, steigt aus und ersticht einen zufällig vorbeikommenden Passanten. Bevor er aus der Tasche seiner Opfer alle Kreditkarten entnimmt und im Darknet dafür Drogen um 5.000 Euro ersteht. Analysen Sie die begangenen Verbrechen nach Schwere und Vorsatz.

Du meine Güte. Ich saß auf einem abgewetzten Stuhl diesem Dr. Kurt Vanderbilt gegenüber und fragte ihn nach einem gewissen Manuel. Manuel Schwartz. S wie in Spritzen, C wie in Chems, H wie in Heroin und so weiter. Jeder zweite Name konnte als Drogencocktail buchstabiert werden.

Kurt starrte mich an. Musterte mich wie einen demenzkranken Opa, der sich wieder einmal danebenbenommen hatte und nach der angerichteten Bescherung wie ein kleines Kind heulte.

„Er ist der talentierteste Student seines Jahrgangs,“ unterbrach Kurt meine Buchstabierversuche, „und kommt aus bestem Haus. Hat hervorragende Manieren. Sieht außergewöhnlich gut aus. Er verfügt über hohe Intelligenz, gepaart mit Charme und einem untrüglichen Gespür für bestes Ausdrucksvermögen.“

Es klang nach Mister Superman aller Klassen. Schön, edel, hilfreich und gut. Wie in einer Ballade aus der Weimarer Klassik. Kurt rief Manuels Noten vom Universitätsserver ab und las mir die Prüfungsergebnisse beinahe ehrfürchtig vor – als ob er den Teufel persönlich anbeten wollte. Lauter Einser natürlich. Nur einmal eine Zwei im römischen Recht. Was immer das war.

Laut Dr. Kurt Vanderbilt, einem gebürtigen Holländer, konnte Manuel Schwartz auch wunderbar argumentieren. Selbst in heiklen Fällen den eigenen Standpunkt vertreten. Mit dieser sympathischen Beharrlichkeit und seinem Durchsetzungsvermögen. Stets mit einem gewinnenden Lächeln auf dem Gesicht. Und dann diese schimmernden Augen – ich fragte mich, ob Kurt nicht in den verschwundenen Prinzen verliebt war. Noch ein paar Minuten Bewunderungsrap, und wir konnten uns gemeinsam einen absäbeln. Innerhalb von fünf Minuten wurde auch einem Dummy wie mir klar, dass Manuel ein Ausnahmestudent sein musste: hochintelligent, hervorragend gebildet, unterwegs zur Sub auspiciis-Auszeichnung und anderen akademischen Weihen. Ich unterdrückte ein Gähnen. Akademische Auszeichnungen waren mir so egal wie ein Furunkel am Hintern.

„Manuels Freundin“, fügte Dr. Kurt Vanderbilt mit einem so anzüglichen wie ironischen Lächeln hinzu, „ist aus demselben Holz geschnitzt: ein ebenso reizendes Mädchen.“

Das interessierte mich wieder. Nicht gerade brennend, aber ich fragte mich schon, woher zum Teufel dieser Lektor für Strafrecht und anderen Paragraphenkram wusste, mit welchen Mädels seine besten Studenten ausgingen.

„Sie hat öfters vor dem Seminarraum auf ihn gewartet. Ich glaube, sie besucht gerade den Maturajahrgang. Und tanzt nebenher im Nachwuchsballett der Wiener Staatsoper.“

„Wiederholen Sie das noch einmal, Kurt“ bat ich den Strafrechtsexperten und überlegte, ob ich ihm nicht das Deckblatt einer Masterarbeit und einen Kugelschreiber klauen sollte, um die neuesten Entwicklungen in dieser Angelegenheit festzuhalten, „Manuels Freundin tanzt tatsächlich im Korps des verdammten Staatsopernballetts?“
„Allerdings,“ bestätigte Kurt. Dieses ‚Allerdings‘ war eines seiner Lieblingswörter, neben ‚Ausnahmestudent‘, ‚charmant‘ und ‚hochintelligent‘ – zumindest, was unseren verschwundenen Manuel betraf.
„Seit sechs Wochen habe ich nichts mehr von ihm gehört,“ wiederholte der Lektor traurig und putzte dabei seine Nickelbrille, „es muss etwas Schlimmes passiert sein. Deswegen sind Sie hier, habe ich Recht?“
Natürlich hatte er das. Die Vermisstenanzeige vergilbte in den Polizeiakten, die internationale Fahndung hatte bisher nicht einmal Anhaltspunkte geliefert und die Behörden traten auf der Stelle herum wie ein älterer Herr, der dringend aufs Klo musste. Ich zuckte mit den Achseln und murmelte etwas von einem kurzfristig erteilten Auftrag. Von einem Bankier aus Frankfurt am Main, angeblich dem Großvater des abgängigen Studenten. Die ganze Familie war weg, einfach weg.

„Ist das schon früher einmal vorgekommen?“, fragte ich in die sich aufbauende Stille hinein. In unser gemeinsames Schweigen. Der Bundespräsident sah uns beiden von der Wand herab zu, würdig und nachsichtig, edel und gut, was im Augenblick nicht besonders hilfreich war. Aber es war nur ein Bild. Ein nicht besonders vorteilhaftes dazu. Wie die meisten offiziellen Bilder das Gegenteil von vorteilhaft waren. Genau deswegen waren sie offiziell.

„Was meinen Sie damit?“
„Ob Manuel hin und wieder weggeblieben ist? Ist doch eine sehr einfache Frage.“
„Ja, aber das hatte medizinische Gründe.“
„Was meinen Sie damit, Kurt?“
Dr. Vanderbilt sah sich im Raum um, als befürchtete er, jemand hätte hier über Nacht ein paar fette Abhörwanzen installiert.
„Ich glaube nicht, dass ich es Ihnen sagen darf. Es könnte gegen die Datenschutzverordnung, das Persönlichkeitsrecht und gegen noch mehrere andere Verordnungen verstoßen.“
„Verraten Sie es mir trotzdem,“ ermunterte ich Dr. Kurt Vanderbilt und zwinkerte dem Bundespräsidentenbild zu, warum wusste ich auch nicht. Irgendwie hatte ich Lust auf einen Drink, einen Espresso, einen Pernod, von mir aus auch einen Humpen Leitungswasser, aber Kurt kam gar nicht auf die Idee mir etwas anzubieten, so vergeistigt und von tausenden Paragrafen besessen, wie er war. Immerhin beugte er sich etwas nach vor, senkte dabei seinen Kopf und murmelte dabei ungefähr folgenden Text: „Manuel leidet an einer seltenen genetischen Krankheit. Sein Körper produziert ein Enzym zum Abbau von Fettsäuren nur auf äußerst geringem Niveau. Deshalb muss er strenge Diät halten und darf sich weder Hitze noch Kälte allzu lange aussetzen. In Grippezeiten wird es besonders schlimm, wenn der Körper erhöhte Energiezufuhr benötigt – dann besteht akute Unterzuckerungsgefahr, es kommt zu Ohnmachtsanfällen, unter Umständen auch zu einer Leberentzündung. Es konnte durchaus passieren, dass Manuel einige Zeit wegblieb.“
„Weshalb Sie nach Ostern noch keinen besonderen Verdacht schöpften?“
„Ganz recht, ich dachte, er würde wieder seine Traubenzucker- oder Insulin-Infusionen bekommen und sich die eine oder andere Woche Schonung auferlegen. Das war schon früher vorgekommen, aber…“
„…nicht so lange wie bisher.“
„Und ohne ein klärendes E-Mail, eine kurze SMS, irgendeine Form der Benachrichtigung. Unentschuldigtes Fernbleiben passt gar nicht zu ihm. Er hat sich immer sehr um sein Fortkommen an der Uni gekümmert. Nur wenn er krank war, wurde er äußerst lethargisch. Vor etwa drei Wochen habe ich mit ihm Kontakt aufzunehmen versucht.“
„Hat er irgendwie reagiert?“
„Nein.“
„Und was haben Sie gemacht? Einfach zugewartet?“
„Ich habe seinen Status für dieses Semester auf „ruhend“ gestellt. Da passiert nichts. Außer dass die Zeit verrinnt. Aber er versäumt keine Fristen und kann nach seiner Rückkehr problemlos weiterstudieren. Als ob nichts gewesen wäre.“

Aus Kurts schmalen Mund kam das alles sehr großzügig daher. Sein Entgegenkommen Manuel Schwartz gegenüber musste grenzenlos sein. Ich starrte einen Stoß Aktenordner an und bekam Lust auf ein Gläschen Pernod, wahrscheinlich weil alle Ordner denselben giftgrünen Umschlag aufwiesen.

„Wie Manuels Krankheit genau heißt, wissen Sie nicht?“

Keine Ahnung, warum ich diese Frage gestellt hatte. Weder Kurt noch ich waren Ärzte, selbst wenn er mir irgendein medizinisches Kürzel verraten hätte, wäre ich genauso schlau wie zuvor gewesen. Aber irgendwie lechzten wir beide nach der Gewissheit einer Antwort, und wenn sie noch so unverständlich daherkam.

„Ich fürchte nein, aber sie ist meines Wissens bereits in Manuels Kindheit festgestellt worden. Als er wegen Muskelkrämpfen mit dem Geigenspiel aufhören musste. Und er die erste Leberentzündung bekam.“
„Ist die Krankheit überhaupt heilbar?“
„Nein. Manuel wird sein Leben lang Diät halten müssen. Äußerst fettarm und kohlenhydratreich. Bei ernsthaften Infektionen kann es richtig schlimm werden. Möglicherweise wird er nicht einmal das 45. oder 50. Lebensjahr erreichen.“

Dr. Kurt Vanderbilt schluckte und strich sich mit dem Handrücken über das Vollbartgesicht. Schien ein paar Tränen vergießen zu müssen und wollte das natürlich verbergen. Männer weinten nicht so gern vor anderen Männern. Vor allem wenn es um einen dritten jungen Mann ging. So war das männliche Leben, das Leben von Eroberern, Feldherrn und Kriegern. Auch wenn Dr. Kurt Vanderbilt nur ein Lektor für Strafrecht und ich ein schmieriger Privatdetektiv war. Trotzdem. Im Grunde blieben wir alle Söldner unter der Fuchtel des einen Begehrens.

„Manchmal hat Manuel im Park hinter der Börse einigen Kindern Märchen vorgelesen. Sie saßen alle im Halbkreis um ihn und hörten seinen Geschichten andächtig zu. Manuel gefiel es sehr, dass die Kinder so mucksmäuschenstill und aufmerksam waren. Ich glaube, er malte sich aus, dass die zuhörenden Kleinen seine eigenen Kinder wären. Weil er spürte, selbst nie welche haben zu können.“
„Sie wissen aber ziemlich viel über diesen einen Studenten,“ unterbrach ich den Redefluss des Strafrechtsexperten. Griff in meine Sakkotasche, holte den Flachmann heraus und gönnte mir einen tiefen Schluck Absinth. So ein Pernod am frühen Nachmittag konnte Wunder bewirken. Oder zumindest das leichte Zittern der rechten Hand unterdrücken.
„Er hat sich mir manchmal anvertraut,“ kramte Kurt in einem unsichtbaren Topf mit der Aufschrift ‚Ausreden aller Art‘ herum. Der in die Jahre gekommene Lektor stand auf Manuel, das war so klar wie draußen die Sonne vom Himmel herunterkotzte. Vielleicht handelte es sich auch nur um eine Brise pädagogischen Eros oder platonisches Herumtun zwischen Sokrates und Kierkegaard, also schön sublim und hinter hehren Worten versteckt. Wenig Leib, dafür umso mehr Seele. Ein bisschen katholisch kam mir der verkappte Pater des Strafrechts ohnehin vor. Wahrscheinlich ging auch er manchmal in gewisse Saunen und frönte dort der einen oder anderen lässlichen Sünde. Was mich so wenig anging wie ein nepalesischer Sherpa in Halbschuhen. Ich steckte den Flachmann wieder ein und stand auf, weil ich das Gefühl hatte, genug erfahren zu haben. Dr. Kurt Vanderbilt sah mich beinahe erschrocken an.

„Ich frage mich immer wieder, was mit Manuel passiert ist,“ flüsterte der Lektor kaum hörbar in die unangenehm gewordene Stille hinein, „er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.“

Womit er nach Newton, Einstein und Max Planck nicht ganz unrecht hatte, bei letzterem wäre ich mir allerdings gar nicht so sicher. Gemeinsam mit Manuel war auch der Rest dieser noblen Familie verschwunden. Der Immobilienvater. Die Gynäkologen-Mutter. Und die jüngere Schwester, die kurz vor der Matura stand und gleichzeitig Elevin im Ballettkorps der Wiener Staatsoper war. Genau wie Manuels Freundin, sofern mir Dr. Kurt Vanderbilt keine verdammte Lüge aufgetischt hatte. Aber dafür waren seine Tränen zu ehrlich gewesen. Zu groß. Zu salzig. Zu zahlreich. Solche Tränen waren der Wahrheit geweiht. Dieser verdammten Wahrheit der Liebe.

*

Als nächstes war das ‚Haus am Ring‘ dran. Manuels Schwester und dessen Freundin gehörten anscheinend zu den Nachwuchstalenten im Ballett der Wiener Staatsoper. Ich kannte jemanden aus der Verwaltung des Musentempels gleich neben dem Bristol-Hotel. Eigentlich war es eine stinknormale Darkroom-Bekanntschaft. Mit einem ebenso erfahrenen Dampfkammern- und Saunaanhänger, nur meistens den jüngsten hinterher geifernd, quietschend und grabschend. Im zivilen Leben unausstehlich mit seinem arroganten Tuntengehabe. Man brauchte kein flämischer Hellseher in einem Sauerkrautfass zu sein, um herauszuhören, dass ich Daniel kaum ausstehen konnte. Er war einer von jener Sorte, die sich im Gynäkologenstuhl durchficken ließen und dabei italienische Arien im Kopfhörer hörten: ‚Nessun dorma‘, ‚Dalla mia pace‘ oder ‚Sì, mi chiamano Mimi‘ wahrscheinlich. ‚Mimi‘ war auch Daniels Spitzname in den Spezialbehandlungsräumen schwuler Kaschemmen wie dem „Sling“, dem „Adlerhorst“ oder dem „Hardcore“. Wo es richtig zur Sache ging. Kein Herumreden, kein Blümchensex, keine angebliche Migräne mehr. Nur das eine und Einzige, das Allerechte und Wahre.

Vor dem Juridicum zündete ich mir die erste Moods seit gefühlten drei Monaten an, dabei waren es höchstens vier Stunden. Aber Gefühle unterschieden sich allzu oft von der sogenannten Wirklichkeit ab, scherten wie Alkohollenker um zwei Uhr früh auf einer schnurgeraden Landstraße aus und rasten dem nächsten Kastanienbaum entgegen. Und dieser verdammte Baum wich todsicher keinen Millimeter zur Seite.

Ich holte mein Notizbuch aus dem verbeulten Sakko, fügte Kurts Handynummer unter den Familiennamen mit dem Anfangsbuchstaben „V“ dazu und blätterte weiter zu Daniels privatem Eintrag, einem geheimen Wertkartenhandy. Wann immer dieses verdammte Ding in der Hosentasche vibrierte, bekam Daniel diesen Röhrenblick und begann haltlos zu zittern. Anscheinend konnten die wahnsinnigsten Leute dran sein, von der Kripo angefangen über diverse Dealer bis hin zu halbseidenen Strichern. Ich wählte also die Nummernkombination und malte mir aus, in welcher Situation ich diesmal Daniel erwischte. Es war drei Uhr nachmittags, und ich wusste, falls er ranging, konnten wir uns innerhalb weniger Minuten irgendwo treffen. An irgendeinem verlorenen Eck in dieser lebenswertesten Stadt der Welt, die für einen Privatdetektiv oft in ihr genaues Gegenteil mutierte – zu einer Pforte direkt in die Hölle hinunter.

Diesmal war es eine U-Bahn-Station am nördlichen Wiener Stadtrand, vor der Trutzburg eines riesigen Gemeindebaus, der viel zu hoch geraten war und wie eine Kopie von Kafkas Schloss in der Billigausführung für Mindestrentner und Notstandsbezieher aussah. Links und rechts neben den Glastüren des U-Bahn-Eingangs lungerten einige Drogenabhängige und Kleindealer herum, die eine Hälfte minderjährig, die andere vierzig plus, gerade erst begonnenes und auf der anderen Seite längst im Abseits befindliches Leben wenige Wochen vor der endgültigen Löffelabgabe.

Daniel kam in einem engen schwarzen Anzug aus der Herrentoilette gekrochen, allein die verdammten Lederschuhe aus irgendeiner toskanischen Manufaktur hatten einige purpurfarbene Scheine verschlungen. Jetzt klebte der Lurch einer dreckigen U-Bahn-Toilette an den feinen Ledersohlen, Spermareste und Kokainspuren inklusive. Aber wahrscheinlich besaß Dr. Daniel Schober noch weitere zwanzig Paar Lackschuhe, mit denen er durch die Gegenwart stelzte, als eitelster aller Gecken aus dem obersten Segment der verwahrlosten Luxusgesellschaft. Im Hintergrund ging die Eisentüre zur Männertoilette auf und ein nicht mehr ganz manövrierfähiger Gartenzwerg stahl sich mit verzerrtem Grinsen ins Freie.

„Bist du verrückt geworden, der Typ ist nicht einmal…“
„Keine Zahlen, bitte,“ unterbrach mein Staatsoperninformant, schlug die Augen zu Boden und wurde nicht einmal rot dabei. Seine schräge Vorliebe für verbotenes Frischfleisch würde ihn früher oder später vor einen streng dreinblickenden Richter in einem Geschworenenprozess bringen. Aber noch war es nicht so weit, und Daniel stand hier, vor meinen entzündeten Augen, zwischen einer U-Bahn-Toilette und dieser Gemeindebau-Burg im Hintergrund.

„Worum geht es,“ fragte der Zegna-Anzug-Päderast leise. Ich zählte ihm zwei Vornamen auf. Kathy und Lisa. 18 und 19 Jahre alt. Die jüngere war die Schwester des Jusstudenten, die ältere dessen Freundin. Wie es schien, waren beide Mädels unter den Eleven der Ballettklasse an der Wiener Staatsoper. Beste Freundinnen genauso wie erbarmungslose Konkurrentinnen. Von dreißig Anwärterinnen kamen höchstens drei weiter. Der Kampf um die wenigen Plätze in den Tanzolymp musste gnadenlos sein. Ich stellte mir Mobbingaktionen auf TikTok und Instagram vor, Kratzattacken oder Pfeffersprayanschläge auf einer Mädchentoilette, aber danach waren die beiden wieder beste Freundinnen, die gemeinsam angetreten waren, diese idiotische Welt der unterbelichteten Jungs zu vernichten.

Dr. Daniel Schober nickte so dämlich wie ein Schaf vor dem Schlachtschussapparat. Rückte widerwillig mit ein paar wertlosen Informationen heraus, dem guten alten Lobpreisungsrap, den ich schon zuvor im Jurdicum vernommen hatte: hinreißend aussehende Mädchen, hoch talentiert, megaintelligent, beide aus bestem Haus. Und anderes Gestammel mehr. Warum zumindest Kathy verschwunden war, konnte Dr. Daniel Schober auch nicht erklären.

Im Hintergrund erkannte ich einen Dealer, der jemandem ein paar gefährlich aussehende Ampullen verkaufte. Dann schrie eine Großmutter, die einen Kinderwagen vor sich herschob, „Polizei, Stehenbleiben!“, holte eine Pistole unter der blütenweißen Decke hervor und sprintete zum Drogenverteiler hinüber, warf ihn der Länge nach um und legte dem Gestellten Handschellen an, während zwei weitere Cops in Zivil (eine dement aussehende Lavendelverkäuferin und der Zeitschriften-Abo-Checker vor dem U-Bahn-Eingang) dasselbe bei den zwei Stammkunden des Dealers durchführten. Die drei kleinen Fische zappelten schreiend im Netz und würden nach ein paar Anzeigen wieder in dieselbe Scheiße von vorher entlassen werden, in die sogenannte Freiheit, die genauso ein Gefängnis war, mit dem einzigen Unterschied, dass man zu deren Zellen vorläufig noch einen Schlüssel besaß.

„Was noch?“ fragte ich drohend und Dr. Daniel Schober blickte leicht entnervt zur dreifachen Festnahme hinüber. Kein Wunder, dass er sich momentan kaum in Sicherheit fühlte. Schließlich hatte er gerade etwas Zwielichtiges auf der Toilette erlebt. Natürlich nicht umsonst. Sondern gegen einen gewissen Tarif, der die Spiel-, Drogen- oder Pornosucht seines garantiert noch minderjährigen Opfers finanzierte.

„Die beiden waren Freundinnen,“ hob Daniel nach einigen Füllwörtern an, wie eine Amstel zur Brunftzeit im Frühsommer zu trällern.
„Na und? Eine Teenagerbeziehung wie sie alle paar Stunden vorkommt,“ entgegnete ich, „zusammen einige WhatsApp-Gruppen verwalten, für die Jungs aus der Nebenklasse schwärmen und sich gemeinsam die blond gefärbten Strähnen für das nächste Clubbing zurechtzupfen,“ versuchte ich mich in das Leben von Oberstufenschülerinnen hineindenken – es gelang mir so wenig wie der Versuch trocken zu werden. Dem Absinth abzuschwören. Mich von etwas anderem zu ernähren als zwei Flaschen Pernod und sechzig Zigarillos. Pro Tag.

„Sie waren miteinander intim,“ rückte das Orakel vom Ring mit bisher zurückgehaltenem Wissen heraus.
„Was meinst du damit?“
„Das fragst ausgerechnet du, der an jedem zweiten Tag in Dampfräumen und Saunen verkehrt?“
„Du meinst, Sie haben …miteinander…“
„…genau das, und noch viel mehr.“
„Und woher weißt du das? Das pfeifen nicht unbedingt die Spatzen vom Giebel der Wiener Staatsoper herunter.“
„Wer immer dir das gesteckt hat, von mir hast du’s nicht,“ antwortete Dr. Daniel Schober mit dem drittschäbigsten Grinsen der Welt und empfahl sich zur U-Bahn hinauf, „entschuldige bitte, aber ich muss unbedingt in meine geliebte Staatsoper zurück: heute ist Generalprobe von Richard Wagners Walküre. Die darf ich mir nicht entgehen lassen. Da geht es um Leben und Tod, nicht um das Lecken gewisser Körperpartien.“

Sprach’s, drehte sich um und verschwand wie der Leibhaftige in einer Wolke aus Schwefel und Pulverdampf, vielleicht war es auch nur eine Überdosis ‚Chanel No 5‘, mit dessen Düften Daniel seine immer noch lupenreine Haut imprägnierte. Der blasierte Typ war das genaue Gegenteil von mir. Oberflächlich, gutaussehend, unverbindlich und trotzdem ein Monster. Warum wir uns damals in diesem Provinzgymnasium angefreundet hatten, blieb mir ein Rätsel. Und weshalb wir uns immer noch kannten. Die sporadischen Begegnungen zwischen U-Bahn-Stationen und Schwulensaunen konnten unsere komplizierte Beziehung auch nicht erklären. Wir hatten vollkommen unterschiedliche Berufe, aber unser Privatleben vollzog sich an ähnlichen Orten. Der allgemeinen Öffentlichkeit gemeinhin verborgen. In abgelegenen Winkeln und Nischen, die schmutzig waren. Dirty as a rotten sinner in hell.

*

Ich versuchte meinen Toyota in unmittelbarer Nähe des Stadthallenbades zu parken, aber natürlich war im Spalier zwischengelagerter Blechhäufen keine einzige Lücke zu finden. Wie ein verirrter Satellit kreiste ich eine Viertelstunde lang um den Betonhallenkomplex, bevor ich den Wagen doch im Halteverbot abstellte. Sollte die MA Irgendwas meinen klapprigen Wagen zur Simmeringer Haide transportieren, wo ich ihn später bei hämisch grinsenden Parkplatzwächtern gegen 600 Euro in bar abholen konnte. Eine happige Summe, aber erstens hatte der mysteriöse Bankier brav seine Anzahlung auf mein Konto gebeamt, und zweitens, noch viel wichtiger, wollte ich meinen Sohn sehen. Philipp. Oder Phil, was er viel lieber hörte. Weil es für ihn männlicher, kumpelhafter, zurechnungsfähiger klang. Phil, der Vorzugsschüler und Hochleistungsschwimmer. Ein prima Junge. Ganz von allein groß geworden. Keine Ahnung, woher er seinen Fleiß, seine Ausdauer, seine Beharrlichkeit hatte. Und diesen verdammten Charm. Seitdem die Pubertät wie ein renitenter Untermieter in seinem Körper eingezogen war, fand ich ihn sogar attraktiv.

Jedenfalls war es beruhigend, einen so unkomplizierten Sohn zu haben, der verlässlich seine Einsen schrieb, im Schwimmen jeden Tag schneller wurde und ansonsten ganz bescheiden blieb: der gute, ruhige Junge aus der vorletzten Schulbank, immer mit einem Lächeln auf den breiten Lippen, und diesem strahlenden Blick, der mich jedes Mal umhaute. Als ob mir ein Blitz in die Augen fuhr, mit geschätzten 100.000 Volt pro Nanosekunde.

Ich warf einen Blick auf die Halteverbotstafel. Mit dem warnenden Hinweis darunter, dass jedes Zuwiderhandeln mit sofortiger Beseitigung des Fahrzeugs geahndet werden würde. Als ob das illegal abgestellte Vehikel eher verschrottet als zu diesem Abstellplatz auf der Simmeringer Heide gebracht werden würde, der ungefähr so weit von der Innenstadt entfernt lag wie die verdammte Milchstraße. Wie jeder durchschnittliche Loser überlegte ich ernsthaft, die Kiste im nahen Parkhaus unterzubringen. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr: es war kurz nach 18 Uhr, und wahrscheinlich würde Phillip schon längst auf mich warten.

In der riesigen Halle schien das Training noch im vollen Gang zu sein. In einem extra gesperrten Bereich zogen die jugendlichen Schwimmer ihre Bahnen, begleitet von den hektischen Anfeuerungsrufen der Trainer, ziemlich dickbäuchigen Männern in blauweißen Trainingsanzügen. Ich legte meinen abgetragenen Trenchcoat auf die verfliesten Stufen am Rande des Langbeckens und versuchte im kontrollierten Gewimmel der Nachwuchsschwimmer meinen Sohn auszumachen. Eine leichte Übung, denn Phil war genau in der Mitte, auf Bahn fünf – und seinen Kollegen um gute zwei Längen voraus. Es sah so leicht und mühelos aus, wie er dahinkraulte, alle paar Meter mit seitlich gelegtem Kopf und weit geöffnetem Mund einatmete und Länge um Länge wie in Trance absolvierte. Hätte mich einer seiner fetten Trainer ins Wasser geworfen, wäre ich auf der Stelle untergegangen. Vor lauter Absinth in den Venen hätte sich das Wasser grün eingefärbt, und mein Blick wäre irgendwo zwischen der Decke und der Anzeigetafel für immer zerbrochen.

Einige Minuten später saß Phil neben mir. Bibbernd, mit blauen Lippen und einem riesigen Handtuch um den Oberkörper gelegt. Auf der glatten Haut rannen die Wasserperlen in dünnen Bahnen Richtung Nabel. Phillip sah mich an. Direkt ins Gesicht. Ein Frontalangriff aus bubenhaftem Charme und einer Prise Unsicherheit. Seine riesigen blaugrauen Augen. Dieser offene Blick, der einem ansatzlos ins Herz stach. Der Junge freute sich einfach, dass ich mir für ihn Zeit genommen hatte und im Hallenbad aufgekreuzt war. Er wirkte noch immer so offen und unbefangen wie das Kind, das er schon längst nicht mehr war.

„Mama kommt auch kaum vorbei. Ihr beide habt so viel zu tun.“

Ich hörte eine Extraportion Ironie und Enttäuschung aus Phils kieksender Stimme heraus. Er hatte längst kapiert, dass Agnes eine überdrehte Esoterikerin mit einem Fable für verstorbene flämische Hellseher und ich ein abgehalfterter Privatdetektiv war, der in anderer Leute Unterwäsche herumwühlte, um ein paar Totschlagsargumente für Rosenkriege, Erbstreitigkeiten oder anderen Zivilrechtshöllen zu liefern.

„Aber danke, dass du mir das und das gekauft hast. Sogar in der richtigen Größe. Wäre gar nicht notwendig gewesen.“

Phil sah mich an und räusperte sich mehrere Male hintereinander. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was Phil unter ‚das und das‘ verstand, die brandneuen Sneakers oder den grünen Hoodie oder das knallbunte Etro-Hemd um 250 Euro wahrscheinlich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Junge etwas vor mir verbarg. Etwas, womit er nicht um die Burg herausrücken wollte. Ich fragte mich, was das könnte. In der Schule war der Junge top, im Schwimmsport fantastisch, er hatte jede Menge Freunde und … einen Augenblick, Kleiner. Ich senkte die Stimme und lächelte Phillip an wie ein Schulpsychologe, der hinterhältig grinsend mit der gefürchteten Frage anrückte: „Was steht es eigentlich mit den Mädels, Phil?“

Keine Antwort. Nur Schweigen. Ein halbes Lächeln, das in den Mundwinkeln zerschellte. Diese väterliche Frage nach den Mädels. Der kleinlaute Blick. Und das Schweigen als vielsagende Antwort. Phil musste gar nichts mehr sagen. Ich wusste es längst. Nahm den Jungen in den Arm. Und ließ ihn weinen. Einfach haltlos weinen. Er hatte es zugegeben und trotzdem weniger als gar nichts verraten. Eindeutiger als jedes Geständnis flossen die dicken Tränen aus Philipps Augen, er hielt sich nicht mehr zurück, lag in meinen Armen und weinte. Es war gesagt, ohne wirklich ausgesprochen worden zu sein. Philipp mochte die Mädels nicht. Er bevorzugte Jungen. Burschen in seinem Alter, vielleicht sogar Männer. Ich fragte nicht weiter. Ließ ihm etwas Zeit, um von den Emotionen herunterzukommen, wartete eine halbe Stunde in der nach Chemikalien riechenden Hallenbad-Lobby auf ihn und hoffte, dass mein Toyota in der Zwischenzeit nicht abgeschleppt worden war.

Zum Glück stand die Karre immer noch da. Wir gingen zu einem Baum in der Nähe, Philip befreite sein Rad von der Kette und wollte davonfahren, aber das ließ ich diesmal nicht zu. Verstaute den Drahtesel im Kofferraum meines Toyotas. Neben zwei Schachteln Absinth und einem zusammengefalteten Müllsack, der noch immer nach meiner toten Katze Isola roch. Schweigend fuhren wir beide in die Innenstadt und gingen dort einen heben. In die Loos, meine Lieblingsbar. Da es noch immer heiß war, saßen wir wie alle anderen Idioten draußen im Garten. Philipp nippte an seinem Soda Zitrone und ich versuchte nicht zu gierig an einem ‚Sazerac‘ zu schlürfen, der meine Vorliebe für die grüne Fee auf charmante Weise verbarg.

„Was ist da drin?“, fragte Philipp, „es riecht wie das Chlor im Stadthallenbad.“
„Cognac und etwas Absinth.“
„Das kann man trinken?“
„Ich versuche es zumindest. Komm, stoßen wir an, Philipp.“ Ich lächelte meinem Sohn zu, beobachtete wie er sein Glas mit dem sauren Sodawasser hob und sein hübsches Lächeln wieder zurückkehrte. Ich fragte mich, was er mit anderen Jungs angestellt hatte. Ob er es genoss, ob er sich ausgenutzt vorkam, mit wem er überhaupt zusammen war oder sein wollte. Lauter Fragen, die mich nichts angingen. Phil war hinter meinem Rücken erwachsen geworden. Auch wenn es noch nicht ganz danach aussah. Unsere Gläser stießen sanft gegeneinander, nur ein unterdrücktes Klirren, ganz zart.

„Prost,“ sagte ich, und mein Sohn antwortete lächelnd „Zum Wohl.“ Fügte ein kleinlautes „Danke“ hinzu, schloss die Augen und trank von seinem Soda mit frisch gepresstem Zitronensaft. Eine letzte Träne floss dabei seine rechte Wange hinab und zeichnete eine sanfte Spur des Begehrens auf die immer noch glatte Haut. Noch nicht einmal der Anflug von Bartwuchs. Wie jung mein Sohn war. Und was zum Henker alles in seinem hübschen Köpfchen herumspuken musste. An wen er dachte, wenn er nachts nicht einschlafen konnte. Mit wem er chattete, telefonierte, mit wem er sich freute und stritt, mit wem er sich ausschwieg und wem er sich vielleicht sogar unterwarf. Das Leben, sein Leben, begann ihm eine Frage nach der andern zu stellen. Und alles, was ich als Vater tun konnte, war aus den spärlichen Gesten und Andeutungen, aus Philipps Tränen und seinem mitreißenden Lachen so etwas wie einen Fall zu konstruieren, der vor allem seine Welt war: die mir noch unbekannte Welt meines Sohnes.

*

Die beiden Porsche standen verlassen in der öffentlichen Garage herum, gleich neben dem privaten Eingang ins Halleluja der riesigen Eigentumswohnung hinauf. Ein Cayenne und ein Panamera, jeweils 150.000 Euro schwer, todsicher mit der neuesten Topausstattung und der höchstmöglichen Motorenleistung versehen. Der Cayenne Silber metallic, der Panamera anthrazitfarben – und trotzdem nur zwei Varianten von einem leicht depressiv wirkenden Grau. Unschlüssig stand ich neben den beiden Karossen und starrte in das Innere der Fahrzeuge: blank poliertes Leder, kein Krümelchen Staub auf den Sitzen, als wären beide Fahrzeuge erst vor kurzem ihrem Käufer übergeben worden: diesem schick gekleideten Immobilienentwickler, der wie der Rest seiner verfluchten Familie bereits seit Wochen abgängig war.

Küppers stand etwas abseits und verfolgte meine angestrengten Blicke ins Wageninnere hinein. Ein bisschen kam er mir vor wie ein Drogendealer, der gerade von einer Zivilstreife kontrolliert wurde. An den Luxusfahrzeugen war sicher irgendwas faul, und Küppers wusste Bescheid. Oder hatte wenigstens eine leise Ahnung davon. Jedenfalls stand er etwas abseits und pfiff nervös eine Schnellpolka, einen Marsch oder was zum Teufel auch immer über seine geschürzten Dreckslippen kam. In seiner schweißnassen rechten Hand lagen die beiden Ersatzschlüssel wie die Wunden des Erlösers persönlich. Widerwillig hatte Küppers die verdammten Wägen entriegelt und verfolgte nun misstrauisch, wo meine Pfoten hin fassten, ins Handschuhfach, in die Mittelkonsole, an den Seitenvertiefungen. Nichts. Nichts. Und nochmals nichts. Trotzdem hatte Küppers vor irgendetwas Angst und pfiff immer lauter seine Carl-Michael-Ziehrer-Melodie. Aus ‚König Jerome oder immer lustick!` wahrscheinlich. Im Porsche Cayenne war nichts gewesen. Nicht einmal der Rest eines Schokoladenpapiers oder ein zerknüllter Strafzettel. Nur der Zulassungsschein und das Servicebuch lagen brav wie die Hausbibel im Handschuhfach, zusammen mit drei gültigen Tankkarten.

Ich seufzte und ging auf den Panamera los. Klappte die Sitze um, tastete den gestriegelten Boden nach Unebenheiten ab, untersuchte sämtliche Fächer und Vertiefungen im anthrazitgrauen Luxus. Küppers trat von einem Bein auf das andere, wie ein Kerl, der verdammt dringend aufs Klo musste. Er hatte zu pfeifen aufgehört, und die Schweißperlen tropften von seinen zitternden Händen zu Boden, wohin auch sonst. Noch war die Schwerkraft nicht von irgendwelchen Kreationisten für null und nichtig erklärt worden. So kläglich wie Küppers jetzt dreinsah, musste ich knapp vor dem Allerheiligsten sein: noch einmal tastete ich in der Konsole herum, meine Fingerkuppen erreichten gerade eine seitliche Vertiefung – dann hatte ich die verdammte Nadel im Blechhaufen gefunden: ein kleines Fläschchen, das ich nur allzu gut kannte. 24mm Inhalt. Für diverse Schnüffelaktionen in Darkrooms und schwulen Saunen erfunden. Ich unterdrückte ein Lächeln und tat so, als hätte ich erneut ins Leere gefasst. Steckte in einer schnellen Bewegung das Poppersgebinde ein und zuckte gespielt ahnungslos mit der Schulter.

„Nichts gefunden?“

Küppers strahlte wie ein betrunkener Firmling über das ganze Gesicht und hörte in der Sekunde auf, von einem Bein auf das andere zu treten. Nach ein paar Sekunden Funkstille begann er wieder seine verrückte Wiener Schnellpolka zu pfeifen. ‚Immer lustig‘, diesmal mit einem heiter gestimmten ‚-g‘ anstelle des originalen ‚-ck‘.

„Vielen Dank für Nichts,“ log ich dreist, um Küppers das Gefühl zu geben, mich überlauert zu haben, „die beiden Fahrzeuge sind sicher doppelt und dreifach gereinigt worden. Im Inneren stinkt es wie in einer illegalen Chemikalienfabrik.“

Küppers grinste wie ein Unterstufenschüler, der den schrulligen Lateinprofessor erfolgreich hinters Licht geführt hatte. Tarnen und Täuschen war im Leben mittelmäßiger Männer jeden Tag angesagt. Küppers log jedenfalls, was das Zeug hielt. Hatte nie etwas Verdächtiges gesehen, gehört oder bemerkt. Wahrscheinlich war er vor lauter Lügen längst taubstumm und blind in einem geworden. Wusste es aber noch nicht. Oder ignorierte die Symptome. Ohne weitere Fragen zu stellen, schickte ich ihn in sein Facility-Büro im zehnten Bezirk zurück und drückte die Aufzugstaste ins Penthouse hinauf. Der Lift kam brav wie ein Schoßhündchen angerückt und hievte meine Existenz binnen weniger Sekunden in die letzte Etage. Meine Fingerkuppen wurden vom elektronischen Tastgerät einwandfrei erkannt, ein leises Surren, und die Pforte zum blasierten Reichtum ging widerstandslos auf. Das Poppersfläschchen in der linken Faust fühlte sich heiß an. Ich überlegte mir eine Brise davon zu inhalieren, aber da sich nicht einmal die Andeutung eines erigierten Glieds auf den 850 Wellness-Quadratmetern befand, unterdrückte ich mein gar nicht so geheimes Verlangen.

Die nächsten 15 Minuten machte ich vor allem eine Tür nach der anderen auf und wieder zu, es waren sicher dutzende Türen. Sah in jedes verdammte Zimmer hinein. Überall dieselben langweiligen Möbel, die einfach nur teuer gewesen waren. Passend zu den ‚Castiglioni‘-Stehleuchten, zum blank polierten Sternparkettboden, zu den hunderten Leds in der Decke und zu zum makellosen Weiß an den Mauern. Alles war so perfekt, dass es beinahe surreal wirkte. Etwas stank hier gewaltig gegen den Himmel, aber ich wusste noch nicht, warum und weshalb.

Die Familie Schwartz konnte sich jedenfalls nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Im 21. Jahrhundert war das Status ‚spurlos verschwunden‘ praktisch unmöglich geworden: überall lauerten öffentliche Kameras, elektronische Schranken und digitale Geräte, die jeden Passanten erfassten. Und trotzdem war keiner mehr hier, nicht einmal ein Kanarienvogel, ein Wellensittich, die Hauskatze oder ein Showhund, der mehr als zwanzigtausend Euro wert war. Auf den Konten, deren Auszüge mir der geheimnisvolle Bankier zugemailt hatte, war seit mehr als fünf Wochen keine einzige müde Bewegung mehr zu erkennen, nur die Daueraufträge wurden von einem Überweisungsbot, einem Algorithmus oder einer anderen höheren Instanz abgebucht. Keine Barabhebungen, kein Kreditkarteneintrag, keine Restaurantrechnung. Nichts. Falls diese Familie noch lebte, musste sie sich von Waldbeeren, Wurzeln oder erlegten Wildschweinen ernähren – was ein müder Blick auf die vier Fotos sofort widerlegte. Nach Preppern oder Überlebenskünstlern sahen die vier abgängigen Herrschaften wirklich nicht aus. Leute wie sie konnten nicht einmal einen verdammten Nagel in die Wand schlagen, eigenhändig Salatköpfe waschen oder Eier anbraten. Für solche Extravaganzen hatten sie Bedienstete angestellt, die bereits seit mehreren Wochen freigestellt waren. Die beiden Haushälterinnen, die Köchin und der Haustechniker waren zurück in ihre Heimatstädte nach Bosnien oder in die Vojvodina gereist. Bekamen ihre bescheidenen Monatsgehälter trotzdem ausbezahlt, freuten sich wahrscheinlich wie Schneekönige darüber und standen für eine nähere Befragung leider nicht zur Verfügung. Das „Leider nicht“ stammte natürlich von Küppers, diesem mehr als verdächtigen Kerl. Vielleicht wusste er auch nichts, sondern tat nur geheimnisvoll. Auf jeden Fall war er schräg. Ich zündete mir eine Zigarette an, weil sowieso niemand da war und die Rauchmelder deaktiviert schienen. Zumindest spendete kein Sprinkler irgendwelches Nass von der Decke herab, alles blieb ruhig, vielleicht auch nur, weil ich die Türen zur Terrasse geöffnet hatte und die dünne Rauchsäule meines Zigarillos unter den Rauchmeldern vorüberzog und folgenlos im Freien verpuffte.

Nach einer gewissen Zeit der Selbstreflexion riss ich die Kühlschranktüre auf und entdeckte ein paar Bouteillen Weißwein in den gekühlten Gemächern. In den Fächern des gewaltigen Schranks konnte eine Kleinfamilie tagelang ausharren, so riesig schienen die Kühletagen zu sein. Regalreihen und Abstellflächen wie in einer öffentlichen Garage. Ich nahm mir eine der verdammten Bouteillen, die allesamt nur verschraubt waren. Rieslinge aus dem sogenannten Rheingau, wo immer der lag. Höchstwahrscheinlich in der Umgebung von Frankfurt, dafür musste man weder ein As in Geografie noch ein flämischer Hellseher sein. Diese Familie hatte bis vor wenigen Jahren in der hessischen Großstadt gelebt, natürlich in Grüneburg, dem absolut teuersten Viertel. Lauter Bankiers, Zahnärzte, Edeljuristen. Samt Zweit- bis Fünftwägen, mehreren Hunden und – nicht zu vergessen – ihren verzogenen Kindern. Warum die Familie vor ein paar Jahren nach Wien gezogen war, hatte mir der Bankier mit der jugendlichen Stimme nur widerwillig verraten. Anscheinend hatten die Eltern neue Spitzenjobs angenommen, die das Dreifache ihrer früheren Dienstverträge einbrachten. So lautete die Mär des Bankiers, der wenigstens redselig war, der alte Golfer und Gauner.

Ich schraubte die erstbeste Weinflasche auf und goss mir etwas Riesling in einen Kelch, der ungefähr so groß wie ein kaiserlicher Hofbrunnen war. Das Zeug schmeckte gar nicht so schlecht, nach Aprikosen, Weingartenpfirsichen oder Litschi Kompott. Zumindest fantasierte der Winzer auf seiner Etikettenlaudatio davon. Ich schnalzte mit der Zunge und genehmigte mir noch einen Schluck. Einen dritten und vierten. Goss wieder Wein nach und fühlte mich langsam betrunken. Auf einer Ablage über der Küche stand eine angebrochene Flasche Pernod, wahrscheinlich für die Zubereitung einer französischen Bouillabaisse bestimmt. Um ein Haar bekam ich die verdammte Absinth Flasche nicht auf, weil die Kapsel vor lauter kristallisiertem Zucker mit dem Gewinde eins geworden war. Ohne viel nachzudenken, goss ich den Pernod mit dem Riesling auf oder umgekehrt. Jedenfalls harmonierten die beiden Flüssigkeiten im riesigen Kelch auf rätselhafte Weise miteinander und erfrischten mich mehr als jede der beiden einzeln davor. Ich leerte das ballonförmige Glas, schloss die Augen und sinnierte den gemeinsamen Aromen von französischem Absinth und deutschem Riesling hinterher. Wie gut die beiden Nationen harmonierten, zumindest wenn man Weißwein und Anisschnaps miteinander vermengte.

Plötzlich riss ich die Augen weit auf, weil mir etwas ganz anderes eingefallen war: in den Schlafzimmern fehlte ein bestimmter Gegenstand. Einer, der verflucht nochmal in jede Wohnung gehörte, außer man stand darauf im Stehen zu pennen. In diesen privaten Luxusgemächern fehlten die intimsten Möbel in einer Wohnung – es fehlten ganz einfach die Betten.

*

Ich zog die Vorhänge in meiner Wohnung zu, drehte das Licht ab, rauchte am Küchentisch mein Zigarillo und nippte am Steingutbecher mit meinem Pernod auf ziemlich viel Eis. Eine Limettenscheibe schwamm auch noch in der gekühlten, giftgrünen Brühe herum, wie ein Stück Treibholz in einem nördlichen Fjord. Es war Samstagabend, und hinter den Vorhängen tobte das soziale Leben im ersten Bezirk. Die Leute gingen aus, unterhielten sich, tranken Alkohol, gingen miteinander ins Bett und erwachten am nächsten Morgen mit Sodbrennen, Kopfweh und einem Anflug von Scham, weil man vor lauter Alkohol und einer Überdosis Geilheit wieder einem Idioten aufgesessen war, der laut im Bett schnarchte und sich davor als erotische Nullnummer offenbart hatte. Das typische Wochenend-Schicksal. Unter dem Einfluss von harten Drinks, leeren Versprechungen und anderen schrägen Substanzen.

Ich selbst war in der Römersauna gewesen und hatte mich dort in der Dampfkammer dem Götzen der allgemeinen Geilheit geopfert, hinterher an der Bar mein Bierchen getrunken und mit nichtbinären Wesen über die letzten Gewinner des Eurovisionssongcontests schwadroniert. Mich dabei herrlich schwul gefühlt: ein Mann, der auf Männer stand, und hier am Sauna-Tresen den Mädels beim Schnattern zugehört hatte, jenen Mädels, die in Wirklichkeit Jungs gewesen waren. Wie auf einer Gänsefarm, nur etwas greller und weniger tödlich, vorläufig wenigstens. Vielleicht würde uns allen irgendwann doch der Kopf umgedreht werden, wenn die falschen Leute an die Macht kamen – wer wusste das schon?

Jetzt gegen 23 Uhr saß ich in meiner Sterngassen-Wohnung, rauchte das nächste Zigarillo und erwartete jeden Augenblick den Anruf des geheimnisvollen Bankiers. Für 20.000 im Voraus hatte der gute Mann aus Frankfurt jedes Recht, mich zum Stand meiner Erhebungen zu befragen. Sehr überzeugend waren die Resultate noch nicht, aber etwas hatte ich bereits in Erfahrung gebracht: hinter der schönen Fassade des üppigen Reichtums gähnte ein Abgrund, auf den ein paar erste Sachverhalte verwiesen: Die Staatsopernschwuchtel hatte eine intime Beziehung zwischen der Schwester und der Freundin des ältesten Sohnes angedeutet. Im Panamera seines Alten hatte ich ein Fläschchen Poppers namens ‚Iron Fist‘ sichergestellt. Und im palastähnlichen Dachausbau fehlten sämtliche Betten. Drei Punkte, die vielleicht nichts miteinander zu tun hatten. Und mir trotzdem aufgefallen waren. Drei erste Fragmente in einem Puzzle aus tausenden Teilen. Wie ein Satz, der aus jedem Zusammenhang gerissen schien und etwas andeutete, das später auf einen ganz anderen Sachverhalt verweisen konnte.

Ich warf einen Blick auf die vier Fotos vor mir. Der Vater. Die Mutter. Der ältere Sohn. Die jüngere Tochter. Offene, hübsche Gesichter, die älteren beiden schon etwas verbraucht und von den Nebenwirkungen luxuriösen Lebens gezeichnet, die jüngeren glatt und offen. Neugieriges, ironisches Lächeln. Sich ihrer eigenen Bedeutung bewusst. Sexy waren sie obendrein. Zumindest begehrenswert. Ich bekam eine Latte in der verdammten Stoffhose, obwohl ich meine Männlichkeit ein paar Stunden zuvor in einer dunklen Dampfkammer mehr als ausgelebt hatte. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, ich war besessen von gewissen Praktiken und Vorlieben. Lief mit einem knappen Handtuch um die Lenden jedem größeren Schwanz hinterher. War um keinen Deut besser als all die anderen ‚Size Queens‘. Nur dass ich mir obendrein noch diese Kleinfamilie aufgehalst hatte: eine verhärmte Esoterikerin namens Agnes, die immer dicker wurde, je heftiger sie das sogenannte System zu bekämpfen versuchte, und den perfekten Sohn, der mir vor ein paar Tagen eingestanden hatte, dass auch er auf das eigene Geschlecht stand. Auf andere Jungs oder Männer. Was sich wie ein Paukenschlag in einem Schweigeorden anfühlte. Bis vor kurzem war Philipp für mich nur ein kleiner Junge gewesen, der seine Lieblingseissorten hatte, wie ein Berserker das Stadthallen-Schwimmtraining betrieb, in der Schule hervorragend war und ansonsten kaum einen Mucks machte, es sei denn, sein Geburtstag oder Weihnachten oder sonst ein geschenkträchtiger Feiertag nahte. Ein Danke aus seinem Mund war mehr wert als jeder Millionengewinn. Und diese strahlenden Augen – verdammt. Wie konnte man nur so wunderschöne Augen haben, wenn die eigene Mutter eine Buchhandlung für Esoteriker, Wünschelrutengänger und andere Erleuchtete betrieb und Papa dieses gebrannte Wermutkraut in rauen Mengen vernichtete? Ich seufzte. Starrte auf den schwarzen Telefonapparat und hoffte, er würde nie wieder zu läuten beginnen. Aber natürlich tat er das ein paar Herzschläge später. Sogar laut und durchdringend. Wie in einem alten amerikanischen Film. Kurz bevor die Handlung ins Durchgeknallte abgleiten würde. Ich hob ab und murmelte meinen Namen, der nicht einmal mein eigener war. Agentur Hartmann, Joe am Apparat. Kein Mensch auf diesem Planeten nannte sich so, aber dem Bankier auf der anderen Seite der Verbindung war das anscheinend so egal wie ein Furz auf dem Mond.

„Schießen Sie los,“ forderte er mich auf, und ich drückte die Zigarillokippe an der bräunlich gewordenen Küchenwand aus und begann zu erzählen.

*

Sich unbefugt einer österreichischen Schule zu nähern, bedeutete etwa dasselbe wie illegal eine Kaserne zu entern. Die Bundesgebäude der Alpenrepublik hatten sowieso ihre besondere, militärisch angehauchte Atmosphäre. Jeder, der nicht zu den Stakeholdern dieser Institutionen gehörte, schien sich allein durch seine Fremdheit verdächtig zu machen. Wurde angesprochen. Kontrolliert. Auf eventuelle finstere Absichten hin befragt. Schließlich galt es, die Schüler*innen der Eliteanstalt vor sinistren Gestalten zu schützen – und ich war zweifellos eine zwielichtige Figur: verkatertes Gesicht, vier-Tages-Bart, ungesunder Mundgeruch, trübe Augen, das gesamte Gesicht loderte vor Alkohol und miesen Geschäften, und die Kleidung (verbeulte Stoffhose, nicht mehr ganz sauberes weißes Hemd, graues Sakko mit ausgebeulten Taschen) unterstrich das schäbige Äußere wie drei Ausrufezeichen. Keine fünf Meter nach dem Eingang sprach mich eine Art Hausmeister an, mit dem herablassenden Gehabe eines Blockwarts aus finsterster Zeit.

„Was wollen Sie an unserer Schule? Wer sind Sie eigentlich? Hier kann man nicht so einfach hereinschneien wie beim nächstbesten Branntweiner“ und so weiter und so fort. Ich drehte Däumchen und wartete geduldig, bis sich der Meister der Vorhaltung dem nächsten Satzzeichen näherte, nannte ihm rasch den Namen einer Professorin für Latein, Deutsch und allgemeine Empörung, der besten Freundin meiner Exfrau, vom selben esoterischen Schlag.

Keine zwei Minuten später saß ich tatsächlich in einem Besprechungszimmer, das mich entfernt an die Verhörräume in der Rossauer Kaserne erinnerte: spärlich eingerichtet, brutal ausgeleuchtet, mit einer Glasscheibe nach nirgendwohin versehen. Auf dem Tisch lagen mein mitgebrachtes Foto der Meisterschülerin aus dem Ersten Bezirk, ein Schularbeiten-Heft, das Klassenbuch der 8a und zwei Tassen Filterkaffee. Der strenge Blick der verdienten Pädagogin traf mich wie ein Blitz. Es war sonnenklar, dass sie mich bereits nach wenigen Sekunden wie die Pest hasste.

„Sie sind Agnes‘ Mann?“ vollzog sie den Eröffnungszug in unserem kleinen Rollenspiel, das auf nichts anderes als gegenseitige Vernichtung ausgelegt war. Zumindest, wenn es nach dem knallharten Charme der verdienten Altphilologin mit den fünfundzwanzig Dienstjahren ging.

Ich nickte devot wie ein Osterlamm kurz vor der Schlachtung und flüsterte „ja“. Schlug die Augen zu Boden und fühlte mich schuldig: die schlecht heruntergelebten Ehejahre, die vorzeitige Flucht aus den Verpflichtungen, die halbherzige Unterstützung, die mangelnde Aufsicht, was den gemeinsamen Sohn betraf und so weiter und so fort. Die Richterin über gute Noten, allgemeines Wohlverhalten und anderen Verwaltungswahn musterte mich streng und begann mit ihrem Amateur-Verhör für besonders Arme. Identitätsfeststellung, Intensivbefragung zu Ausbildung, Herkunft und Berufserfahrung, gefolgt vom eigentlichen Thema: warum ich Auskünfte zu einer bestimmten Schülerin begehrte, ausgerechnet jener, die lauter Einser geschrieben hatte, in ihrer Klasse so beliebt wie ein Gratis-Schokoriegel war und …

„…sich vor mehr als einem Monat irgendwohin vertschüsst hat, gemeinsam mit dem Rest Ihrer Familie.“

Genau das sollte ich herausfinden: Kathys verdammten Aufenthaltsort plus aktuellen Live-Status: tot oder lebendig oder irgendetwas dazwischen. Dafür hatte ihr verrückter Großpapa aus Frankfurt mittlerweile zweimal 20.000 im Voraus bezahlt und noch eine weitaus höhere Summe in Aussicht gestellt, falls ich die ganze dubiose Familiengeschichte aufklären konnte. Was immer dabei herauskommen würde. Abgeklärt wie ein Druide aus dem Zauberwald, lockte mich der Spendierhosen-Bankier mit den fetten Überweisungen ins Schlaraffenland der allseits gelösten Probleme.

Ich war also motiviert, reichlich Kohle will doch jeder halbwegs Gierige auf sein Konto gespült kriegen. Während ich mir in Gedanken sämtliche Finger in Erwartung des bevorstehenden Reichtums ableckte, ergötzte sich die Mittelschullehrerin für alte Sprachen und einer Menge Freudlosigkeit noch immer an der Makellosigkeit der abgängigen Klassensprecherin: So ein liebes Mädchen, so eine fantastische junge, vielversprechende Frau – und so weiter. Kein Anflug von irgendeinem Fehler, sogar die Pubertät schien an Kathy vorübergezogen zu sein, ohne einen Kratzer auf der kindlichen Fassade hinterlassen zu haben, sie war noch immer das liebreizende Mädchen, das kein Wässerchen trübte und jeden noch so gefinkelten Seneca-Text mit Bravour und Auszeichnung ins Gegenwartsdeutsche übersetzte.

„Und Sie haben nichts Verdächtiges bemerkt?“, wiederholte ich meine Standardfrage aus dem Lehrbuch für Privatdetektive, jeder Kollege von Mister Marlowe abwärts in meine Richtung hatte diese eine Frage drauf: „UND-SIE-HABEN-NICHTS-VERDÄCHTIGES-BEMERKT?“

Hatte die trocken gelegte Lateinlehrerin tatsächlich nicht. Oder sie flunkerte mich ungerührt an. Führte mich mit vorgetäuschter Aufrichtigkeit in eine dunkle Gasse hinein, in der sie mir hinterrücks eins mit der gusseisernen Bratpfanne überziehen konnte.

„Kathy wurde manchmal von jemandem abgeholt,“ gab die misanthropische Lateinlehrerin schließlich widerwillig bekannt, ich hätte diesen Satz fast überhört, weil ich auf meiner Kaffeetasse den Spruch ‚Home is where your Cat is‘ entdeckte, nur ein paar Worte, die mir trotzdem den Rest gaben. Tränen traten wie ungebetene Gäste in meine Augen und sammelten sich dort zu allgemeiner Verzweiflung, ich spürte den berühmten Stich in der Brust, rang nach rettender Luft, schien aber nur den Stickstoff darin aufnehmen zu können, ohne ein Zigarillo oder ein paar Milliliter Absinth in Griffweite, der dünne Kaffee aus der Tasse mit dieser einen Behauptung darauf musste reichen: Dein Zuhause ist dort, wo die Katze ist. Meine Isola lag auf dem Friedhof der Namenlosen, neben dem Grab eines elfjährigen Kindes, das vor hundert Jahren aus welchen Gründen auch immer in die Donau geplumpst war: Dem unbekannten Mug-Philosophen zufolge war dieser Friedhof der Namenlosen zu meinem zweiten Zuhause geworden: Ein Müllberg aus Leichen, die absolut nichts mehr besaßen, nicht einmal einen verdammten Vor- und Zunamen.

Ich verlor mich in gewissen Betrachtungen über die Endgültigkeit des Todes und überhörte beinahe die nächsten Sätze der hochgebildeten Frau, die mich wieder einmal daran erinnerte, die Schule kurz vor der Matura abgebrochen und keinen richtigen Beruf erlernt zu haben, außer den eines regelmäßigen Trinkers. Ich schnüffelte nebenher in dunklen Geheimnissen herum und wurde dafür eher schlecht als recht bezahlt, außer ein Bankier aus Frankfurt am Main rief aus dem Nichts an und versprach mir die purpurfarbenen Scheine von einem ziemlich bedeckten Himmel herunter.

„Von wem zum Teufel wurde die Prinzessin abgeholt?“, fragte ich nach mehreren Minuten Selbstreflexion, „von einem Mädchen, einem jungen Mann, vom heiligen Geist oder einem Kerl, der nur einen Haufen Sexspielzeug in einem schäbigen Pappkarton mit sich führte?“.

Die letzten zwei Verdächtigen schieden aus, übrig blieb die junge Frau und der etwas ältere Mann. Noch nicht ganz Mann, eher Junge. Ich rückte mit dem Foto des verdammten Vorzeigestudenten heraus – und natürlich war es genau dieser Typ: Kathys älterer Bruder.

Die Mundwinkel der Mittelschulprofessorin für diverse Orchideenfächer vibrierten. Ihr Blick verlor den Halt humanistischer Bildung, die Hände verkrampften sich ineinander. Lauter Hinweise, dass er es war: Manuel. Kathys Bruder, dessen Charisma sogar diese trocken gelegte Altphilologin betörte. Und dann noch ein Mädchen. Mit langen, brünetten Haaren. Todsicher die Freundin des Jusstudenten, mit der seine Schwester so etwas wie ein Verhältnis hatte. Eine intime Beziehung. Hatte mir dieser Doppeldoktor aus der Staatsoper verraten, weiß der Teufel, woher Daniel das gesteckt bekommen hatte. Sicher nicht im Orchestergraben seines ‚Hauses am Ring‘. War auch egal. Eine lesbische Beziehung. Ich stellte mir Tanzstangen in einem dreckigen Club vor, ein Schaumbad mit zahlreichen Körpern darin oder ein Wasserbett umgeben von schlüpfrigen Spielzeugen. Von irgendwoher war das Stöhnen in höheren Stimmlagen zu hören – die schwülstigen Fantasien eines älteren Herrn, der sexuell in seinem Leben zu kurz gekommen war.

„Ein Mädchen aus einer anderen Schule?“
„Kann ich ihnen nicht sagen.“
„Etwas älter bereits, Studentin vielleicht?“
„Ich habe sie nur ein paar Mal gesehen.“
„Wann zuletzt?“
„Vor Ostern möglicherweise, irgendwann im Februar, März. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe auch nicht besonders darauf geachtet.“
„Und warum fällt es Ihnen jetzt ein?“
„Weil ich das Foto gesehen habe,“ gab die früh vergreiste Pädagogin unverblümt zu, „das Foto von diesem jungen Mann, dem älteren Bruder. Das Mädchen, das Kathy mehrmals abgeholt hatte, muss dessen Freundin gewesen sein.“

Na bitte, da hatten wir schon so etwas wie eine Spur. Ein verdammtes Zwischenergebnis. Die Schwester des smarten Super-Studenten hatte eine Liaison mit dessen Freundin. Was auch nichts besonders Aufregendes war – es reichte mich daran zu erinnern, mit wem ich alles in der Oberstufe herumgemacht hatte. Mit Mädels, mit Jungs, mit älteren Herren, sogar mit dem einen oder anderen Hund. In diesem Alter war man so scharf wie eine entsicherte Handgranate, bereit, jeden Augenblick zu in einer einzigen Eskalation zu explodieren. Die Moral und die gute Erziehung wurden gemeinsam über Bord geworfen, und zurück blieb nur die neu erworbene Geilheit, die alle paar Stunden gewaltsam in Zaum gehalten werden musste, sonst verlor man mit Sicherheit den Verstand – oder was davon übriggeblieben war. Gesoffen wurde auch noch rund um die Uhr, und Dope geraucht. Kein Wunder, dass meine Matura in die Binsen ging und ich drei freudlose Jahre beim Bundesheer verbrachte. Und nach ein paar weiteren gescheiterten Fortbildungskursen in der Dreckwäsche anderer Leute zu schnüffeln begann. Wofür es sogar etwas Kohle gab. Die ich wieder in Absinth und leichte Drogen investieren konnte. Ein ‚endless circle‘, meine persönliche Möbius-Schleife.

Ich starrte zum Fenster hinaus. Die vielversprechende Schülerin. Der Ausnahmestudent. Die unbekannte Freundin dazwischen. Das Poppersfläschchen, das ich im Porsche Panamera gefunden hatte. Und die riesige Wohnung, aus der man jedes Bett entsorgt hatte. Nichts passte zusammen. Und doch begann sich hinter den dürftigen Spuren und Hinweisen die Konturen eines Bildes abzuzeichnen, und Leute: dieses Bild versprach ziemlich seltsam zu werden.

„Kathy hat auch wunderbar gezeichnet,“ fügte die Lateinlehrerin noch hinzu, bevor sie sich in die nächste Schulstunde empfahl. Altgriechisch in der sechsten Klasse. Die personifizierte Nachtmähr für die wichsenden Lümmel im dritten Stock. Die sich ausschließlich für Riesentitten, blanke Muschis und einen Ziegel schwarzen Libanesen interessierten, denen die Odyssee samt der Phalanx an griechischen Göttern scheißegal war. Die Pubertät loderte in ihren Köpfen wie das ewige Feuer. Unter all dem Pornomüll war der altgriechische Ablativ höchstens ein schmieriger Agent aus dem bürgerlichen Alltag. Später würden die Pickelgesichter sowieso Rechtsanwälte, Ärzte und Firmenchefs werden, ihr Weg war längst vorgezeichnet und schon jetzt von Lüge und allgemeinem Wahnsinn entstellt.

„Gezeichnet?“, fragte ich etwas belämmert zurück und bekam ziemliche Sehnsucht nach dem rettenden Ausgang. So eine verdammte Eliteschule konnte jemanden wie mich ziemlich herunterziehen, „meinen Sie etwa Aquarelle oder so einen Kram?“.

Ich war jetzt nicht besonders höflich, aber kurz vor der nächsten Schulstunde war das sogar dieser Professorin für mausetote Sprachen egal. Sie erlaubte sich ein zartes Lächeln, das ihre Schüler das ganze Jahr über nie zu Gesicht bekommen würden, und erzählte von perfekt gezeichneten Gliedmaßen, äußerst plastisch gestalteten Händen, hervorragend wieder gegebenen Beinen und anderen Körperteilen mehr. Ausdrücklich nicht jene, an die ich im Augenblick dachte. Keine anzüglichen Aktstudien, einfach nur bestimmte unverfängliche Körperteile. Ein Gesicht. Eine Hand. Eine Fußschaufel. Die Adern auf dem Sixpack eines jüngeren Mannes.

Wenige Minuten später schlich ich mich zur Türe hinaus. Eine Art Sommersturm empfing mich wie ein wütender Hund. Ich musste noch einmal in die Neutorstraße zurück, zur großen, luxuriösen Verlassenheit hinauf. Ich war mir sicher, irgendein Detail übersehen zu haben. Etwas, das von entscheidender Bedeutung war, um in diesem verfluchten Fall vorwärtszukommen. Es war das Gefühl eines Schriftstellers, diesen einen Roman zu beginnen, der ihn berühmt machen würde – er müsste nur anfangen ihn zu schreiben.

Und zwar genau jetzt.

*

Nicht nur die Täter trieb es regelmäßig an die Tatorte zurück, auch Ermittler wurden von solchen Orten angezogen, naturgemäß aus entgegen gesetzten Gründen. Die Täter genossen den Kick, die Schauplätze ihrer Untaten aufzusuchen, erlebten in psychotischen Schüben noch einmal die verübten Verbrechen, in einem flimmernden ‚Director’s Cut‘ mit kompletter Tonspur und allen Ungeheuerlichkeiten in Großaufnahme, im geräumigen Kinosaal des eigenen Wahns.

Der Ermittler dagegen wollte verstehen, was er noch nicht kapierte: Warum waren die Betten in dieser Wohnung entfernt worden? Wer hatte das Poppers im anthrazitgrauen Porsche platziert? Und wieso wusste der höhere Beamte an der Staatsoper vom intimen Geheimnis zweier Mädchen, von denen das eine gerade erst volljährig war? Nichts passte zusammen. Zwischen den einzelnen Mosaiksteinchen klafften riesige Lücken. Vom großen geheimnisvollen Bild dahinter war ich meilenweit entfernt. Ich ahnte etwas. Aber ich wusste von nichts.

Immerhin funktionierten meine Fingerprints noch. Die Tür zum gläsernen Lift in das oberste Stockwerk ging auf, ich warf einen letzten Blick auf den Panamera – und plötzlich stutzte ich. Das Fahrzeug klebte diesmal förmlich an der Mauer, nur wenige Zentimeter von der weißgetünchten Betonwand entfernt. So etwas machte man höchstens bei extremen Platzproblemen – oder man wollte damit etwas verbergen. Ich ließ den gläsernen Lift einen verdammten Aufzug bleiben und inspizierte die Mauer. Glatt und weiß verputzt, mit einigen Schleifspuren versehen. Eine völlig normale Betonwand in einer anonymen Parkgarage, die schamlose 50 Euro pro Tag für simples Abstellen verlangte. Der Porsche war so herausgeputzt, als hätten emsige Hände mehrere Stunden lang daran herum gescheuert, die Speziallackierung mit reichlich Chemie eingelassen und hinterher mit Rehlederlappen auf Hochglanz poliert. Trotzdem war hier irgendetwas faul. Ich spürte das im kleinen Finger der linken Hand. Am Wagen selbst gab es nichts auszusetzen, der war praktisch neu, wie direkt vom Porsche Headquarter in Stuttgart-Zuffenhausen geliefert. Aber er parkte so verdammt knapp an der Mauer.

Ich nahm eine Taschenlampe, die ich meistens bei mir trug, und leuchtete in den schmalen Spalt zwischen Fahrzeug und Betonwand. Nichts. Oder – einen Augenblick – vielleicht doch. Der Lichtkegel erfasste so etwas wie einen Schriftzug. Eigentlich waren es Zahlen. Dreimal die 6. Die letzte Ziffer war allerdings durchgestrichen und durch eine 1 ersetzt worden. Und dahinter stand noch ein „a“. 661a. Anscheinend war die Zahl für den Antichristen durch den Zifferntausch auf der Einerstelle unkenntlich gemacht worden. Aber was bedeutete das kleine „a“ dahinter? War mit „661a“ eine Straßenbezeichnung, eine Grundbucheintragung oder ein Autokennzeichen gemeint? Ich notierte mir die zwei Sechsen, die eine Eins und das „a“ in mein schwarzes Notizbuch. Die drei Ziffern mit dem kleinen ersten Buchstaben im Alphabet waren genau auf Stoßstangenhöhe hingeschmiert worden. Der Porsche Panamera touchierte die Nummer beinahe. Als ob jemand ein gewisses Interesse daran gehabt hätte, die hingekritzelte Kombination vor allzu neugierigen Blicken zu verbergen. 661a. Das nächste Mosaiksteinchen zu diesem seltsamen Suchbild der seit Wochen untergetauchten Familie.

Ich zündete mir ein Zigarillo an und paffte den Rauch gegen den Sprinkler über dem Porsche. Ein Pfeifsignal ertönte, und aus einer eingebauten Duschscheibe prasselten die Tropfen auf den anthrazitgrauen Panamera herab. So wie es hier von der Decke regnete, würde in wenigen Minuten die Berufsfeuerwehr anrücken – mit kreisendem Blaulicht und Sirenengeheul. Höchste Zeit für mich, den Lift hinauf in das Penthouse zu nehmen.

Oben angekommen, vibrierte mein Handy wie ein verrückt gewordener Defibrillator. Als ich auf das Display sah und die Nummer erkannte, spürte ich einen heftigen Stich in der Herzgegend. Nicht der geheimnisvolle Bankier, sondern Phillip rief an. Etwas, das er seit dem letzten Weihnachtsfest nicht mehr getan hatte. Wenn ich bei jemandem vor dem dritten Freizeichen abhob, dann bei ihm.

„Hallo, Sohn. Ich bin gerade in einem riesigen Penthouse im ersten Bezirk. Ein neuer Auftrag, ziemlich gut bezahlt. Eine Familie, die seit Wochen abgängig ist. Was machst du gerade?“

Philipps Stimme klang traurig. Ich kapierte, dass er gerne sein Herz ausschütten wollte, sich aber im letzten Moment doch nicht ganz traute. Um ihn etwas abzulenken, fragte ich ihn, wie es in der Schule so ging, aber da hatte Phil lauter Einser. Und im Schwimmen hatte er erst letztes Wochenende einen Jugendlandesrekord aufgestellt, er war nur noch achteinhalb Sekunden vom Weltrekord entfernt. ‚Ein Klacks‘, hatte ich geantwortet, ‚so lange brauche ich, um eine Moods anzünden.‘

„Da liegen trotzdem noch Welten dazwischen,“ seufzte Philipp in die Verbindung hinein. So niedergeschlagen hatte sich mein Sohn noch nie angehört. Ich nahm mir den gesamten Mut eines stolzen Vaters zusammen und fragte Phil, ob es jemanden in seinem heranwachsenden Leben gab, der Melancholie, Sehnsucht oder sonst ein Scheißgefühl zwischen Depression und Euphorie auslösen konnte.

„Ein Mädchen wird es wohl nicht sein.“
Schweigen.
„Ein Junge?“
Schweigen plus schweres Atmen. Vielleicht lief gerade eine Träne über die glatten Wangen hinab.
„Älter oder jünger?“
„Ach, Papa!“ gefolgt von einer unheimlichen Stille.
„Bist du noch dran?“
Keine Antwort.
„Phil!“
Maximal der Anflug eines Seufzers.
„Antworte bitte!“
Aufgelegt. Natürlich rief ich zurück. Einmal, dreimal, zehnmal, dutzende Male. Dann war die Verbindung blockiert, und eine Mailbox verriet, dass die gewählte Nummer der bescheuerten Telefongesellschaft unbekannt war. Scheiße. Scheiße hoch zehn. Ich rief meine Ex an und schickte sie schnell in die Wohnung. Phil hatte sich im Zimmer verbarrikadiert und machte keine Anstalten, die abgeschlossene Türe zu öffnen.

Ich fragte mich, was der Grund für seine Reaktion sein gewesen sein konnte. Wir hatten uns beim letzten Treffen in der Stadthalle doch gut verstanden, waren uns näher gewesen als jemals zuvor. Ich wusste nun, was der Junge begehrte, und Phil hatte verstanden, wem ich so hinterher war, wenn keiner herschaute. Wir mochten dasselbe. Den männlichen Körper. Einen Schwanz. Einen glatten Hintern. Einen Mund, der ordentlich saugen konnte. Ich hatte tausende Erlebnisse in Saunen, Dunkelkammern und Münzklos gehabt – aber Phil? Vielleicht eines, zwei oder drei – oder doch mehr? Warum hatte er jetzt aufgelegt, meine Nummer blockiert und sich in sein Zimmer gesperrt, wo er Agnes zufolge haltlos weinte. Ich hatte ihm doch nur gesagt, wo ich mich gerade befand: in diesem Penthouse im ersten Bezirk, das einer Familie gehörte, die seit Wochen verschwunden war. Philipp hatte darauf geschwiegen. Sein schweres Atmen war einige Sekunden lang am anderen Ende der Verbindung zu hören gewesen, kurz bevor er aufgelegt hatte. Ein nächstes Steinchen zu diesem Mosaik, das mir noch immer unbekannt war?

Ich drehte mich um. In diesen Luxusräumen war noch längst nicht alles erkundet. Ich machte mich daran, sämtliche Laden zu öffnen – und Leute, es waren verdammt viele. In der Diele, in der geräumigen Wohnküche, unter der Kochinsel und an den raumhohen Einbauschränken in jedem einzelnen Zimmer. Ich wühlte mich durch feinstes Bone-China-Geschirr, teuerstes Silberbesteck und riesige Weinkelche, inspizierte Kästen und Schubladen voller Designerkleidung, untersuchte dutzende elektronische Haushaltsgeräte. Nippes, Krimskrams und digitale Gimmicks im Wert von hunderttausenden Euros. Ich überlegte mir, ob ich nicht einen Zestenreißer, das vergoldete Cocktailset und ein paar Flaschen vom guten alten Pernod mitnehmen sollte. Mein Diebstahl würde kaum auffallen. Allein die Linn-Verstärker kosteten so viel wie ein Kleinwagen. Jeder einzelne von ihnen.

In einer Lade im Wohnsalon entdeckte ich einen schwarzen Telefonapparat. So ein Vintage-Ding mit originaler Wählscheibe. Wahrscheinlich bei einem dieser überteuerten Secondhand-Läden im ersten Bezirk erstanden. Offensichtlich der einzige Gegenstand, der sowohl hier als auch in meinem Appartement vorkam – wenn man von den giftgrünen Absinth Flaschen absah. Als ich den Apparat auf die Marmorplatte oberhalb der Lade stellte, bemerkte ich, dass er sogar noch angeschlossen war. Und dass es in der Lade einen scharf gestellten Anrufbeantworter gab, dessen Display eine Zahl zeigte: 31. Einunddreißig Anrufe in Abwesenheit? Auf diesem Uralt-Telefon, das aus welchen Gründen auch immer in einer Lade versteckt war? Ich spielte an den Tasten herum und hatte das Gefühl, die gespeicherten Aufnahmen frühestens im nächsten Leben abhören zu können. Meine Frau Agnes rief am Handy zurück und verriet, dass Phil aus seinem Zimmer gekommen war und mit dem Rad das Weite gesucht hatte. Wohin wusste höchstens der Südwind, der gerade über der Stadt tobte.

„Ich bin in einer Stunde zurück,“ hatte er seiner Mutter im Davoneilen zugerufen. Die Pubertät musste noch immer die reine Verdammnis sein, der neunte und letzte Höllenkreis auf einer verdammt räudig gewordenen Erde.

Ich goss mir etwas Absinth in den nächstbesten Weinkelch, ein mundgeblasenes Grand-Cru-Glas um mindestens zweihundert Euro. In der luxuriösen Dachgeschosswohnung gab es keinen billigen Gegenstand außer den veganen Bio-Hüttenkäse, den Philipp auch so gern mampfte. Mit ein bisschen Honig und Zimt gewürzt, damit es ein wenig Richtung Nachspeise schmeckte. Der Junge war so verdammt diszipliniert. Genauso sensibel wie ein zehnjähriges Kind, dem nur allzu leicht die Tränen übers Gesicht liefen. Warum hatten ihn meine flapsigen Bemerkungen über diesen Dachausbau in der Neutorstraße derart aus der Fassung gebracht? Wusste er etwas über die Familie, die seit Wochen abgängig war? Kannte er jemanden davon, aber wen? Der Vater und die Mutter schieden wohl aus. Und Mädchen interessierten ihn nicht. Blieb der junge Student, der auch eine Freundin hatte und wie ein Prinz aus Beverly Hills aussah: hochgewachsen, schlank, aber definiert, mit einem Blick, der Tote aus ihrem Dauerschlaf reißen konnte. Offiziell hetero, hinter den Kulissen etwas bi – so jemand stand wohl eher auf ein ausgewachsenes Kamel als diesen schüchternen Jungen, der nur das Schwimmen und die guten Noten im Kopf hatte. Aber was wusste der Vater eines 16jährigen über den eigenen Sohn? Wenig, was den Jungen wirklich betraf. Vor allem kannte er dessen Geheimnisse nicht, Phils unterdrückte Begierden, seine Sehnsucht nach etwas, das er selbst noch nicht aussprechen konnte.

Der Absinth begann wie ein Helikopter in meinem Kopf zu rotieren. Die Finger spielten aufs Geratewohl am Anrufbeantworter herum, und irgendwann, oh Wunder, hatte ich das Ding aus den 80er Jahren aktiviert. Nach ein paar Knacklauten ertönten verschiedene Stimmen – ein kurzes Hörspiel über den Reichtum durchspülte meine verstopften Gehörgänge. Ob man sich zum Golf oder in einer Weinbar verabreden wolle? Und das Angebot für eine Immobilie im 19. Bezirk noch immer aufrecht sei, das Staatsopern-Abo verlängert oder die Lieferung von 200 Flaschen Bordeaux-Weinen auf nächsten Dienstag verlegt werden sollte? Die ganze bürgerliche Fassade, die jeden Augenblick in sich zusammenstürzen drohte. Und das tat sie dann auch, mit der nächsten Stimme aus den krachenden Minilautsprechern: „Hier Zlatko aus dem Armony-Klub. Eure Kathy hat ihren verdammten Koffer noch immer nicht abgeholt. Die 2000 Euro hat sie bis jetzt auch ignoriert. Ich habe den Nuttenlohn in ein Kuvert gesteckt und bitte jemanden von Euch, die beiden Sachen möglichst schnell aus dem dritten Bezirk abzuholen. Ihr wisst schon wo. Zlatko wartet nicht gern. Schönen Tag. Ende.“

Ich musste diese Audioaufzeichnung ungefähr 30mal wiederholen, bis ich den Wortlaut wirklich inhaliert hatte. Studio Armony. Dritter Bezirk. Ein zurückgelassener Koffer. Und das Kuvert mit 2000 Euro für irgendwelche Sexspiele. An Kathy gerichtet. An die 18jährige Tochter dieser Vorzeigefamilie. Ich leerte den Rest der Absinthflasche und warf mich auf eine Liege neben dem Dachswimmingpool. Schnarchte ein paar Runden, bevor ich abends unter Sternen und einem Feuerwerk im Westen der Stadt zu mir kam. Wahrscheinlich nur, weil mein Handy angeschlagen hatte wie ein Kettenhund aus der Hölle.

Auf dem Display klafften dreizehn Anrufe in Abwesenheit und folgende Nachricht: „Habe dich öfters zu erreichen versucht. Pennst du schon tagsüber? Philipp ist wieder da. Lässt dir liebe Grüße ausrichten. Und dass du auf dich aufpassen sollst. Agnes.“

*

Das Studio „Armony“ – wohl nach einigen Konkursen mit diesem Kunstwort bedacht – befand sich im Erdgeschoss eines rosa angestrichenen Zinshauses, das wie das gesamte übrige Viertel im dritten Bezirk schon bessere Zeiten erlebt hatte. Hinter dem mit roten Lichtketten versehenen Eingang baumelte ein dreckiger Latexvorhang in der leichten Sommerbrise, dahinter lauerte eine Brandschutztüre mit Klingel an der linken Mauerseite. Ich drückte ein paar Mal auf den schwarzen Knopf und starrte in die Linse einer Überwachungskamera. Eines war so sicher wie der Gestank in einer versifften Toilette – hier kamen nur die wirklich schrägen Leute vorbei: ältere Herrschaften, die gerade etwas Staatsknete bekommen hatten, Lastkraftwagenfahrer, die nach 2000 Kilometer Autobahn einen engen Po brauchten und gewisse Geilspechte mit Gefährdungsprognose, die sich hier mit einem Koffer voller Keuschheitsgürtel, siebenschwänzigen Peitschen und Dildos mit Ausmaßen von korinthischen Säulen einfanden. Nach einem leisen Surren ging die Tür auf, und ich befand mich an einer Art Rezeption, in der ein tätowierter Kerl Anfang fünfzig seine Fingernägel mit einem Wurfspieß manikürte. Keine Frage, ich hatte schon in vertrauenswürdigere Visagen geschaut.

„Sie müssen Zlatko sein,“ versuchte ich das Gespräch, das keiner von uns beiden wollte, in die Gänge zu bringen.
„Holen Sie endlich Kathys bescheuerten Koffer ab?“, fragte der Typ und nickte zu einer vergilbten Getränkekarte hinüber, „wenn Sie schon so dreist sind, die Sachen mitzunehmen, dürfen Sie auch eine Flasche Sprudel spendieren. Keine Sorge, in diesem Kuvert sind 2000 Euro in bar.“
„Was hat meine Nichte hier so gemacht?“, spielte ich den verblüfften Provinzonkel, der gerade die dunkleren Seiten seines Patenkinds zu entdecken begann. Auf der schmuddeligen Faltkarte waren drei Schaumweine gelistet: einer hieß ‚Metternich‘, der zweite ‚Mussolini‘ und der dritte ‚Geldermann‘, wie die Namen dreier gesuchter Verbrecher aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Ich deutete auf den deutschen Sekt im niedrigen dreistelligen Bereich, und jemand der sich Lola nannte, aber garantiert keine Frau war, schenkte uns diesen Geldermann ein: drei schlecht gereinigte Acrylflöten, mit trübem Schaumwein befüllt.

„Was Kathy hier gemacht hat? Was glauben Sie: Lego gespielt? Den dreibeinigen Hund Gassi geführt?“

Der Bosnier mit dem Fünf-Tages-Bart und mehreren Narben im Gesicht lachte so hinterhältig wie zynisch. Einen Augenblick befürchtete ich, er würde seinen Wurfspieß in meine Richtung schießen, aber er griff nur überraschend schnell nach dem Glas und sah grinsend zu, wie ich meine Zeche aus dem Kuvert der abgängigen jungen Frau beglich. Danach schloss er die Augen und kippte das perlende Zeug in einem Schluck hinunter. Ich nippte am zwielichtigen Sprudel wie ein kleines Mädchen an einer Hostie bei der Firmung oder so ähnlich.

„Sie trinken nicht oft diese Puffbrause, oder?“ ergötzte sich der tätowierte Kerl an meinen nach unten gekurvten Lippen.
„Haben Sie Absinth da?“
„Sie meinen Pernod? Ein paar tschechische Lastkraftwagenfahrer stehen darauf. Die inhalieren das Zeug und werden dann so scharf, dass sie oft die kostbarsten Stellen meiner Mädchen hier ruinieren.“

Ich versuchte mir das Szenario bildlich vorzustellen und scheiterte kläglich. Das in die Jahre gekommene Wesen ohne bestimmtes Geschlecht schob mir eine verstaubte grüne Flasche mit dem weißen Etikett und der blau-roten Aufschrift herüber. Ich goss mir etwas von der guten Fee in den Geldermann und fühlte mich gleich etwas besser.

„Was hat mein …äh… Patenkind hier wirklich gemacht?“ bohrte ich hartnäckig weiter. Den verdammten Onkel dieser verruchten Prinzessin glaubwürdig zu spielen, fiel mir alles andere als leicht.
„Nur die dreckigsten Dinge,“ grinste Zlatko breit über das ganze vernarbte Gesicht, schabte mit seinem Wurfspieß am nächsten Fingernagel herum und fixierte mich zwischen der Geldermann-Flöte und einem an uns vorbeihuschenden Freier.
„Arschficken war Standard bei ihr, sie hat alle Körperflüssigkeiten geschluckt und…“
Mehr brauchte der tätowierte Experte für niedere Lebensformen nicht zu erzählen. Ich vernichtete die Kombi aus Pernod und Geldermann, beglich den noch offenen Rest und suchte danach das sichere Weite. Der Koffer in meiner Hand wog gefühlt eine Tonne. Außerdem war er knallrosa. Während ich das Ding in meinem Toyota verstaute, wurde ich von einer langsam vorüberfahrenden Polizeistreife gemustert. Wahrscheinlich überlegten sich die Cops, ob sich eine Anhaltung rentieren würde. Die Ampel sprang rechtzeitig auf grün, und die Bullen fuhren weiter, ihrer Stammpizzeria „Bella Napoli“ entgegen, von emigrierten Talibans betrieben, die sich als Sizilianer ausgaben. Die Welt war ein globales Dorf geworden, dafür längst aus allen Fugen geraten. Orientierungslos steuerte ich den Wagen durch die Straßen des dritten, vierten und ersten Bezirks, begleitet von Smetanas ‚Moldau‘, den ‚Vyserad‘-Teil, in Dauerschleife gespielt. Das Wetter war schön, die Leute auf den Gehsteigen hatten Sommerbekleidung an und leckten unbekümmert an ihren Eistüten. Keiner von ihnen schien auch nur das kleinste Problem mit seiner Existenz haben. Nur ich starrte den verdammten rosa Koffer auf der Rückbank an und stellte mir vor, welche grotesken Geheimnisse er für mich bereithalten würde.

*

Chlorgeruch und Trillerpfeifengeräusche. Die regelmäßigen Kraulbewegungen meines Sohnes und die mitgestoppten Durchgangszeiten, die auf einer Anzeigentafel neben der äußersten Schwimmbahn festgehalten wurden. Bahn Nummer fünf war wieder um dreieinhalb Sekunden vorne, Philipps Bahn, die Bahn meines Sohnes. Es war unglaublich, wie sehr sich der Junge mit meinem genetischen Code in den Zellen so verausgaben konnte: für mich stellten schon dreihundert Meter Spaziergang eine unmenschliche Höchstleistung dar.

Nachdem der Junge sein Intervalltraining beendet hatte, hörte er sich mit blau angelaufenen Lippen geduldig die Ratschläge seines Trainers an – ich hätte an seiner Stelle dem Fettwanst im schmuddeligen Jogginganzug eine geknallt, aber Phil war da anders – ein Sportler durch und durch, der vor Ehrgeiz nur so bebte und höchst konkrete Ziele vor den Augen hatte: zuerst Jugendstaatsmeister zu werden und danach auch in der allgemeinen Klasse zu gewinnen, um irgendwann bei den Europameisterschaften antreten zu dürfen – die Träume meines Sohnes waren in Sekunden zu messen. Was auch immer kommen würde, ich war schon jetzt stolz auf ihn. Sah Phil zu, wie er sich behutsam abtrocknete, mit kleinen Hüpfbewegungen das Chlorwasser aus dem Trommelfell schüttelte, wie er mit dem Handtuch die letzten nassen Stellen auf seinem glatten, definierten Körper betupfte, die knappe Badehose, die kecke Beule darin, der knackige Po beim Abgang in die Umkleidekabinen. Er war noch immer ein schüchterner Junge, andererseits aber auch schon der junge Mann, der seine Umgebung betörte, mit seinem Lächeln, seinen hochgezogenen Augenbrauen, seinem bergseeklaren Blick, seiner Direktheit, die noch nicht von zu vielen Lügen gebrochen war.

Minuten später saß er auf dem Beifahrersitz und lächelte mich von der Seite her an, es gefiel ihm, dass ich ihn jetzt regelmäßiger besuchte, an seinen Trainingseinheiten Anteil nahm, mich wenigstens oberflächlich für den Schwimmsport im Allgemeinen und für Phils fabelhaften Rekordzeiten in den Lagen- und Kraulbewerben zu interessieren begann.

„Es klingt blöd, aber ich möchte Weltmeister werden,“ flüsterte der Junge mit großen Augen, als hätte er nur einen einzigen Wunsch parat, und zwar genau diesen. Ganz oben zu landen. Als erster in einem WM-Finale anzuschlagen. Mit feuchten Augen die Nationalhymne auf dem Siegespodest zu verfolgen. Die Goldmedaille ungläubig an seiner definierten Brust zu bestaunen. Im anschließenden ORF-Interview den Sieg seinen schnöden Alten zu widmen oder nein, wohl eher dem mir noch unbekannten jungen Mann, dem Philipp anscheinend zugetan war.

Wir saßen in einem Steakhouse im fünfzehnten Bezirk, nicht weit vom Meiselmarkt entfernt, beinahe in Kriechweite von Agnes Altbauwohnung im dritten Stock eines Theodor-Bauer-Zinshauses. Nicht dass ich wusste, wer dieser Bauer gewesen war, ich hatte nur dessen Name auf einer Marmortafel über dem Eingang des abgewohnten Gebäudes gelesen. Dafür war die Miete niedrig, die Nachbarschaft auszuhalten und der Garten im Hof für kleinere Feste und Grillabende bestens geeignet. Nicht zu vergleichen mit meinem 40-Quadratmeter-Loch in der Sterngasse, erster Bezirk zwar, dennoch finster und heruntergekommen. In meinem Kühlschrank sah es aus wie in einem wissenschaftlichen Experiment und in der Küche liefen unkontrollierte Gärungsprozesse ab. Vielleicht sollte ich die vielen geleerten Pernod-Flaschen entsorgen, sämtliche Fenster zwei Wochen lang durchgehend geöffnet halten und einen fähigen Kammerjäger engagieren – bis vor wenigen Tagen hatte sich meine Katze um das Ungeziefer gekümmert. Dann war sie an einem Tumor oder so zugrunde gegangen und ich hatte Isola am Friedhof der Namenlosen neben dem Grab eines elfjährigen Jungen beerdigt, damit der Kleine ein Haustier zum Spielen hatte, das genauso tot war wie er selbst, nur etwa hundert Jahre später unter die feuchtkalte Erde gekommen.

Ich verlor mich in gewissen Betrachtungen zwischen französisch angehauchtem Existentialismus und dem Lied von der Zelle, nippte dazwischen an meinem Absinth und hörte halbherzig den Ausführungen meines Sohnes zu, der von Agnes skurriler Jenseitsbeziehung mit diesem flämischen Hellseher aus dem 18. Jahrhundert erzählte, unterbrochen von Schulausflügen, Exkursionen und Museumbesuchen. Phil redete von allem anderen außer sich selbst: seinem Innenleben. Und seinen Gefühlen. Ob er nachts heimlich in gewisse Lokale ging, ob er sich in Parks oder auf Schultoiletten vergnügte, ob er nach etwas männlicher Nähe hinter dem Chlorgeruch seiner Lieblingssportart suchte und dabei vielleicht maßlos enttäuscht worden war. Wer immer diesem Jungen auch nur den kleinsten Schmerz zufügte, würde es mit mir zu tun bekommen, früher oder später. Ich war zu allem fähig, was es die Versehrtheit jenes einzigen Menschen betraf, der meine beschissene Welt einigermaßen erhellte.

Wie der König aller Fleischfresser säbelte ich an meinem blutigen Steak herum, ignorierte die grünen Bohnen daneben, und sah kauend meinem Sohn zu, wie er vorsichtig die Panier von den Backhändelstreifen auf seinem Teller zu schaben begann, lauter überflüssige Kalorien, wie der Junge betonte, während er die goldgelb frittierte Panzerung des weißen Fleisches zu kleinen Haufen am Tellerrand türmte. Er liebte Salat über alles, hatte vorher drei Austern geschlürft, und wollte zum Nachtisch nichts als eine Banane haben, ein Vorhaben, das in der Restaurantküche bestürzte Ratlosigkeit auslöste. Irgendwann schickten sie einen Lehrling in den benachbarten Eissalon, um dort die verdammte Banane für Philipp zu organisieren.

In der siebenten Klasse Gymnasium stand der Junge in allen Fächern auf Eins, nur so am Rande erwähnt, um dazulegen, wie sehr sich Kinder von den eigenen Eltern abheben konnten. Lauter Einsen. Nicht einmal im ersten Schuljahr hatte ich lauter Einsen gehabt, und ab der dritten Klasse hatte ich mich mit praktisch jedem auf dem Schulhof geprügelt, war zwischen dem neunten und dem vierzehnten Lebensjahr täglich mit blutiger Nase oder blauen Flecken am ganzen Körper nachhause gelatscht, die Schulpsychologen hatten ihre dämlichen Köpfe geschüttelt, für die meisten Lehrer war ich ein schräger ADHS-Fall geworden und irgendwann verlor sich meine Spur als Schüler zwischen Klassenbucheintragungen und Relegationen in einem Labyrinth, das man die richtige Welt nannte. Die Welt der Erwachsenen. Des Alkohols und der Drogen. Des miesen Verbrechens. Nicht gerade jene Welt, die ich Phil überlassen wollte. Seiner Empathie mit den Mitmenschen. Seinem ungebrochenen, offenen Blick. Und der gerade erst aufgeflammten Gier nach dem Leben.

„Warum hast du dich vor einigen Tagen so seltsam benommen?“, wollte ich schließlich wissen, und Phil zuckte nur mit den Schultern.

„Manchmal reagiere ich eben komisch. Einfach so. Ich weiß auch nicht warum. Tut mir leid.“

Der Junge musterte den angehäuften Turm aus übriggelassener Backhändelpanier. Seine Mundwinkel zuckten. Sein dichtes braunes Haar fiel ihm dabei in die Stirn. Er trug ein Flinserl im rechten Ohr. Ein Detail, das mir erst jetzt auffiel.

„Du verheimlichst deinem alten Herrn etwas.“

Ein halbes Lächeln, aus der Hüfte geschossen. Der Junge strich die braunen Strähnen aus seinem Gesicht, bemühte sich um Haltung und Contenance. Wie zerbrechlich er jetzt wirkte, wie eine kostbare Vase aus der Ming-Dynastie. Dann schüttelte er seinen hübschen Kopf und versuchte mir einen Witz zu erzählen. Ein Vorhaben, das kläglich scheiterte, aber wir lachten trotzdem beide darüber. Phil war so ein verdammt süßer Junge. Und verbarg mit aller Kraft etwas Unaussprechliches vor mir.

Ich dachte an den rosafarbenen Koffer in meiner Wohnung. An dieses verdammte Gepäckstück, das ich in Zlatkos Puff im dritten Hieb übernommen hatte. Kathys Koffer. Samt einem Kuvert mit 1.800 Euro darin, zwei Hunderter hatte ich für eine Flasche Geldermann-Sprudel und einem achtfachen Pernod im Studio Armony hinterlassen. Der rosafarbene Koffer stand noch verschlossen wie eine Auster in meiner Wohnung herum. Ich brauchte wohl einen massiven Hammer und mehrere Meißel dafür, weil der Koffer mit einem Zahlenschloss versperrt war. Mit dem windschiefen Küchenmesser und meinem rostigen Taschenfeitel war ich bisher kläglich gescheitert. Phil malte mit seinen dünnen Fingern irgendwelche Figuren auf seine unbenutzte Serviette. Ich sah ihm dabei zu. Es schienen Zahlen zu sein: zwei identisch geschwungene Ziffern und eine sehr eckig aussehende Zahl.

„Zum Öffnen eines Koffers braucht man eine dreistellige Nummernkombination, oder?“ fragte Phil und sah mir direkt in die Augen. Sein Blick war irgendwo zwischen Trauer und heller Empörung angesiedelt, also im Nirgendwo seiner geheimen Gedanken. Ich hatte ihm eher beiläufig von diesem Koffer erzählt. Einem rosafarbenen Koffer, der Kathy gehörte, die mit ihrer Familie in diesem geräumigen Dachausbau in der Neutorstraße gewohnt hatte, bevor alle vier von einem Tag auf anderen von der Bildfläche verschwanden. Die Erwähnung dieser Wohnung hatte Phil völlig auszucken lassen. Und jetzt zeichnete er immer wieder dieselben Zeichen auf seine Serviette.

„Genau drei Zahlen“, bestätigte ich, und plötzlich konnte ich die geheimen Zeichen, die Phil mit seinem dünnen Zeigefinger auf die fleckige Serviette malte, entziffern: es waren zwei Sechsen, und es war eine Eins.

*

Das rosafarbene Gepäckstück lag offen vor mir wie ein enthülltes Geheimnis. Die Zahlenkombination, die Phil mit dem Finger auf die Stoffserviette gemalt hatte, war richtig gewesen. Und sie glich auch den Ziffern, die ich an der Mauer in der Tiefgarage neben dem Penthouse-Aufzug entdeckt hatte, ein paar Zentimeter von der Stoßstange des Porsche Panamera entfernt. Zwei Sechsen. Eine Eins. Das kleine a stand für etwas, das ich noch nicht dechiffriert hatte, aber ein paar Mosaiksteinchen schienen dennoch dazugekommen zu sein. Das große Bild dahinter war erst in wenigen Konturen zu sehen – dass es aber eine Art Hölle darstellen würde, schien mir immer klarer zu werden. Eine Hölle, die jedes einzelne Mitglied der verschwundenen Familie betraf. Und womöglich auch Phil. Meinen Sohn. Der in wenigen Tagen in ein Trainingslager bei Rom fahren würde. Phil hatte das Intensivtraining in Italien nur nebenbei erwähnt, gerade zu beiläufig. Ich hatte nicht weiter darauf geachtet, sondern mein blutiges Steak weggeputzt, einen dritten Pernod Sour genossen und in die Augen meines Sohnes geschaut. Diese Klarheit darin wahrgenommen. Jene Eindeutigkeit, die von der Lügenwelt da draußen kaum noch etwas erahnte.

Ich wühlte mich durch den Inhalt des Koffers. High Heels, kurze Leder- und Latexröcke, verschiedene Tops in den Generalfarben der Geilheit: Schwarz, rot und pink. Dazu Schminksachen in luxuriöser Aufmachung, jedes einzelne Fläschchen schien sauteuer zu sein. Kosmetikprodukte, die man sicher nicht in der Drogerie an der Ecke bekam. Vielleicht online oder irgendwo im ersten Bezirk, im Goldenen Quartier zwischen dem Park Hyatt und dem neuen Rosewood Hotel am Petersplatz. Je länger ich auf die ausgebreiteten Stücke starrte, desto intensiver hatte ich das Gefühl, auf falsche Fährten zu starren.

Zum Henker nochmal: Welches 18jährige Mädchen aus bestem Haus kam auf die Idee, sich als Nutte in einem heruntergekommenen Sexstudio zu verdingen? So fieberhaft ich auch überlegte, mir fiel kein einziges Motiv dafür ein. Wer in übertriebenem Luxus aufwuchs, hatte wohl kaum das Bedürfnis, den eigenen Körper Fernfahrern und Ausgleichsrentnern feilzubieten. Sich Männern auszuliefern, die von ganz unten kamen, und deren Ausdünstungen nicht gerade mit dem neuesten Duft von Chanel konkurrierten. Vormittags eine Elitesuche besuchen, dann die Ballettstunden an der Staatsoper mit Bravour absolvieren und nachts oder am Wochenende im ‚Studio Armony‘ eine abgefahrene Prostituierte zu spielen? Mit 18 Jahren? Einem IQ von mindestens 140? Und einem Millionenerbe vor den gierigen Augen?

Ich hatte selten gute Ideen, aber diesmal überfiel mich eine. Ich wählte Zlatkos Nummer und wartete endlose Minuten, bis der Typ abhob. Ein bulliger Glatzkopf, reich tätowiert, der seine Fingernägel mit einem verbotenen Wurfspieß manikürt hatte. Nebenher seinen Geldermann geleert und sich an meiner Unerfahrenheit mit seinem schäbigen Gewerbe delektiert hatte. Ein paar seiner Untergangssätze hatte ich sogar noch im Ohr. Alles ist ein verdammter Markt, Bruder. Die einen verfügen über einen jungen Körper, die anderen sind schon eher im Zentralfriedhof zuhause. Und spüren trotzdem dieses Jucken in den Eiern. Für ein paar Hunderter lösen sich ihre Probleme. Der junge Körper steht dem verwelkenden zur Verfügung. Manche Freier reden auch nur über die tote Ehefrau. Weinen sich aus. Lassen sich allerhöchstens einen abwichsen. Und kommen trotzdem vor lauter Dankbarkeit wieder.

„Was gibt’s?“ fräste sich Zlatkos Stimme in meine Erinnerung an den Ausflug in seine Kleinsthölle hinein. Ich fragte ihn, wie er zu Kathy gekommen war. Ich meine, für so ein Geschöpf aus der Luxuswelt gab es keine halbseidene Vermittlungsagentur. Keinen Katalog. Keinen Verbindungsmann mit fetten Goldkronen und zwanzig Vorstrafen. Wer also hatte diese Prinzessin an Zlatko vermittelt? Der Heilige Geist? Die Schulgemeinschaft vom Theresianum oder dem Sacre Coeur? Wohl kaum.

„Da war so ein junger Typ dabei,“ legte Zlatko nach ein paar Schweigeminuten los, „ein ganz schlimmer Finger, wenn Sie mich fragen.“
„Na klar frage ich Sie: wie hat der Typ ausgesehen? Passen Sie auf, ich schiebe Ihnen ein paar Stichwörter hinüber: Anfang zwanzig, dunkelbraune bis schwarze Haare, sehr akkurat geschnitten, markantes Gesicht, hohe Backenknochen, intensiver Blick aus grauen Augen, weich geschwungene Lippen und ein Grübchen am …“
„Genau so,“ unterbrach Zlatko meine Personenbeschreibung, „Sie brauchen mir gar kein Bild zu schicken, Sie haben diesen Spinner so genau wie eine digitale Kamera portraitiert.“
„Woher wissen Sie, dass er so etwas war?“
„Dass wer was war?“
„Dieser junge Typ: ein Spinner.“
„Das sah man doch auf den ersten Blick. Schleimiges Grinsen. Stechender Blick. Blasiertes Gehabe. Er wollte, dass sie anschaffte. Ihren Körper auslieferte und verbrauchte. Es gab ihm einen Kick, und die Kleine…“
„…ja…?“
„…spielte mit. Warum weiß ich auch nicht. Die Leute drehen heutzutage immer mehr durch. Sind einfach irre geworden vor lauter Koks und Amphetaminen. Die ganze Welt ist aus dem Ruder gelaufen.“

Zlatko setzte zu einer Brandrede über den Zustand des dritten Planeten neben der Sonne an. Ich legte auf, weil ich keine Lust auf den Weltverbesserungssermon des Wurfspieß-Bosniers hatte. Warf lieber noch ein paar Blicke auf die High Heels, die verdammten Latexröcke und knappen Tops, die jede noch so kleine Brust zu üppigen Fleischkugeln strafften. Dass mir einer dabei abging, konnte ich nicht gerade behaupten.

Ich kippte einen kurzen Pernod hinunter und zündete die nächste Moods an. In meiner Wohnung roch es genauso übel wie die Sache zum Himmel stank. Ein Student aus bestem Haus hatte seine gerade erst volljährig gewordene Schwester genötigt, sich als Amateurnutte in einem heruntergekommenen Sexklub zu verdingen. Von mir aus hatte dieses Manöver den jungen Mann angetörnt, aber warum hatte Kathy mitgespielt? Auf dem Küppers-Bild sah die Vorzugsschülerin aus, wie man sich eine Prinzessin live aus dem Märchen vorstellte: leicht anämisch, makellose Gesichtszüge, wunderschöne Haare, ziemlich sicher eine perfekte Figur, aus einer Familie, die eines mit Sicherheit nicht war: arm. Ganz im Gegenteil – wer in einem 850 Quadratmeter großen Penthouse in der Neutorstraße gegenüber der ehemaligen Börse aufwuchs, konnte gelassen Richtung Zukunft linsen: auch wenn man alle Schulen schmiss und außer Drogenkonsum und psychischen Ausnahmezuständen nichts auf die Reihe brachte, wartete im schlimmsten Fall ein fetter Nachlass auf einen. Die verzogenen Rechtsnachfolger in spe mussten nur ein paar Jahrzehnte zwischen Schönheitsfarmen und Technoclubs totschlagen, bevor ihnen nach dem Erbfall ein Notar den Zugang zur Kohle ermöglichen würde, in einem zweihundertseitigen Vertrag, den außer einigen Spitzenjuristen kaum jemand verstand. Niemand aus diesen Kreisen hatte es nötig, sich als Nutte oder Zuhälter in einem schäbigen Vorstadt-Bordell zu verdingen, unter Aufsicht eines bosnischen Gorillas, der sich mit einer pavesischen Hippe die Eier kratzte oder so ähnlich.

Warum also hatte die Vorzugsschülerin mitgemacht? War sie ihrem Bruder hörig gewesen? Wie ein entrückter Anthropologe starrte ich auf die ausgebreitete Latexwäsche, die Kosmetiksets um tausende Euros, auf die verdammte siebenschwänzige Peitsche und auf Dildos, die nicht viel kleiner als die Elfenbeinhörner afrikanischer Elefanten waren. Sex war schon eine saublöde Erfindung. Einerseits so notwendig wie Wassertrinken, andererseits von den meisten Religionsgemeinschaften dämonisiert und durch die Pornoindustrie in purem Gold aufgewogen – ein wenig naschte davon auch Zlatkos trauriges Bordell im dritten Hieb mit. Bedenkenlos zahlten Milliarden von Menschen mit ihren persönlichen Daten für die fleischfarbenen Clips oder bekamen ein paar Schekel für ihre schäbigen Dienste nachgeschmissen. Die Legionen zwischengeschalteter Vermittler dagegen verdienten sich krumm. Lachten sich einen Ast aus der Kehle. Und zählten rund um die Uhr das vergeudete Geld ihrer Kunden.

Diese allgemeinen Betrachtungen über den Irrsinn da draußen halfen mir auch nicht weiter. Meine paar Mosaiksteinchen verwiesen auf ein wirres Bild, das mir keiner für bare Münze abkaufen würde, am wenigsten der geheimnisvolle Bankier. „Wissen Sie, ihre Enkelin hat sich in einem Vorstadtbordell prostituiert, und ihr Zuhälter war der eigene Bruder, dieser Vorzeigestudent.“ Aufgelegt. Und nie wieder angerufen. Wenn ich Glück hatte, verzichtete der Unbekannte darauf, seine Anzahlung von zweimal 20 Riesen zurückzufordern.

Was ich bisher ermittelt hatte, ergab keinen Sinn. Vielleicht war irgendetwas in der verdammten Wäsche versteckt? Ich wühlte mich durch die Latexfetzen und befummelte die High Heels wie ein Perverser, der gewisse Körperflüssigkeiten daraus schlürfen wollte. Nichts. Nicht der kleinste Hinweis auf irgendwas. Warum hatte die Prinzessin diesen verdammten Koffer im Bordell gelassen? Ihren Anteil an der Schwarzkohle nicht abgeholt? War die überstürzte Familienflucht so überraschend gekommen? Ich hielt die Fläschchen gegen das Licht. Eines nach dem anderen. Die meisten waren kaum befüllt. Kathy musste das Zeug regelmäßig benutzt haben. Lauter französische Namen, die irgendwelche Düfte und Tinkturen enthielten. Das letzte Fläschchen war leer. Und als ich genauer hinsah, entdeckte ich etwas darin. Eine Tablette? Ein Stück Würfelzucker? Einen Schwangerschaftsabstrich? Ich öffnete den Verschluss und schüttelte den Inhalt auf meine Handfläche. Es war ein rechteckiges dünnes Stück aus recyceltem PVC. Eine – wie hießen diese Dinger noch – ach ja: eine SIM-Karte.

*

Das Büro der „Luxury-Living-Immobilien-GmbH“ lag direkt unter dem protzigen Dachausbau der verschwundenen Familie. Tagelang hatte ich nach dem Büro des abgängigen Projektentwicklers gesucht. Im Internet. Auf den Straßen des ersten Bezirks. Im gewerblichen Adressenverzeichnis. Eine Fehlanzeige nach anderen – bis ich die goldenen Schilder neben der Eingangstüre des Neutor-Straßen-Gebäudes zu inspizieren begann. Lauter Ärzte, Rechtsanwälte, ein Primar ohne Kassen und andere Golfspieler mit einem Handicap unter 10. Mittendrin im güldenen Gepränge entdeckte ich das unscheinbare Schild der „Luxury-Living-Immobilien-GmbH“. Endlich. Ich drückte aufs Geratewohl die Taste der Luxusagentur für mehr als besseres Wohnen: zu meinem Erstaunen summte die elektronische Türsperre freundlich und ließ meine Räudigkeit eintreten. Wahrscheinlich erwarteten die Immo-Experten da oben gerade den Pizzaboten, den Postzusteller oder ihren Kokslieferanten.

Oben im Office lief ich einem sportlichen Typ in die Arme, der ungefähr so aussah wie das abgängige Familienoberhaupt: längere Haare, Solarium gebräunt, markantes Gesicht, aufgeräumtes Lächeln über dem champagnerfarbenen Leinenanzug und einem Hemd in wildem Paisley-Muster. Schick anzuschauen, wenn man in Restaurants wie dem ‚Fabio’s‘ oder der ‚Cantinetta Antinori‘ verkehrte.

Natürlich fragte er sofort, was ich wollte. Gelassen ließ ich die ersten Informationen vom Stapel, beginnend mit meiner Privatdetektei bis hin zur abgängigen Familie, der ich im Auftrag eines hessischen Bankiers auf den Fersen war. Der Typ wurde ein paar Pantone-Farbtöne heller im Gesicht und verlor sein unverbindliches Grinsen wie ein Kleinkind die Milchzähne. Bugsierte mich in sein Büro, sperrte hinter uns ab, wuchtete seinen trainierten Leib auf einen Designer-Drehsessel und starrte mich durchdringend an.

„Eine äußerst rätselhafte Geschichte,“ begann er stockend wie ein lernschwacher Unterstufenschüler, der zur Konjugation unregelmäßiger lateinischer Verben vor die Tafel zitiert worden war, „und allem Anschein nach tragisch. Ich befürchte, nach mehr als sechs Wochen ohne das geringste Lebenszeichen vom Schlimmsten ausgehen zu müssen.“

Ich nickte solidarisch mit dem Kopf und hoffte, der Typ würde mir etwas zu trinken anbieten. So fassungslos wie der betuchte Solariumjünger wirkte, konnte er jetzt ordentlich Alkohol gebrauchen. Anscheinend beherrschte er die Kunst des Gedankenlesens, weil er innerhalb von zehn Sekunden seinen Kopf hob und mich mit hedonistischem Grinsen zu mustern begann.

„Entschuldigen Sie, wir beide brauchen jetzt einen Drink. Whisky? Rum? Cognac? Champagner?“ Er riss eine Tür zu einer Art Flügelaltar auf, der allerhand bunte Flaschen enthielt. In der zweiten Reihe entdeckte ich meinen alten Bekannten: Monsieur Pernod.

„Mit dem Absinth hinter den Single Malts wäre mir weiter geholfen,“ lächelte ich, und der Typ holte zwei Bleikristallgläser aus einem beige lackierten Wandschrank hervor, schüttete jede Menge Eiswürfel hinein und goss mir reichlich Pernod in den Eimer, während er das eigene Bleikristallglas mit einem 25jährigen Macallan befüllte.

„Auf die Lösung des Rätsels,“ versuchte er sich mäßig erfolgreich an einem Trinkspruch. Wir tranken ein paar tiefe Männerschlucke und bemühten uns nicht zu husten. Danach schloss der Immobilienentwickler Nummer zwei kurz die Augen, dachte angestrengt nach und stellte mir die üblichen Fragen: Wie lange ich mich schon mit diesem Fall beschäftige? Ob ich bereits in der Wohnung darüber gewesen sei? Was zum Henker ich bisher in Erfahrung gebracht hätte? Ungefähr in dieser Reihenfolge. Ich beschränkte mich auf ein paar dürftige Angaben und rückte dann etwas näher an den Magister für verkaufsorientierte Überredungskunst heran. Hermann Max stand auf einer Art Tischkarte in goldenen Lettern geschnörkelt. Was davon Vorname und Zuname war, erschloss sich mir nicht gleich auf der Stelle. War auch egal. Ich interessierte mich mehr für seinen abgängigen Kumpan, diesen Sebastian Schwartz, mit -tz am Ende des Nachnamens, ursprünglich aus Frankfurt, seit vier Jahren in Wien zuhause, genau über diesem verdammten Büro.

„Sebastian ist…naja, war…oder ist noch immer,“ begann der braungebrannte Single-Malt-Schnösel wie die berühmte Schnapsdrossel zu trällern, „…ein hervorragender Immobilienfachmann und Projektentwickler, gewinnorientiert, angemessen risikofreudig, ein sehr guter Netzwerker und bei praktisch allen Kollegen beliebt. Immer nett und trotzdem verbindlich, stets geradeaus, ohne irgendwelche Ausflüchte und Pseudo-Machtspielchen. Im Verhandeln ein As, äußerst abschlussstark, ohne dabei pushy zu wirken.“

Es klang schon wieder nach großer Liebeserklärung. Nach einem Ragout aus tiefer Bewunderung und einer halben Prise Neid statt dem Meersalz. Der Abgängige schien seinem Stellvertreter stets um eine Nasenlänge voraus gewesen zu sein, vielleicht auch um zwei. Möglicherweise waren die beiden sogar eher Konkurrenten als Kollegen gewesen, der eine hatte offensichtlich zwei Kinder, der andere vier, beide waren mit Frauen aus anderen Ländern verheiratet, der Abgängige mit einer Portugiesin und dieser in die Jahre gekommene Schönling vor mir hatte eine lupenreine Französin ergattert. Auf den Bildern am Schreibtisch war die gesamte Familie zu sehen. Rassige Ehefrau. Adrette Kinder im Pflichtschulalter, vielleicht dreizehn, elf, neun und sechs Jahre alt. Lauter Mädchen. Ich betrachtete die Fotos und fragte den Immo-Stellvertreter, ob er mit der abgängigen Familie engen Kontakt gepflegt habe.

„Nicht so intensiv wie Sie vielleicht glauben. Wir wohnen in einer Villa in Grinzing, und Sebastian hat diesen Dachausbau über unserem Büro bezogen. Er war besonders kundenorientiert und empfing die meisten Geschäftsfreunde gleich oben auf der Terrasse. Mit herrlichem Blick auf den Stephansdom und den halben ersten Bezirk. Eine äußerst rare Aussicht. Wissen Sie, dass diese Wohnung mehr als 10 Millionen wert ist? Wo wohnen Sie, wenn ich fragen darf?“

Ich verriet ihm meine Adresse im ersten Bezirk, eine Information, die den Immobilien-Magister sofort hellhörig machte. Mittlerweile hatte er schon den dritten Macallan intus und wurde immer gesprächiger, was nur zu meinem Vorteil sein konnte – beim Ermitteln war schweigen Bronze, und reden dafür pures Gold. Auch wenn ich die Ballade von der makellosen Familie bereits auswendig kannte, zumindest die ersten drei Strophen: ‚Der Prolog: Beide Kinder vielversprechend, um nicht zu sagen hochtalentiert: das Mädchen als Balletttänzerin und Portraitmalerin eher im Kunstbereich, ihr älterer Bruder ein angehender Jurist kurz vor dem Sub-auspiciis-Abschluss. Gesang Nummer zwei: Die Mutter der beiden ist eine hervorragende Gynäkologin, Spezialgebiet plastische Chirurgie im weiblichen Genitalbereich. Man glaubt nicht, wie sehr diese delikate Nische der Schönheitschirurgie nachgefragt wird. Außerdem eine mediterrane Schönheit, elegant, gebildet, humorvoll. Und Strophe drei kennen Sie schon, die geniale Geschäftstüchtigkeit von Sebastian Schwartz, Diplombetriebswirt und Master of…‘
„…the Universe,“ fügte ich grinsend hinzu, bevor mein Ton um ein paar Chilinoten schärfer wurde, „eines verstehe ich nicht: wenn alles so schön paletti war, aus welchem verdammten Grund sind dann sämtliche Familienmitglieder auf einen Streich verschwunden?“
„Wenn ich es nur wüsste,“ seufzte der Immobilien-Magister und knallte sich den vierten doppelten Malt in die Birne, „nicht die geringsten finanziellen Probleme, alle topfit, keinerlei psychische Auffälligkeit, bei keinem der Familienmitglieder.“
„Bei wirklich keinem,“ fragte ich sicherheitshalber zwischen zwei Schlucken Absinth nach und dachte an die beiden Kinder der Problemlos-Familie: die jüngere Tochter hatte heimlich als Prostituierte in einem miesen Sexstudio im dritten Bezirk angeschafft, während ihr älterer Bruder den Nachwuchszuhälter gemimt hatte – aber warum zum Teufel, wenn Geld tatsächlich keine Rolle spielte, die Psyche überall im Lot war und die Zukunft der beiden wie auf einem Reißbrett vorgezeichnet war?

Vielleicht hatte der durchgeknallte Bosnier namens Zlatko auch nur ein paar Mädchennamen durcheinandergebracht, aber immerhin hatte er auf dem versteckten Festnetzanschluss der abgängigen Familie jene Nachricht hinterlassen, die mich auf seine Spur gebracht hatte. Ich dachte an den rosafarbenen Metallkoffer voller Sexspielsachen und Reizwäsche, mit dutzenden teuren Kosmetikflaschen und dem einen oder anderen Fläschchen Poppers. Das alles passte so gar nicht zu den Ausführungen meines Macallan-Helden, der gerade wortreich die gemeinsamen Golfausflüge und Bootsfahrten am Wörther See mit der makellosen Familie seines Vorgesetzten beschrieb. Ich hörte kaum hin, goss mir noch etwas Pernod ins Bleikristallglas und überlegte, ob ich nach diesem Termin hinauf in die Wohnung schauen sollte, um dort nach einem Smartphone zu suchen. Ich hatte eine SIM-Karte in einem leeren Kosmetikfläschchen gefunden, und wo es eine SIM-Karte gab, mussten auch Handys sein, mindestens eines. Vielleicht hatte die Prinzessin mehrere Smartphones besessen. Reine Gedankenspielerei – aber wo es Rätsel gab, loderten auch die Flammen der Spekulation. Immerhin hatte mein Gesprächspartner ein paar mögliche Fluchtorte erwähnt: diese Villa am Wörthersee, ein Anwesen in der Toskana oder eine Immobilie auf den Azoren. Aber warum sollte sich diese makellose Familie über Nacht nach Irgendwo und Umgebung abgesetzt haben? Ohne den engsten Mitarbeitern und Freunden Bescheid zu geben und auch nur das winzigste digitale Lebenszeichen hinterlassen zu haben? Machte das alles Sinn? Die Antwort lautete klipp und klar – nein.

„Da ist etwas passiert. Hundertprozentig.“ Die Stimme des stellvertretenden Immobilienentwicklers schwankte zwischen ordentlich beschwipst und angemessen verzweifelt.
„Haben Sie schon die Buchhaltung auf Unregelmäßigkeiten durchforstet?“
„Das war das Erste, was wir getan haben. Nicht den leisesten Verdacht haben unsere internen Prüfer gefunden. Und das sind wahre Compliance-Spürhunde.“
„Fehlspekulationen vielleicht? Auf falsche Pferde im Darknet gesetzt? Irgendwelchen Kryptowährungs-Versprechen auf den Leim gegangen?“
„Wie ich schon sagte: nicht der geringste Hinweis, dass irgendetwas auch nur im Ansatz schiefgelaufen wäre. Die Familie ist einfach über die Osterfeiertage zu ihrem Haus am Wörther See gefahren und seither nicht wiedergekehrt.“
„Ist sie dort überhaupt angekommen?“
„Ich denke schon.“
„Ja oder nein?“
„Wenn Sie so fragen: ich habe keine Beweise dafür. Aber warum sollte die Familie Schwartz nicht in Dellach am Wörthersee angekommen sein?“
„Was macht man zu Ostern überhaupt dort?“ erlaubte ich mir den nächsten Einwand, „ist die verdammte Kärntner Pfütze nicht eher eine Sommerdestination?“
„Sebastian hatte kein einfaches Badehaus, sondern eine großzügige Villa direkt am See,“ erläuterte der trauernde Geschäftspartner, „fünfhundert Quadratmeter Wohnfläche, Indoor-Pool, Weinkeller, Privatkino. Da wird einem nicht so schnell langweilig. Wir haben sogar Küppers gebeten, dort Nachschau zu halten. Laut seinen Angaben gibt es dort nicht den kleinsten Hinweis auf irgendein Verbrechen.“
„Vielleicht hat die nette Familie Schwartz dort nicht einmal angehalten, sondern ist einfach weitergefahren,“ mutmaßte ich ins Grau meiner Theorien hinein.
„Schon möglich, wenn das Wetter nicht gut war. Sie hatten auch dieses Anwesen an der toskanischen Küste. Fest steht, dass sie mit dem Auto unterwegs waren. Keine gebuchten Flüge, keine Barabhebungen, und die Tankkarte ist nach dem Ostersonntag auch nur ein einziges Mal kurz vor der Grenze zu Italien benutzt worden. Mit vollem Tank kommt man mit diesem SUV ohne weiteres bis in die Toskana.“
„Vielleicht wurde später alles bar bezahlt,“ wandte ich ein und schenkte mir noch einmal Pernod nach. Die grüne Fee hatte auch am Ende der Fahndungsstange noch ein paar Argumente in petto.
„Und warum,“ erlaubte sich mein Golf-Magister eine Gegenfrage.
„Um Spuren zu verwischen. Und Nachforschungen zu erschweren.“
„Ich glaube eher, dass sie alle tot sind,“ würgte der Immobilienentwickler seinen bösen Verdacht ins Freie.
„Und warum denken Sie das?“
„Weil es überhaupt kein Lebenszeichen mehr gibt. Von keinem einzigen Familienmitglied. Seit guten sechs Wochen bereits. Heutzutage praktisch unmöglich. Jeder Kauf wird elektronisch erfasst, in jedem Kaff gibt es Überwachungskameras und im Internet hinterlässt jeder Klick Spuren. Nur Tote hinterlassen keine. Es wird etwas Furchtbares passiert sein. Leider muss ich jetzt bitten zu gehen. Ich spüre bereits den Alkohol und habe noch mehrere Geschäftstermine vor mir. Die halbe Flasche Absinth können Sie mitnehmen. Informieren Sie uns, sobald Sie etwas aufgespürt haben. Was immer es ist. Wir brauchen Gewissheit,“ schloss der Immobilienentwickler seine Ausführungen ab und wiederholte den letzten Satz nochmals eindringlich, „glauben Sie mir, Mr. Hartmann, wir brauchen Gewissheit. So können wir nicht weitermachen. Unsere Kunden warten auf Sebastian. Und wir warten genauso angespannt und verzweifelt mit ihnen.“

*

Ich war noch keine halbe Stunde in meiner Wohnung, als es draußen an der Eingangstür läutete. Ich überlegte, ob ich überhaupt aufmachen sollte. Manchmal randalierten betrunkene Jugendliche im Stiegenhaus und erlaubten sich dusslige Scherze. Ich versuchte das Geklingel zu ignorieren, aber wer immer da draußen vor der Tür stand, schien äußerst hartnäckig zu sein. Das Läuten wollte nicht aufhören. Mein Pernod vibrierte bereits mitsamt den Eiswürfeln im Tumbler. Ich seufzte, drückte die Zigarillo-Kippe aus und begab mich zum Eingang. Stolperte dabei über den rosafarbenen Koffer mit der Sexwäsche samt Dildos und Peitschen. Ein paar dieser Zauberstäbe hatte ich inzwischen selbst ausprobiert, es war gar nicht so ungeil, sich so ein Ding in den Hintern zu rammen und dabei einen Ständer zu bekommen. Sich übertrieben geil und männlich zu fühlen, wie ein Teenager, der zum ersten Mal in seinem Leben so ein Gerät ausprobierte. Heimlich um zwei Uhr früh, in seinem von Träumen und Fantasien aufgewühlten Bett, im sechsten Stockwerk eines Reihenhauses am Rande der Stadt. Eine so traurige wie hässliche Pubertät, die in neunzig Prozent der Fälle in einer freudlosen Ehe endete, die Kinder hervorbringen würde, die keiner wollte. Außer vielleicht der österreichische Staat.

Ich öffnete mit einem Ruck die Türe. Ein DHL-Bote war draußen und hielt mir ein Päckchen entgegen.

„Ich habe nichts bestellt. Muss ein Irrtum sein.“

Solche Ausreden schien der bärtige Typ aus irgendeinem osteuropäischen Land täglich zu hören. Klandestine Bestellungen aus dem Darknet, mit allerhand Verbotenem in den unverdächtig aussehenden Päckchen. Illegale Waffen. Suchtgifte. Sticks, die schlimme Filme enthielten. Was die Leute eben bestellten, wenn niemand so genau hinsah.

„Sie bekommen es trotzdem,“ lautete die kryptische Antwort. Der bärtige Bote warf mir das braune Päckchen entgegen. Eher widerwillig fing ich es auf. Als Empfänger war mein Detektivbüro angegeben, zusammen mit der korrekten Adresse. Der Absender war ein gewisses ‚Studio 3000‘.

„Sicher wieder eine dieser Sex-Bestellungen“, musste der Typ denken. Sein Grinsen wurde noch schmieriger, nachdem er einen Blick in meine Wohnung riskiert hatte.
„Sie wohnen allein, Mister?“
„Ja, ich habe vor ein paar Tagen meine rot gestreifte Katze am Friedhof der Namenlosen begraben. Ich bin sozusagen verwitwet.“
„Wir haben es alle nicht leicht, bitte hier unterschrieben, einfach so mit der Fingerkuppe. So ist es Recht. Vielen Dank, auf Wiedersehen. Und rufen Sie demnächst den Kammerjäger. Bevor Sie von der Krätze zerfressen werden.“

Weg war der bärtige Kerl mit den gutgemeinten Ratschlägen. Unten im Parterre hörte ich die schwere Holztüre ins Schloss fallen. Ich fragte mich, ob tatsächlich ein Bote vor meiner Tür aufgekreuzt war. Vielleicht hatte ich nur zwischen Absinth und Zigarillo schlecht geträumt und die DHL-Boten-Begegnung halluziniert. Das Päckchen lag trotzdem in meiner rechten Hand. Es hatte die Abmessungen eines verpackten Buches, war aber leichter. Ich überlegte, was zum Kuckuck es enthalten könnte und wer der getarnte Absender war. Ein Studio 3000 verschickte normalerweise Sexspielzeug oder Drogen. Ich drehte mich um, schloss die Wohnungstür ab und warf das Päckchen auf den Küchentisch. Es sah harmlos aus, zwischen dem Tumbler, einigen offenen Rechnungen und meinem gescheiterten Versuch, eine Tunfischpizza aus ‚Joe’s Italian Pub‘ nebenan zu essen. Ich nahm nicht besonders viel zu mir. An fester Nahrung wohlgemerkt. Hauptsächlich ernährte ich mich von Absinth und den Erdnussschälchen in der Loos. Wenn deren Barchef dran dachte, mir eines hinzustellen. Was auch nicht jeden Tag vorkam.

Kurz bevor das Bett nach mir rief, verlor ich die Geduld und öffnete das Päckchen. Wickelte einen dünnen, rechteckigen Gegenstand aus dicken Lagen gepolsterter Folie. Das Ding hätte man auch aus einem Überschalljet in 12.000 Metern Höhe abwerfen können – es wäre wohlbehalten auf der verdammten Erdoberfläche gelandet. Immer schön der Schwerkraft entlang.

Nach dem Entfernen von etwa fünf Kilometern Luftblasenpolster hielt ich ein dünnes Rechteck aus Kunststoff in der zitternden Hand. Ein Smartphone, dessen Display schon ziemliche Kratzer aufwies. In der rechten oberen Ecke klaffte sogar ein kleines Loch. Dieses Smartphone war sicher tausende Male zu Boden geplumpst. Gehörte höchstwahrscheinlich einem achtlosen Teenager. Ich kannte das von Phils Erzählungen. Mein Sohn besaß selbst ein penibel gepflegtes Handy, aber die Amateurhyänen aus seiner Klasse, die einander erbarmungslos mobbten, besaßen solche geschändeten Smartphones. Das Cover dieses Apple-Gerätes passte allerdings kaum zu einem pubertierenden Jungen. Es war rosa mit giftgrünen Wellen darauf. Eine äußerst hässliche Handy-Abdeckung. Billig. Grell. Irgendwie nuttig hoch zehn.

Nach dem nächsten tiefen Schluck Absinth hatte ich eine Idee. Griff nach meiner Brieftasche und suchte im Münzfach nach der SIM-Karte, die ich in einem von Kathys Fläschchen sichergestellt hatte. Organisierte mir eine verbogene Büroklammer aus dem Papierkorb und schob das rechteckige Ding in das vorgesehene Fach. Nahm ein Kabel aus einer Schuhschachtel, verband das Smartphone mit einem Aufladegerät und wartete eine halbe Stunde. Trank inzwischen meinen Pernod auf Eis mit einer Limettenscheibe aus und versuchte etwas Buchhaltung zu machen. Warf einen Blick auf mein Bankkonto. Und erstarrte. Der unbekannte Bankier hatte die dritte Rate überwiesen. Wieder zwanzigtausend. Langsam fing ich an reich zu werden. Wenn es so weiterging, würde mir eine verhärmte Bankberaterin demnächst einige bescheuerte Anlagemöglichkeiten unterbreiten. Lieber Herr Hartmann, auf dem Girokonto bekommen Sie kaum Zinsen, dafür hätte ich dieses und jenes in meinem Portfolio, exklusiv für Topkunden wie Sie.

Ich würde nicht hinhören. Mir war es egal, ob sich die Kohle am Konto vermehrte – oder auch nicht. Es war nur das Geld anderer Leute, das sich in der Kontonummer geirrt hatte. Wer war dieser unsichtbare Bankier, der einen schmierigen Privatdetektiv mit so viel Kohle versorgte? War es tatsächlich der Vater des untergetauchten Familienoberhaupts, wie der unbekannte Anrufer betont hatte? Seine paar Anrufe waren anonym gewesen, aber die überwiesenen Beträge schienen echt zu sein. Echt genug jedenfalls, um ganz gut davon leben zu können.

Ich warf einen Blick auf das reaktivierte Smartphone. Auf dem Display war das Foto einer schönbrunngelben Villa am See zu sehen, davor Liegestühle mit hübschen, jungen Leuten darin und einer Riesen-Schaumweinflasche im silbernen Kühler auf einem gläsernen Beistelltisch. Ich klickte auf „Einstellungen“ und las „Kathys Handy II“. Das inoffizielle. Genau das, wonach ich gesucht hatte. Mein Herz zuckte aus. Schweiß rann über das ganze Gesicht. Meine Hände begannen zu zittern. Das Handy enthielt tausende Fotos. Mehrere hundert Dateien mit Audioaufzeichnungen und einige Videos, die sich beim ersten Durchsehen als harmlos entpuppten. Aber ich ahnte bereits, mit diesem Handy weitere Mosaiksteine bekommen zu haben. Vertrauliche Hinweise, die mir erklären konnten, warum diese angeblich so makellose Familie bei Nacht und Nebel abgetaucht war. ♦

Teil 2 – Das Echo von Rosen ...
Die dunkelgraue, schmucklose Fassade jenes Altbaus, in dem Agnes und Phil wohnten, erhob sich wie eine Staumauer vor mir, mit zahlreichen toten Fenstern durchsetzt. Als ob ich vor einem vertikal angelegten Friedhof stünde oder vor einem Schiffsrumpf, der seit Jahrhunderten auf dem Meeresgrund lag. Es war halb vier Uhr früh und noch ziemlich dunkel, die Luft roch angenehm frisch, nur ein paar Vögel zwitscherten ihre Geilheit heraus. Im Autoradio waren seit Stunden dieselben Nachrichten gelaufen. In dieser Nacht ereignete sich nichts – oder doch alles.

Ganz oben im vierten Stock brannte schon Licht. Es war erst vor kurzem angegangen, vor einer halben Zigarillo-Länge vielleicht. Ich inhalierte den parfümierten Moods-Rauch und stellte mir Philipp vor, wie er vom Läuten des Weckers wachgerissen wurde und sich noch schlaftrunken im Bett zu orientieren versuchte: ein zerrissener Traum aus unklaren Bildern, die wenigen Möbel im Halbdunkel, die Konturen eines Computers am Schreibtisch, die vielen Pokale und Auszeichnungen auf dem Schrank dort drüben. Alles noch unwirklich, weit entfernt, im Nirgendwo konturloser Unruhe. Nur langsam tauchte Philipp in die Wirklichkeit ein und erinnerte sich, warum er den Wecker gestellt hatte: seine Maschine nach Rom würde pünktlich um sechs Uhr zehn abheben. Eine Woche Trainingslager in einen gesichtslosen römischen Vorort aus freudlosen Shoppingmalls und Kolonnen gleich aussehender Reihenhäuser, aber irgendwo in dieser Vorstadt-Traurigkeit gab es eine Schwimmhalle, zehn Bahnen mit fünfzig Metern Länge und achtundzwanzig Grad warmem Chlorwasser, Philipps Welt für neue Rekorde und Bestzeiten. Er würde mit acht oder neun Jungen in seinem Alter trainieren, vielleicht waren auch ein paar hübsche Italiener dabei, in die sich Philipp verlieben könnte, aber natürlich dachte ich viel zu weit. Viel zu romantisch. Viel zu sehr an mich und meine Begierden. Phil war 16, wünschte sich neue Bestzeiten und keine schnulzige Romanze mit einem halbwüchsigen Jungen, die anderen waren Konkurrenten für ihn, Leute, die sich ihm unterwegs zur Spitze in den Weg stellen konnten.

Jetzt ging das Licht in einem anderen Zimmer an, und ich stellte mir vor, wie Phillip gerade unter der Dusche stand und das warme Wasser auf den trainierten Körper prasseln ließ, während er sich einerseits zurück in sein warmes Bett sehnte und auf der anderen Seite voller Vorfreude auf die intensive Schwimmwoche vor ihm dachte, an das harte und ausdauernde Training, das ihn einige Zehntelsekunden näher ans Ziel bringen würde.

Ich ließ die glosende Kippe fallen, zertrat den angerauchten Tabak und sah auf die Uhr, eine mechanische ‚Nomos‘ aus Glashütte oder wie der Ort hieß, ein Zentrum deutscher Wertarbeit, das bisschen Verlässlichkeit am Handgelenk. Momentan der sogenannten Echtzeit hinterher. Wahrscheinlich bräuchte sie das Werkservice genauso dringend wie ich den nächsten Schluck, aber ich versuchte mich zu beherrschen: schließlich hatte ich Agnes versprochen, meinen Sohn zum Flughafen bringen und wollte nicht auch noch sein junges Leben aufs Spiel setzen.

Irgendwie war es schön, unter den balzenden Singvögeln in der frischen Morgenluft zu stehen und auf meinen Sohn zu warten. Vor diesem Haus, das ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Agnes war dagegen, dass ich sie hier besuchte, ich deprimierte sie angeblich, zog sie runter, hatte das falsche Karma oder überhaupt keines mehr. Sie wollte lieber einen verständnisvollen Idioten an ihrer Seite haben, einen harmlosen Trottel mit einem harmlosen Job und unanständig hohem Monatsgehalt, schön zugeschissen mit Versicherungen aller Art und der einen oder anderen Immobilie, mit einem Zweit- oder Drittwagen ausgestattet, so einen solventen Herrn mittleren Alters, der sich vom Leben nichts anderes mehr erhoffte als eine biedere Esoterikerin und den finalen Infarkt. Bevor so ein rares Exemplar gelassener Bürgerlichkeit in ihrem Leben auftauchen würde, begnügte sich Agnes mit einer Liaison aus dem Jenseits, mit einem flämischen Hellseher namens Zarachias, der die meiste Zeit seines Lebens in einem Sauerkrautfass zugebracht hatte und damit beschäftigt war, die Vorboten der Apokalypse aufzuspüren: heftige Stürme, Überschwemmungen, die eine oder andere Revolution oder achtzigjährige Kriege.

Mit Herrschaften wie diesen konnte ich kaum konkurrieren: ich hauste seit mehr als einem Jahrzehnt in einem finsteren Loch (zwar im überteuerten ersten Bezirk, aber es war trotzdem eine düstere Höhle), besaß einen zwanzig Jahre alten Toyota, war nicht mehr bei bester Gesundheit und ansonsten ziemlich vielen Süchten verfallen: der grünen Wermutkraut-Fee, dem dunklen Tabak und dahergelaufenen Männern, die alles andere als seriös waren. Kellner, Langzeitstudenten, Müßiggänger und der eine oder andere Fratz aus besserem Haus, die sich alle hemmungslos durchnehmen ließen, weil das Leben, das richtige Leben da draußen ganz andere Leute betraf. Die Bürgerlichen. Die Normalen. Die Stinos. Die Menschen mit perfekt gebügelten Stoffhosen, adretten Baumwollhemden und einer übertrieben gebundenen Krawatte unter dem Doppelkinn.

Das Licht im Stiegenhaus ging an. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich stellte mir vor, wie Phil vor dem Lift seiner Mutter noch einen letzten Kuss gab, sich ein paar finale Ratschläge anhören musste und mit seinen Gedanken schon bei mir im Auto saß, in diesem klapprigen Toyota, mit seinem zerknitterten Dad am Steuer, der an diesem kaum angebrochenen Morgen den Taxler zum Flughafen abgeben würde. Nicht gerade eine Paraderolle für mich. Aber ich bemühte mich trotzdem.

„Hallo“ – diese Stimme, dieser Blick und die um diese Uhrzeit noch schaumgebremste Energie im trainierten und doch zerbrechlich wirkenden Körper. Wir schüttelten einander die Hände, beinahe wie richtige Draufgänger, die jetzt gegen vier Uhr früh etwas sehr Schräges planten. Ich verstaute den moosgrünen Samsonite im Kofferraum, stellte die Ellesse-Sporttasche mit dem Logo des Wiener Schwimmvereins von 1891 obendrauf, warf die Hecktüre zu und verkroch mich ans Steuer. Sah zu meinem Sohn auf den Beifahrersitz hinüber. Fühlte diesen verdammten Vaterstolz in mir. Ein beinahe erotisches Gefühl, etwas Knistern im Gebälk, aber ohne finstere Absichten. Mein Sohn war mein Sohn war mein Sohn. Wie eine Rose eine Rose war, und verdammt nochmal nichts anderes als diese eine Scheißrose. Ein fernes, zartes, kaum hörbares Echo von Rosen.

Philipp sah mir tief in die Augen. Sein Lächeln verschwand und würde nicht wiederkehren. Aus welchen Gründen auch immer. Ich startete den Wagen, bugsierte den Toyota aus der Parklücke und hoffte auf ein klärendes Gespräch im Morgengrauen, zwischen dem ersten Silberschimmer am Horizont, der noch dunkelblau anmutenden Nachtluft und dem Vogelgezwitscher in den Bäumen der Johnstraße. Des Meiselmarkts. Vom Auer-von-Welsbach-Park und dem Technischen Museum dahinter. Philip saß starr wie eine Leiche auf dem Beifahrersitz, nur seine langen, dünnen Finger trommelten eine Mazurka auf der Ablage vor ihm, eine seltsame Unruhe hatte ihn erfasst wie ein mittleres Erdbeben.

„Alles in Ordnung, Phil?“

Keine Antwort, nur ein Kopfnicken. Der Anflug eines Lächelns, das gleich wieder verschwand. Seine Schneidezähne nagten an der Unterlippe herum, die hohen Backenknochen vibrierten.

Auf der Erdberger Lände im dritten Bezirk ging es Philipp wieder besser. Der schöne Glanz in den Augen kehrte zurück, und der Junge bemühte sich aufrichtig um etwas Konversation. Als wollte er besonders höflich wirken. Und sich selbst von den schrägen Gedanken in seinem hübschen Köpfchen ablenken. Ich wollte nur zu gern wissen, woran er zuvor gedacht hatte. Vielleicht an gewisse Mitglieder der Familie Schwartz. Schließlich hatte Philipp den Pin-Code zu Kathys Smartphone mit seinen spitzen Fingern auf der zerknüllten Stoffserviette verraten. Eine Sechs. Noch eine Sechs. Eine Eins. Und dann nochmal die Eins. Die letzte Eins stand für den ersten Buchstaben im Alphabet. Auf diesen Scheiß war ich wenigstens von selbst draufgekommen. 661a. Denselben alphanumerischen Code hatte ich auch in der Tiefgarage unter dem Kempinski-Hotel entdeckt, mit einem fetten Edingtonstift gegen die Mauer gekritzelt. War Philipp jemals dort gewesen? Vielleicht hatte er sogar jemanden aus dieser Familie gekannt, aber wen? Den Vater, die Mutter, den älteren Sohn, die jüngere Schwester, die trotzdem noch immer ein paar Jahre älter war als er selbst – sie alle passten kaum zu einem sechzehnjährigen Leistungsschwimmer aus dem 15. Wiener Bezirk.

Auf der Zubringerautobahn zum Flughafen fragte ich Phil geradeheraus, ob er jemanden aus der Innenstadt kannte. Ein Mitglied dieser betuchten Familie, die in diesem riesigen Penthaus in der Neutorstraße residiert hatte.

„Der Vater Immobilienentwickler, die Mutter Gynäkologin, die ältere Sohn Vorzeigestudent und die jüngere Schwester Meisterelevin im Ballett an der Staatsoper – na, sagt dir das Szenario etwas?“

Der Junge sah mich an, als hätte ich einen dreckigen Witz gerissen. Oder umständlich zu erklären versucht, was ein Cockring war, ein Fläschchen Poppers oder Chemsex mit einem zwielichtigen Kerl in der Sauna. Keine Antwort. Kein Lächeln. Kein Blick mehr. Nur noch hohle, stumme Fassade. Der Junge wusste etwas, mit dem er nicht herausrücken wollte. Was immer es war, sein Geheimnis lastete schwer auf den mageren Schultern, stauchte sein Innenleben zusammen, ließ die jugendliche Lebensfreude verkümmern. Wie gern hätte ich Phil jetzt weitergeholfen. Mit einem väterlichen Rat, der vollkommen nutzlos sein würde. Den zweihundert Euros, die ihm trotzdem mit auf dem Weg nach Rom gab, und dem scheuen Kuss auf die Wange vor der Drehtüre zum Abflugterminal. Ob letzteres eine große Hilfe war, wagte ich zu bezweifeln. Nett war dieser scheue Kuss trotzdem.

„Pass gut auf dich auf, Phil.“
„Mach ich, Papa. Alles unter Kontrolle.“

Das genaue Gegenteil loderte wie eine unheilige Flamme in ihm.

„Und ruf bitte ab und zu an.“
„Ich bleibe ja nur eine knappe Woche.“

Sechs Tage, die alles bewirken konnten – oder auch gar nichts. Sechs Tage Intensivtraining voller Höhen und Tiefen. 144 Stunden, in denen neue Rekorde möglich waren, neue Atemtechniken oder Sprintstrategien ausprobiert wurden, sechs volle Tage, die ausschließlich dem Schwimmsport gehörten, den rauen Anweisungen am Beckenrand, von dickbäuchigen Männern in ausgebeulten Trainingshosen in die Halle gebrüllt, Phils schmierig aussehenden Trainern.

„Die tun mir doch nichts,“ amüsierte sich Philipp über meine Ängste vor aufdringlichen Männern, die auf kleine Jungs standen, „im Gegenteil: sie versuchen, das Beste aus mir herauszuholen. Mich zu motivieren. Zu Höchstleistungen anzuspornen. Das zu liefern, wozu ich zuvor noch nicht in der Lage war.“

Mein Junge klang jetzt etwas altklug, wie ein Sportreporter, der die übernächsten Schwimm-Europameisterschaften kommentierte. Die 100 Meter Lagen, die 200 Meter Kraul, die 4×100 Meter Staffel. Auf Bahn fünf Philipp. Philipp Kartak (nicht Hartmann natürlich, dieser Name stand ja nur auf meinem Türschild). Mit der knappen rotweißen Badehose an seinen Lenden. Der unvermeidlichen Schwimmbrille im Gesicht, die ihn etwas entstellte. Seine Anspannung vor dem Startschuss, der Hechtsprung in die Fluten hinein, das lange Durchtauchen, die ersten gesetzten Tempi im Wasser. Was immer kam, Phil würde seinen Weg machen. Genau daran dachte ich, während meine rechte Hand durch sein dichtes Haar strich und ich ein leichtes Stechen in der Herzgegend verspürte, den Schmerz eines zu langen Abschieds. Als würden wir uns nie mehr wiedersehen. Oder nur noch ein einziges Mal.

„Mach’s gut, Papa. Und danke, dass du mich zum Flughafen gebracht hast.“

Ich lächelte. Schlug die Augen zu Boden. Meine rechte Hand fühlte noch den leichten Druck auf dem Haar. Irgendetwas war längst vorbei und immer noch da. Ich zuckte mit den Achseln, und als ich wieder hochsah, war der Junge mit den traurigen Augen, der Ellesse-Sporttasche auf den mageren Schultern und dem grünen Samsonite-Koffer im Schlepptau verschwunden. Durch die Drehtüre ins Abfluggebäude hinein. Oder ins richtige Leben hinaus. Was immer er darunter verstand. Es war alles andere als einfach, 16 zu sein. Kein kleiner Junge mehr und noch lange kein richtiger Mann. Sondern irgendwer oder irgendetwas dazwischen.

*

Der Pornoladen lag in einer belebten Straße im fünften Bezirk, strategisch günstig zwischen den Nachtlokalen um den Naschmarkt gelegen. Wie viele andere Geschäfte in der Branche hatte auch dieser Laden schon bessere Zeiten erlebt. Im vorderen Verkaufsraum staubten die hochpreisigen Lederartikel und Dildos vor sich hin, und von den Pornokassetten in den Regalen nahm ebenfalls kaum noch ein Kunde Notiz. Da die meisten Filme seit anderthalb Jahrzehnten im weltweiten Netz gestreamt wurden, waren sie ständig irgendwo gratis verfügbar. Niemand außer einem entrückten Greis aus dem nahen Altersheim brauchte eine ‚Bel-Ami‘-Blue-Ray mit dem Gestöhne von jungen Männern aus den frühen neunziger Jahren darauf. Die meisten Models von damals mussten längst im Ruhestand sein, waren mittlerweile vergreist oder tot oder beides: mehr oder weniger lebendig in einer slowakischen oder tschechischen Kleinstadt begraben.

Wie ein Dieb schlich ich zwischen den verstaubenden Sexartikeln herum, auf der Suche nach gar nichts. Im hinteren Bereich gab es ein kleines Kino, in dem ein paar rotstichig gewordene Pornos liefen, mit den ewigblonden College-Boys, die inzwischen emeritierte Professoren für Französisch oder Altgriechisch sein mussten. Im engen Korridor Richtung Darkroom standen einige Männer herum, die mit wässrigen Augen hofften, irgendeinen Körper für gewisse Spiele abzubekommen: vom Alkohol, viel zu fettem Essen und traurigen Vermögensverhältnissen gezeichnet, in ausgeleierten Stoffhosen und verbeulten Sakkos, mit Halbglatze, Lesebrille und diesem gefährlichen Zucken in den Mundwinkeln – geil wie läufige Hündinnen aus dem Tierheim, aber unterwürfig angepasst an das verhasste, noch immer katholisch geprägte Leben in einem niederösterreichischen oder burgenländischen Weiler. Familienväter in ausgetretenen Schuhen, phantasielosen Hemden und diesem Hängebauch über zu engen Jeans, Vertreter, Buchhalter, Nachwuchstrainer und andere freudlose Gestalten, die ihren Schwanz durch ein faustgroßes Loch in der Mauer drückten und auf einen Mund dahinter hofften, der an ihrem halbsteifen Schwanz saugte wie ein Säugling an der Mutterbrust oder so ähnlich. Eine traurige, freudlose Atmosphäre, die trotzdem nach Schweiß, Pisse und Sperma roch, nach dem Fünf-Minuten-Sex in einer abgedunkelten Kabine: die Flecken notdürftig mit einer Küchenrolle entsorgt, das feuchte, zerknüllte Papier mit dem traurigen Camembert-Geruch in einen schwarzen Container geworfen, eine Dose Cola geleert und noch schnell ein Fläschchen Poppers für den Swinger-Parkplatz am Rande der Großstadt erstanden. Man konnte nie wissen, welche Pärchen dort draußen nachts ihre Aufwartung machten, sie in High Heels, Strapsen, Lederrock und einem bauchfreien Top, er in viel zu engen Jeans, die sein Gemächt als riesige Beule beschrieben – die provinziellen Gestalten der Nacht, die es zwischen Freitagabend und Montagfrüh in ihren engen Ikea-Nestern nicht mehr aushielten, mit dem Kleinwagen zu einem Rastplatz fuhren und sich von allen durchnehmen ließen, die aus mehr oder weniger ähnlichen Gründen dort aufhältig waren.

Ich ließ mir von einem älteren Herrn in einer Kabine den Schwanz lutschen, spritzte ab und trank hinterher an der Ladenkasse einen Pernod ohne Eis und Limette, bei leicht erhöhter Zimmertemperatur. Georg, den alle Eingeweihten nur Hermi nannten, hielt unter dem Verkaufspult immer ein Leckerli für die wenigen Stammgäste bereit: ein paar Dosen Bier, Jägermeister-Miniaturen oder Stamperln mit kleinem Klopfer und anderem flüssigen Unsinn darin. Für mich gab es seit Jahrzehnten eine angebrochene Flasche Pernod. Es war Mittwochnachmittag, ich hatte Phil in der Früh zum Flughafen gebracht, danach ein paar Poker-Runden im ‚Robert Goodman‘ absolviert, und nun stand ich nach dem kleinen Blaskonzert im hinteren Kinobereich an der Kassa des heruntergekommenen Pornoladens, wo Hermi seit Jahrzehnten Lederbekleidung, Pornokassetten und Poppers in mehreren Duftsorten anbot. Meistens nahm ich diese violetten Dinger mit dem Veilchengeruch, die am wenigsten nach dem Wundbenzin stanken, das in diesen Fläschchen als Grundsubstanz enthalten war, zusammen mit Duftextrakten, die einen geil machen sollten. Zumindest relaxed. So etwas wie bekifft, nur aggressiver vielleicht. Zusammen mit ein paar Schlucken Absinth fand ich wieder zu meiner verkorksten Persönlichkeit zurück, legte mein verdammtes Sakko auf dem Ladentisch ab, öffnete die obersten Knöpfe meines cremefarbenen Hemds, das früher einmal weiß gewesen war, und ließ meinen Bemerkungen zu Gott und der Welt freien Lauf. Fühlte mich angemessen betrunken. Spürte, wie die Zeit an uns Passanten der Vorläufigkeit vorüberstrich wie draußen der verdammte Verkehr. Ein paar ältere Männer gingen, ein paar jüngere kamen, die meisten in den mittleren Dreißigern, die noch unbedingt etwas Analverkehr vor der Abendschicht als Kellner in den umliegenden Lokalen benötigten. Sie gackerten wie entlaufene Hühner und redeten über ein Tayler-Swift-Konzert, den neuesten Tonträger von Andreas Gaballier oder echauffierten sich über die abartig hoch gestiegenen Mieten und Stromkosten. Ich hörte höchstens so lange hin, bis ich eines dieser Geschöpfe in einer Einzelkabine live vor mir hatte, diese weichen Gesichtszüge, dieser saugende Mund und ein enger, zuckender Arsch.

Als ich wieder zurück im Verkaufsraum war, lag mein Sakko auf dem Boden. Das Foto des Vorzeigestudenten war aus der Innentasche gerutscht, und Hermi hob beides auf, warf einen Blick auf die ausgedruckte Aufnahme und drückte mir das Blatt mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schmutzigen Lächeln in die Hand.

„Ich wusste gar nicht, dass du Luca kennst.“
„Luca? Der Junge heißt Manuel, studiert Jus an der Uni Wien und ist zusammen mit seiner vermögenden Familie seit ungefähr sechs Wochen verschwunden.“
„Als Luca aus dem zehnten Hieb kam der Bengel hier in unregelmäßigen Abständen vorbei,“ grinste Hermi, goss mir noch etwas Pernod in eine Art Zahnputzbecher und genehmigte sich das zehnte Fläschchen Jägermeister, „er sah richtig heiß aus mit seinen dichten, dunkelbraunen Haaren, den grauen Augen, den hohen Backenknochen und den weichen, sinnlichen Mund. Trotzdem hatte er einen Knall. Bumste mit allen und jedem da hinten in den Darkräumen oder cruiste in der Römersauna herum. Machte es mit jedem, der wollte. Hielt sich trotzdem eine reizende Freundin. Und trieb die halbe Männerwelt in den Wahnsinn.“
„Was zum Teufel meinst du damit,“ fragte ich Hermi, nippte am nächsten handwarmen Pernod und lehnte mich etwas nach vor, das verbeulte Tweedsakko in der Hand, einer Kolonne aus Schweißperlen an der Stirn, die vom Absinth, dem vollzogenen Pornokabinen-Verkehr und viel zu wenig Schlaf herrührten.

„Er hat alle möglichen Leute bezirzt und war trotzdem gefährlich. Wie eine scharf gestellte Handgranate. Konnte jederzeit explodieren. Redete ununterbrochen oder schwieg wie ein Toter. War unberechenbar, besonders wenn er Alkohol trank. In den letzten Monaten hatte er sich stark verändert. War noch finsterer, bedrohlicher geworden. Vielleicht hatte das auch mit seinem jüngeren toten Bruder zu tun.“
„Mit wem?“
„Mit Leopold oder Poldi. Seinem jüngeren Bruder. War höchstens sechzehn, hatte aber immer einen gefälschten Ausweis dabei. Also kam er hier herein, laut diesem Wisch war er ja volljährig. Er hat sich da hinten im Sling ficken lassen. Unter der Aufsicht seines älteren Bruders. Beide waren oft hier, zu oft sogar. Irgendwann habe ich Poldi Lokalverbot erteilt. Ich hielt ihn nicht mehr aus. Er war noch ein halbes, vollkommen durchgeknalltes Kid. Mit riesigen Augen. Einem weichen Lächeln. Wie ein Mädchen, beinahe.“
„Und dieser Junge ist tatsächlich … tot?“, fragte ich nach, um sicherzugehen, Hermis Ausführungen zwischen dem dritten und fünften Pernod richtig verstanden zu haben.
„Er hat sich von einem Hochhaus in die Tiefe gestürzt. Stand sogar in der Kronenzeitung. Warte, ich habe sogar den Bericht darüber noch irgendwo in dieser Schuhschachtel drin.“

Hermi kramte in einem goldgelben Karton herum, der vor geraumer Zeit Stöckelschuhe in Größe 47 umhüllt hatte.

„Da,“ sagte Hermi verlegen und überreichte mir das leicht vergilbte Zeitungspapier, „kannst du behalten. Berichte über Selbstmörder aufzubewahren, bringt Unglück ins Haus. Und noch mehr Troubles kann ich mir gerade nicht leisten.“

Ich starrte auf die Meldung von Ende November. Die Abbildung eines Hochhauses am Schottenring, die gestrichelte Falllinie, die mit Kreide dargestellten Umrisse des Körpers, in der rechten oberen Ecke ein kleines Foto mit schwarzem Balken über den Augen. Sechzehnjähriger Schüler. War mitten in der Nacht aus ungeklärter Ursache von der Dachterrasse gestürzt. Die Staatsanwaltschaft Wien hatte den Akt bereits geschlossen. Ein Suizid wie er manchmal in dieser Stadt vorkam. Ende der Neuigkeit, die längst keine mehr war. Außer für mich, der den Gossip des österreichischen Boulevards schon seit Jahren ignorierte.

Ich pfiff durch meine paar Zahnlücken in der oberen Reihe. Die Eltern dieser abgängigen Familie hatten also drei Kinder gehabt. Nicht nur den ältesten Sohn Manuel und die jüngere Schwester Kathy. Sondern auch noch diesen zweiten Jungen. Leopold. Oder Poldi. Der mit einem gefälschten Ausweis schwule Lokale wie Hermis Pornoladen frequentiert und sich vor ungefähr acht Monaten von einem Hochhaus gestürzt hatte. Aus welchen Gründen auch immer. In meinem Kopf begann es zu arbeiten. Ich hatte wieder ein Steinchen mehr zu meinem Mosaik gefunden. Diesem bedrohlichen größeren Bild, dem ich seit kurzem auf der Spur war. Im Auftrag eines mysteriösen Bankiers, der mit großzügigen Akonto-Zahlungen meinen Ehrgeiz anstachelte, Licht in die dunkle Abwesenheit dieser Familie zu bringen. Einen Sachverhalt aufzuklären – so seltsam und verstörend er war.

*

Der mysteriöse Bankier mit der jungen Stimme war wieder dran. Er klang heiter und aufgeräumt, wie jemand, der gerade vom Golfplatz zurückkam und sein Handicap auf unter zehn gedrückt hatte. Beinahe ein Profi trotz seiner siebzig Lenze. Zufrieden mit der Gegenwart – und vor allem sich selbst. Was für ihn wohl ungefähr dasselbe sein musste: die Grenzen seiner einflussreichen Sprache markierten auch die Grenzen seiner wohlbestallten Welt. Zwischen Mainhatten, einer 18-Loch-Anlage und dem einen Zwei-Michelin-Sterner ein paar Straßen weiter. Ein kleiner Luxusplanet der eigenen Erleuchtung. Aus Wille, Vorstellung und gehobener deutscher Syntax gedrechselt.

„Leider habe ich einige unangenehme Details herausgefunden,“ begann ich meine Ausführungen, während mein Toyota genau gegenüber der Römersauna im Parkverbot stand und ich die Männer observierte, die gerade lachend hinein gingen, in freudiger Erwartung auf die Erlösung von ihrer alltäglichen Geilheit, und andere, die das Etablissement mit mürrischen Blicken verließen, weil sie nicht ersehnten Traumprinzen mit dem glatten, definierten Oberkörper und einem rasierten Monstergerät abgekriegt hatten. Mit einem silbernen Cockring geschmückt. Wie mit der Rasierklinge aus einem Gayporno geschnitten.

Während ich die versammelte Meute vor dem Saunaeingang betrachtete, lieferte ich dem Bankier weitere Informationen zur verschwundenen Muster-Familie. Es schien eine Geschichte aus sexuellen Abhängigkeiten zu sein. Der ältere Sohn, der den Zuhälter seiner jüngeren Schwester gespielt hatte und mit einer Freundin namens Lisa liiert war, die ihrerseits ein lesbisches Verhältnis mit Kathy betrieb. Und dann gab es noch den mir bisher unbekannt gewesenen kleineren Bruder der beiden, einen gewissen Leopold oder Poldi, der sich vor einiger Zeit von einem Hochhaus am Schottenring in den Tod gestürzt hatte.

Der Bankier auf der anderen Seite der Verbindung begann plötzlich zu schnaufen und seine Stimme kippte binnen Sekunden von heiterer Aufgeräumtheit in den Abgrund einer mittelschweren Depression.

„In unserer Familie bringt sich niemand um,“ versuchte er sich an seine Lebenslügen von der schönen, großbürgerlichen Welt zwischen Frankfurt, Wien und meinetwegen Los Angeles zu klammern, „was erzählen Sie da? Woher haben Sie das?“

Ich unterschlug meinen Informanten Hermi aus dem heruntergekommenen Gay-Pornoladen und erwähnte stattdessen diesen Zeitungsartikel, eine richtige bibliographische Quelle, beinahe wie in einem Bildungsroman oder so. Der Wolkenkratzer am Schottenring, die im Artikel markierte Linie der Fassade entlang, die Kreidestriche, die den Aufprallort des jungen Selbstmörders wiedergaben, das kleine Foto mit dem schwarzen Querbalken über Stirn und Augen des etwa 15jährigen Jungen. Mit der gelangweilten Stimme eines Radiosprechers beschrieb ich den Haarschnitt, die hohen Backenknochen, die weichen Lippen, das kleine Grübchen am Kinn, die gleichmäßigen Ohren mit den deutlichen Läppchen, und das Atmen auf der anderen Seite der digitalen Verbindung wurde noch lauter, gepresster, geradezu mitleiderregend. Ein Großvater, dem gerade mitgeteilt wurde, was er ohnehin wusste. Oder wenigstens geahnt hatte. Und der anscheinend verhindern wollte, dass ein dahergelaufener Fremder wie ich diesem mysteriösen Tod auf den Grund ging. Weil es etwas zu verbergen galt, vor der neugierigen Öffentlichkeit da draußen.

„Es muss ein Irrtum vorliegen,“ stammelte er in die Stille hinein, die meinen Angaben folgten, „das darf nicht den Tatsachen entsprechen. In meiner Familie hat sich noch nie jemand…“ und dann hörte ich ein seltsames Glucksen, die bekannten Geräusche einsetzenden Weinens, die mich verlegen machten und schuldig fühlen ließen, vor dem Herrn, dem Gerechten oder sonst einem Kerl mit wallendem Haar, glattem Waschbrettbauch und einem Gemächt von gut 13 Zoll.

Aus der Römersauna kamen zwei Männer, mit denen ich letzte Woche etwas gehabt hatte. Sie waren noch etwas jünger als ich sie in Erinnerung hatte: Mitte 20 vielleicht. Noch Studenten oder gerade erst mit der Masterarbeit fertiggeworden. Hübsch anzusehende Geschöpfe aus besserem Haus. Ob sie etwa Manuel gekannt hatten, dessen Schwester Kathy, deren Freundin namens Lisa und vielleicht sogar den verleugneten jüngeren Bruder, der sich von dem Hochhaus am Schottenring gestürzt hatte?

Ich hatte große Lust, aus dem Wagen zu steigen und den beiden entsprechende Fragen zu stellen. Die zwei Nachwuchsakademiker verschwanden im „Thell“ gegenüber, einem Lokal, das halb Bar, halb Restaurant war, und in dem sich das gut situierte, bisexuelle Wien bei Krautfleckerln, reschem Wein und viel zu süßen Cocktails mit extravaganten Bezeichnungen traf. Eine ‚Malträtierte Grüne Fee‘ oder ‚Toulouse-Lautrecs feuchter Traum‘ in einem Martiniglas wären jetzt genau richtig. Der Bankier hatte ohnehin aufgelegt, einen kleinen Fluch gemurmelt und trotzdem höflich „Auf Wiederhören“ gesagt. Jede Wette, dass er bald mit der nächsten Rate seiner fürstlichen Honorarzahlung herausrücken würde. Weil er trotz aller Vorbehalte sicher sein konnte, dass ich meinen Job erledigte und ihm jedes erhobene Detail unter die Nase reiben würde, ohne irgendeine Art von Bullshit-Bingo zu treiben.

Ich ließ den Toyota im Halteverbot zurück und betrat das ‚Thell‘, das wie immer an einem Abend kurz vor dem Wochenende gut besucht war. Elegant gekleidete, wohlerzogene Leute, die meisten davon angemessen betrunken. Der Weißwein. Der gehobene Sprudel. Die paar Wodka Wellness. Ich stürzte mich auf den letzten freien Platz an der Bar und brauchte nichts zu bestellen. Barkeeper Tom stellte mir die ‚Malträtierte Grüne Fee‘ ungefragt hin. 6 cl Pernod. Reichlich Limettensaft. Ohne Läuterzucker. Mit dem Eiweiß von mindestens zwei glücklichen Hühnern. Der Drink konnte einen umhauen. Oder weiterbringen. Die beiden jungen Männer aus der Römersauna saßen mir genau gegenüber. Bei einer Flasche Mineral. Und zwei Portionen Krautfleckerln. Es war alles wie immer im ‚Thell‘. Sogar Marianne aus der Loos Bar war hier. In einem ihrer schwarzen Kleider mit handschriftlichen silbernen Zeichen bedeckt. Sie erkannte mich, sagte „Hallo“ und einen falschen Vornamen dazu. Ich grüßte dennoch augenzwinkernd zurück und ging mir gerade selbst nicht ab. Nippte an meinem Twist eines Absinth Sours und betrachtete die hübschen menschlichen Fassaden entlang der Bar. Lauter Statuen purer Selbstoptimierung. Prinzen ohne Königreich. Fürstinnen der Nacht. Kurtisanen der Hölle. Es war wie in einem Gedicht von Arthur Rimbaud oder Charles Baudelaire, allerdings in einer digital generierten Übersetzung, die von einer Milliarde hysterischer TikTok-Konten gespeist war.

Während ich mit ein paar Scheinen zahlte und damit ein mittleres Chaos an der Kassa auslöste, rief mein Sohn an. Phil. Der talentierte Nachwuchsschwimmer mit den glänzenden Augen. Ich stellte mich an einem kaum einsichtbaren Platz im Durchgang zu den Toiletten. Hinter den schwarz lackierten Türen waren heftiges Schniefen und der vertraute Rhythmus des Analverkehrs zu hören. Beides aus derselben Kabine. Ich fragte meinen Sohn, wie es ihm ging und bekam die Frage gestellt, wo zum Kuckuck ich mich gerade herumtreiben würde. Vielleicht hatte er die Koks-Inhalationen und das Gestöhne auf der Männertoilette mitgekriegt. Zumindest aber die dumpfen Vibes einer alten Bums-Techno-Nummer.

„Du gehst wirklich in solche – Lokale,“ fragte der Junge beinahe tadelnd, und ich konnte mein ziemlich schäbiges Grinsen kaum unterdrücken. Ein Junge und ein viel älterer Mann erschienen in der aufgestoßenen Klotür und drückten sich verstohlen an mir vorüber. Ein bekannter Fernsehjournalist und das Nachwuchsmodel, das vom aktuellen Cover der deutschen „Vogue“-Ausgabe in die Gegenwart grinste. Ich überlegte mir ein paar Ausreden, die nicht ganz geschummelt daherkamen. Irgendwie war es nett, dem halbwüchsigen Sohn die verdammte Welt zu erklären. In ein paar geschwungenen Metaphern – nicht ganz erlogen und doch frei erfunden.

„Ich bin trotzdem froh, dass du mein Dad bist,“ antwortete Philipp, nachdem er von seinen neuen Trainingsbestzeiten erzählt hatte, „andere haben Ärzte, Juristen oder Mediziner zum Vater, aber mir bist du als Privatdetektiv lieber, der zu viel Alkohol trinkt und trotzdem smart ist. Und ich mag deine raue Stimme,“ fügte der Junge hinzu, „ich mag die tiefen Falten in deinem Gesicht, diese Vier-Tages-Bartstoppel und sogar deine gelblichen Zähne, ich mag, dass du nach der grünen Fee riechst und diese nach Vanille duftenden Zigarillos rauchst, ich mag dich so wie du bist,“ schloss die sanfte Jungenstimme auf der anderen Seite der Verbindung. Ein paar Tränen liefen verstohlen über meine Wangen herunter, mitten im engen Korridor des ‚Thell‘, unmittelbar vor jener schwarzen Türe, hinter der noch vor wenigen Minuten ein Fernsehmoderator mit einem männlichen Model gebumst hatte. Unser aller Leben war seltsam. Ein merkwürdiger Zustand der Unruhe, zwischen dem einen Tod und dem nächsten.

„Hast du noch etwas auf dem Herzen,“ fragte ich in das eintretende Schweigen der immer noch bestehenden Verbindung hinein.

„Ich glaube nicht,“ antwortete Phils kleinlaut gewordene Stimme. Er verbarg irgendetwas vor mir, das ziemlich sicher mit jemandem aus der abgängigen Familie zu tun hatte. Mit dem Vorzeigestudenten vielleicht, oder doch mit der Schwester oder deren Freundin, die mit Manuel befreundet war. Der sich in gewissen Szenelokalen auch Manuel kannte. Oder – ich pfiff durch meine größer werdenden Zahnlücken. Der tote zweite Sohn. Knapp 16 Jahre, gleichalt wie Phil. Die grünen Nebel in meinem Kopf begannen sich plötzlich zu lichten. Ein kalter Schauer jagte den Rücken hinunter. Ich nahm mir allen Mut zusammen.

„Kennst du einen gewissen…“. Es klickte, und die Verbindung zu meinem Sohn war jäh unterbrochen, „Leopold,“ flüsterte ich leise in das sich aufbauende Schweigen hinein. Ging an die Bar und bezahlte. Nahm draußen den in Zellophan gehüllten Strafzettel hinter dem rechten Wischblatt meines Wagens und entsorgte ihn im nächsten Kanalschacht. Es war eine schwüle Nacht Ende Juni, und über den Dächern teuer sanierter Altbauten waren die ersten Blitze zu sehen. Ich öffnete den Wagen und setzte mich hinter das Lenkrad. Eine kurze Nachricht flammte am Display meines Smartphones auf.

„Ich liebe dich. Gute Nacht. Phil.“

Ich strich mir eine verdammte Träne aus dem Mundwinkel, warf den Motor an und fuhr in meinem Toyota die menschenleere Gasse entlang. Ein heftiger Sturmwind brach über die Stadt herein, und in Kürze würde es heftig zu regnen beginnen. In einer Nacht, die alles in sein Gegenteil verkehrte. Die Mosaiksteinchen hatten sich selbständig gemacht und begannen mir eine Geschichte zu erzählen. Eine Story, die außergewöhnlich zu werden versprach – genauso rätselhaft wie verstörend.

*

Als ich weit nach Mitternacht mein Sterngassen-Appartement betrat, war das rosafarbene Handy vollständig geladen. Unter „Fotos“ waren tausende Aufnahmen gespeichert, alle auf den ersten Blick harmlos dafür ordentlich aufgepeppt, wie Fotoreportagen von Mädchen im Teenageralter wohl waren. Der Ballettunterricht, die vielen Präparation-Übungen an der Holzstange in einem ziemlich weißen Saal mit Bösendorfer-Flügel und dem Korrepetitor, der teilnahmslos vor sich her spielte. Aufnahmen aus dem Schulhof, von den besten Freundinnen und einigen Jungs, gemeinsame Spaziergänge durch Wiener Parks, ich erkannte das Kunsthistorische Museum, das Burgtheater, das Rathaus und die Gloriette über dem Schloss Schönbrunn. Den Auer-von-Welsbach-Park beim Technischen Museum. Tagsüber. Dann auch gegen Abend und nachts. Ich stutzte, als ich die unterbelichteten Aufnahmen einer Toilette Anlage bemerkte, oder von Büschen, hinter denen Sneakers zu sehen waren, schmutzige Sneakers an dünnen, noch haarlosen Beinen. Dazwischen Stiefel, Mokassins oder auch Lackschuhe in ziemlich männlichen Größen. Zerknüllte Papiertaschentücher, nach erfolgreichem Gebrauch entsorgte Kondome. Warum fotografierte ein Mädchen aus dem Maturajahrgang solches Zeug? Waren das ihre Fotos? Oder hatte sie jemand auf dieses Handy überspielt, aber wer und zum Teufel: warum?

Ich scrollte einige hundert Aufnahmen zurück und betrachtete Fotos von zahlreichen Wiener Schulhäusern, höchstwahrscheinlich innerstädtische Gymnasien zwischen dem ersten und siebten Bezirk, die meisten in Patrizierhäusern oder edlen Palais untergebracht, mit Sicherheit handelte es sich dabei um Eliteschulen, die nicht jeden beliebigen Grundschüler aufnahmen. Dazwischen Fotos von gemeinsamen Familienessen oder Partys auf der Dachterrasse in der Neutorstraße, ich erkannte den Vater der Familie, die Mutter, den älteren Bruder und auch manchmal einen kleineren Jungen, vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt, mit sehr dichtem dunkelbraunem Haar und ausdrucksstarken Augen, mit ziemlicher Sicherheit Poldi, jener Junge, der sich Ende November von diesem Hochhaus am Schottenring gestürzt hatte, einem hässlichen Nachkriegsbau aus den fünfziger Jahren, mindestens zwanzig Stockwerke hoch. Ganz oben gab es einen schmalen Außengang mit einer niedrigen Reling, wohl eher für private Zwecke gedacht, aber ohne weiteres kam man dort sowieso nicht hinauf. Das Gebäude war nicht öffentlich zugänglich und gehörte einer Versicherung, aber manchmal fanden dort auch Veranstaltungen statt. Architekturseminare, städtebauliche Diskussionen und so weiter. Ich kannte nicht viele Architekten, aber diejenigen, die ich kennengelernt hatte, hörten sich selbst gerne reden. Über die Immobilien-Entwicklungsfirma seines Vaters hatte sich der Junge wahrscheinlich Zugang zu diesem Gebäude verschafft und war mit einem der Aufzüge ganz hinaufgefahren, hatte gewartet, bis es draußen vollkommen dunkel geworden war, um dann auf die Reling zu steigen war und sich in die Tiefe zu stürzen. An einem Abend im Spätherbst, Poldis letzte Selfies stammten von Ende Oktober, ein Staatsfeiertagsausflug in die nähere Umgebung, Allerheiligen auf dem Hietzinger Friedhof, das heruntergefallene Herbstlaub, das Grab Alban Bergs und das glatte Jungengesicht mit den traurigen Augen dazwischen.

Warum hatte Leopold beschlossen, sich das Leben zu nehmen? Aus welchem Grund war er ausgerechnet von diesem Ringturm-Hochhaus in den Tod gestürzt? Weil dort die ‚Luxury-Immobilien-GmbH‘ seines Vaters Architekturseminare veranstaltet hatte? Ich schaute mir lange Leopolds Gesicht an. Die weichen Züge. Den sinnlichen Mund. Das oft spöttische Lächeln. Den matten Glanz in den Augen. Die vielen Foto-Variationen dieses Teenagergesichts bargen ein dunkles Geheimnis. Der Junge hatte auch nicht eine der teuren Innenstadtschulen besucht. Das Gebäude hinter der schlaksigen Selfiegestalt lag mitten im Grünen. Ganz hinten über dem Eingang war sogar ein Schild angebracht. Ich versuchte, den Bildausschnitt zu vergrößern, um die Schrift über dem Eingang entziffern zu können. Leider war die Aufnahme nicht besonders gut aufgelöst und die Körnung des näher gezoomten Bildes viel zu grob, um die einzelnen Buchstaben entschlüsseln zu können. Ein Bundesrealgymnasium in einem Bezirk mit Einer- und Zehnerziffern, also weit außerhalb des Stadtzentrums. Ich zuckte enttäuscht mit den Achseln und scrollte weiter durch Bilder von Parks, abgestellten Fahrrädern und zu Boden gefallenem Laub, bevor ich zu verschiedenen Sommeraufenthalten am Meer gelangte. Die Geschwister in Badeshorts beziehungsweise knappem BH, alle drei lachend, die Arme einander auf die Schultern gelegt. Dann Kathy, die an einem Eis leckte. Oder Leopold, der versuchte, das Windsurfen zu erlernen. Die meisten Aufnahmen musste der ältere Bruder gemacht haben. Manuel. Oder Luca, wie er sich in der Schwulenszene genannt hatte. Ein junger, vielversprechender Mann, mit einem manchmal gefährlichen Glanz in den Augen und einem üppigen Mund, der hin und wieder auch schmal und zynisch wirken konnte. Ein leicht versnobt wirkender Luxusstudent, der an einer rätselhaften Erbkrankheit litt und sich unter keinen Umständen extremen Temperaturen aussetzen durfte. Weshalb er auf vielen Aufnahmen blass und übernächtig, manchmal sogar kränklich und filigran wirkte. Wie der junge Spross einer Familie, die im Aussterben begriffen war – oder der Vertreter einer aussterbenden Spezies vor hunderttausenden von Jahren.

Dann wieder das moderne Schulgebäude. Eine Ansicht von außen. Diesmal eine Videodatei. Ich überlegte, ob ich mir den zweiminütigen Film reinziehen sollte. In den letzten Tagen hatte ich eindeutig zu viele Clips angesehen. Mein Zeigefinger tippte leichtfertig auf die „Play“-Taste. Der Parkplatz neben der Schule. Seltsames Getuschel und kieksendes Lachen aus dem Off. Die Stimmen zweier pubertierender Jungs, die in ihrer In-Group-Sprache aus Abkürzungen und Anspielungen Geheimnisse teilten. Dann der Übergang zu einem langen Korridor im Inneren der Schule. Offene stehende Klassentüren, ein Trolley mit Kehrbesen, Eimern voller Schmutzwasser und Desinfektionsmitteln. Ein Stillleben wie aus einem österreichischen Autorenfilm, der auf der Shortlist für den besten fremdsprachigen Film in Hollywood stehen könnte.

„Komm,“ sagte eine jugendliche Stimme, „gehen wir in den Keller hinunter. Keine Sorge. Jetzt am Nachmittag wird niemand da sein.“

Verwackelte Bilder. Eine sich öffnende Türe. Die Schülertoilette im Keller. Ein heiseres Lachen. Ein zweites. Dann fror das Bild ein, und der Clip war zu Ende. Ich wollte die Datei bereits schließen, als ich plötzlich im Hintergrund des letzten Standbilds einen riesigen Spiegel vor den Waschbecken entdeckte. Eine blankpolierte Glasfläche, die den filmenden Jungen wiedergab. Leopold, vor ungefähr anderthalb Jahren. Neben ihm stand ein zweiter Junge. Ich fasste es kaum, obwohl ich minutenlang auf die verschwommene Silhouette gestarrt hatte. Jetzt erkannte ich auch den Schulkorridor von vorhin, ich erkannte das moderne Gymnasium im 14. Bezirk – und ich wusste, wer die filigrane Gestalt neben Poldi sein musste: Philipp, mein Sohn. Phil, der den Jungen neben ihn ansah, intensiv und direkt – mit dem bohrenden Blick eines Liebhabers, der sein Gegenüber mit jeder Faser seines jungen Lebens begehrte. Diesen Jungen, den Philipp verehrte, den er bewunderte, von dem er schwärmte und ja, den er liebte. Und den er wollte. Wie sonst keinen anderen Menschen auf diesem Planeten.

*

Ich hatte nicht viele Klienten, aber ein paar standen schon auf meiner überschaubaren Liste halbwegs regelmäßiger Kunden. Nadine Kleingeld zum Beispiel, die mit einem ehemaligen Pokerspieler liiert war, und der nach dem Gewinn mehrerer Texas-Hold’Em-Turniere mit einem Start-Up für Weiß-der-Teufel-was noch weitaus mehr Kohle gemacht hatte. Die Kleingelds waren neureich geworden. Nicht nur der Ex-Pokerspieler selbst, sondern auch Nadine, weil sie diesen Kerl vor einigen Jahren in Las Vegas geheiratet hatte. In einer dieser Hochzeitskapellen inmitten der heiligen Spielhallen. Zwischen gut besuchten Roulette-Tischen, blasierten Croupiers und bulligen Rausschmeißern.

Vor einigen Monaten hatte Nadine ihren Gatten in Flagranti mit einer Nutte erwischt. Ausgerechnet im Ehebett, an einem Samstag, den Nadine bei ihren Eltern in Marburg an der Lahn verbringen wollte. Nachdem der Flug nach Frankfurt in letzter Minute gecancelt worden war, fuhr Nadine mit dem nächsten Airport-Taxi in die gemeinsame Wohnung nach Grinzing zurück. Wo sie ihren Mann mit einer Prostituierten im Bett erwischte. Gerade als sie ihm den Riesenschwanz blies. Ich hatte Nadine zwar gebeten, mir solche Einzelheiten zu ersparen, aber hier in diesem Café Schottenring, einen halben Steinwurf von diesem Ringturm-Hochhaus entfernt, konnte sich meine Auftraggeberin nicht mehr dranhalten. Schüttete ihr enttäuschtes Herz aus. Krallte sich mit ihren karminrot lackierten Fingernägeln an der Tischplatte fest. Kochte wie ein überhitzter Druckkochtopf vor Rachsucht und gierte nach dem finalen Rosenkrieg, der den StartUp-Millionär in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit stürzen würde.

„Ich will alles von ihm,“ schnaubte sie mit ihrem hessischen Akzent, „die verdammte Villa in Grinzing, die Immos in Salzburg, am Attersee und in Kitzbühel, seine Wertpapierkonten in Davos – einfach alles. Und wenn er unter eine Flussbrücke in Darmstadt hausen müsste, wäre mir das egal.“

Abgesehen, dass Darmstadt von keinen nennenswerten Gewässern durchspült wurde, war es nicht besonders angenehm, Nadine Kleingeld zu seinen Feinden zu zählen. Die Frau war zynisch, beharrlich und unnachgiebig in ihrem Hass auf die toxische Männerwelt, in der die eigene Schwanzlänge, die Höhe der Bankeinlagen und die Summe der Immobilienwerte die einzigen aussagekräftigen Parameter waren.

„Ich war nicht einmal drei Stunden weg, und schon hat er sich mit einer Nutte vergnügt, mit dieser…“

„… Jacqueline,“ fügte ich seufzend hinzu und behielt die jüngste Information noch für mich, wonach sich hinter dem französischen Aliasnamen die Tochter dieser abgängigen Familie verbarg: Kathy. Katharina Schwartz. Mit -tz. Lange braune Haare, perfekte Figur, jung, begehrenswert, teuer. Der Star unter Zlatos zwielichtigen Nutten im ‚Studio Armony‘ im dritten Bezirk. Wie der StartUp-Millionär ausgerechnet auf diese abgefuckte Hütte gekommen war, blieb mir ein Rätsel. Andererseits hatte er seinen heterosexuellen Männerspaß mit dieser Tochter aus bestem Hause gehabt, vielleicht hatte ihm Zlatko oder dessen nichtbinäre Bardame die heimliche Sensation gesteckt, immerhin stammte der frühere Pokerspieler ebenfalls aus Bosnien-Herzegowina oder so ähnlich. Garantiert mit zwielichtiger Vergangenheit, weshalb er auch den Namen seiner Frau angenommen hatte – den er Nadines Racheplänen zufolge bald aus seinen noch taufrischen Dokumenten rausstreichen durfte.

„Ich glaube, ich werde ihm noch viel wildere Sachen vorwerfen können,“ setzte Nadine Kleingeld wutschnaubend nach und zeigte mir das Bild von der gemeinsamen Tochter, „jede Wette, dass es dieses Männerscheusal auch auf unser Kind abgesehen hatte,“ fügte Nadine mit gerissenem Lächeln hinzu und versuchte einigermaßen liebevoll das verdammte Foto zu betrachten. Ich verdrehte die Augen und seufzte.

Am liebsten hätte ich das hübsche Gesicht, die langen dunkelblonden Haare, die fantastische Figur und diese jugendliche Anmut des heranwachsenden Mädchens auf dem Foto niemals kennengelernt. Ich hasste es, wenn sich die Fälle meiner Auftraggeber ineinander vermengten wie die Zutaten zu einem Mürbteig: Mehl, Wasser, Milch und drei Eier. Ich stieß einen Seufzer aus und vermisste meinen Pernod. In diesem Café war Averna das absolut härteste Zeug. Ich bestellte mir einen Doppelten und kippte den sizilianischen Kräuterlikör hinunter. Es war zehn Uhr vormittags. Ein paar ältere Damen starrten pikiert in meine Richtung. Sorry, Ladies, aber ich befand mich gerade im Ausnahmezustand.

Das hübsche Mädchen auf Nadines Foto war – Lisa. Die Freundin des Vorzeigestudenten. Die obendrein ein Verhältnis mit Kathy gehabt hatte. Was der wahre Grund gewesen sein mochte, weshalb der Pokerspieler auf Zlatkos Hütte im dritten Hieb gekommen war. Möglicherweise über die Vermittlung des Jusstudenten und Amateurzuhälters. Ein Dreier mit zwei Beinahe-Jungfrauen, die ein bisschen lesbisch drauf waren – dafür hatte so ein StartUp-Prinz sicher einige purpurne Scheine übrig. Ich zählte zwei und zwei zusammen und teilte Nadine mein arithmetisches Resultat mit: Ihr Noch-Ehemann mit Lisa und Kathy. In einer mehr als verfänglichen Beziehung verstrickt. Die norddeutsche Rachegöttin war restlos begeistert. Schob mir ein Kuvert mit ihrem knausrigen Vorschuss zu und versicherte, um ein Vielfaches großzügiger zu sein, wenn ich wasserdichte Beweise abliefern würde. Fotos, Videos, Audioaufzeichnungen, den ganzen Scheiß einer Beweiskette eben. Ich nickte und dachte an das rosafarbene Smartphone mit den vielen geschützten Dateien. Irgendwo in den digitalen Ordnern gärten garantiert die eingeforderten Beweise vor sich hin.

„Wo ist Ihre Tochter überhaupt,“ fragte ich in das sich aufbauende Schweigen hinein: der Rosenkrieg, das ultralange Scheidungsverfahren, die zugesprochenen Grundstücke und Vermögenswerte – für Nadine lohnte es sich, so lange zu kämpfen, bis sie irgendwann an die gesamte Kohle ihres Exgatten geriet. Ihren freudlosen Job im mittleren Management eines französischen Konzerns aufgeben konnte. Um endlich jene mondäne Kosmopolitin werden zu können, die sie in ihren Träumen schon immer gewesen war. Nur noch wenige Dateien trennten Nadine von ihrem hehren Ziel. Und einige davon befanden sich möglicherweise auf Kathys ramponierten Handy mit dem grün-rosafarbenen Cover.

„In den USA,“ lautete die Antwort, „Lisa ist gerade ein halbes Jahr auf Au-Pair, ich habe sie unmittelbar nach dem mehr als peinlichen Vorfall dorthin geschickt. Mitte/Ende März vielleicht, jedenfalls kurz vor…“
„…Ostern,“ seufzte ich müde. Genau der Zeitpunkt, als diese Millionärsfamilie aus der Neutorstraße verschwand. Komplett mit Vater, Mutter und den zwei übriggebliebenen Kindern. Vielleicht war noch ein teurer Hund mit einem Stammbaum ins frühe dreizehnte Jahrhundert dabei. Konnte der Selbstmord des jüngeren Sohns wenige Monate zuvor einen Dominoeffekt ausgelöst haben? Oder hatten die beiden älteren Geschwister ein gemeinsames dunkles Doppelleben zu führen begonnen, das mit dem entdeckten Beischlaf in der Grinzinger Villa aufzufliegen drohte? Warum war dann die gesamte Familie geflohen – und wovor? Was hatten die Eltern mit den krummen Dingen ihrer Kinder zu schaffen? Die scheffelten seit Jahren ihre Millionen mit Grundstücksspekulation oder dem Geraderücken entstellter Körperpartien.

Nadine stand auf, kreidebleich geworden, aber doch zynisch lächelnd: sie verfügte über tödlichen Charme einer Frau, die sich vor dem Scheidungsrichter die allerbesten Chancen ausrechnen durfte.

„Die Geschichte mit Lisa wird diesen Sexterroristen endgültig platt machen,“ eröffnete mir Nadine einen Einblick in ihr enttäuschtes, innerstes Selbst, „und Sie werden mir die Munition für diese Genickschüsse liefern, lieber Herr Hartmann. Ich zähle auf Sie – und auf Ihre rauchenden Colts.“

Nadine lächelte und verschwand ohne weiteren Gruß zur Türe des Schottenring-Cafés hinaus. Wie ein Schatten, der keinen Schatten besaß. Ein Gespenst. Eine Furie. Der Racheengel aus Nordhessen oder so ähnlich. Ich öffnete das Kuvert und zählte das Geld. Steckte die 1800 Euro an. Genau die Summe, die mir Zlatko überreicht hatte, nach Abzug dieses Geldermann-Sprudels und einem achtfachen Pernod. Verdammt, was hatte das alles miteinander zu tun?

Ich kippte noch einen Averna hinunter und trat geblendet ins Freie. Ein strahlender Sommertag empfing mich wie ein grinsender Staubsaugervertreter. Der Himmel wölbte sich schamlos blau über dem Ringturm-Hochhaus. Ich starrte nach oben zur Reling hinauf und hatte das Gefühl, ein Junge würde mich von dort oben betrachten, ein Teenager, nicht einmal 16 Jahre alt, dunkelbraune Haare, mit wunderschönen, traurigen Augen. Der Junge, der sich vor einigen Monaten von dort oben in die Tiefe gestürzt hatte. Ich glaubte die gestrichelte Falllinie aus dem Zeitungsartikel entlang des Gebäudes zu erkennen, warf meinen Blick zu Boden und entdeckte die ausgebleichten Kreidestriche, die noch immer den Aufprallort des halbwüchsigen Körpers beschrieben. Dieser erzwungene Freitod hatte eine Menge ausgelöst – was alles, wusste ich noch gar nicht. Ich hatte nur herausgefunden, dass der tote Junge einen besten Freund gehabt hatte. Diesen schlaksigen Klassenkameraden mit den strahlenden Augen und dem kleinen Grübchen am Kinn – meinen Sohn Philipp. Der noch immer ein Vorzugschüler war und eine Fabelzeit nach der anderen im Kraulsprint und in der Lagen-Staffel hinlegte. Ein Junge, der so unglaublich viel Zukunft besaß – und bereits gelernt hatte, das eine oder andere dunkle Geheimnis vor den Eltern, vor den anderen Schulkameraden, vor der ganzen Welt zu verschleiern.

*

Sofern man nicht als Erziehungsberechtigter durchgehen konnte, erwies sich eine österreichische Schule als praktisch uneinnehmbares Gelände. Für schulfremde Personen war das Betreten der heiligen pädagogischen Hallen mehr als verboten. Versuchte man es trotzdem, stellte einem der Pedell nach höchstens fünf Metern das Bein und begann zweifelhafte Fragen zu stellen, um dem Eindringling nach kurzem Verhör den Weg ins Freie zu weisen. Der Angst vor fremden Personen war groß. Mit beiden Händen zu greifen. Schließlich trieben sich genügend Verdächtige mit schrägen Ideen in der Nähe von Schulen herum. Mit eingezogenen Schultern. Schweißnassen Händen. Trippelnden Schritten. Und diesem schleimigen Grinsen im Gesicht, das nichts Gutes verhieß. Solchen Personen musste unter allen Umständen der Zutritt zum Schulgebäude verwehrt werden.

Konnte man dagegen als Elternteil auftreten, standen dem Besucher Tür und Tor offen, schließlich war man kein zwielichtiges Wesen aus dem All, sondern Stakeholder. Ein Mitglied des Schulgemeinschaftsausschusses, das umgehend ins nächste Besprechungszimmer geleitet wurde. Freundlich eingerichtet, mit ein paar Bildern von begabten Oberstufenschülern an der Wand. Der Kaffee duftete auch schon in den bereitgestellten Tassen.

„Schwarz, ohne Zucker? Natürlich, hier, bitte sehr.“

Magister Drimmel wies auf eine der beiden Mokkaschalen und hörte mir zu. Ich war der Vater eines seiner Schüler in der 6b. Der Vater von Phil. Eines Vorzugsschülers mit besten Zensuren.

„Weshalb kommen Sie überhaupt,“ fragte mich der Klassenvorstand irritiert und wühlte in seinem Notizbuch herum, „bei mir steht Philipp schon seit Jahren auf einer Eins, und bei den meisten meiner Kollegen ist es ähnlich. Es gibt kaum einen Schüler, der uns allen weniger Probleme oder mehr Freude bereitet.“

Ich spürte diesen aufkeimenden Vaterstolz in der Herzgegend und unterdrückte ein Rülpsen. Rührte im schwarzen Kaffee herum, trank einen Schluck und sah dabei Philipps Klassenlehrer ziemlich direkt in die Augen.

„Neben welchem Schüler sitzt Phil in der Klasse?“ erkundigte ich mich ohne Umschweife. Vielleicht hätte ich auch eine andere Frage aussuchen und mir noch mehr Komplimente auf den Vaterbauch pinseln lassen sollen. Aber der Vormittag währte schon lang, der Kaffee schmeckte erbärmlich und draußen lief die Gegenwart gerade ohne mich Gassi. Wie ein herrenloser Hund, der alles Mögliche anstellen konnte: ein harmloses Kaninchen verfolgen. Die Hauskatze des Nachbarn in Stücke zerreißen. Oder die Marder im Auer-von-Welsbach-Park jagen. Dieser Park war gar nicht so weit von hier entfernt, nicht viel mehr als 20 Minuten zu Fuß. Ich sah Magister Drimmel fragend an, weil auch nach ungefähr zwanzig Sekunden keine Antwort aus seinem Mund gespült kam.

„Neben niemandem – mehr,“ bequemte sich der Mittelschulprofessor doch zu einer widerwillig hervorgestoßenen Aussage. Die Hände des Lehrers begannen zu zittern. Sein Blick verdunkelte sich zu einem bevorstehenden Gewitter. Es war beinahe wie in einem Heinrich-Heine-Gedicht. Oder in einer Rilke-Ballade. Das Leben war sinnlos und stumpf. Und nur selten in schöne Verse zu fassen.

„Was heißt das genau?“ fragte ich barsch und hatte das Gefühl, dass sich meine Raubtierpranken um den schlanken Lehrerschlund schlossen.
„Früher drückte er mit Poldi dieselbe Schulbank. Mit Leopold Schwartz. Jenem Jungen, der…“

Die Stimme des 6B-Klassenvorstands brach ab. Ein paar Tränen rannen über das glatte Lehrergesicht. Ein toter Schüler war für die gesamte Schule ein Skandal. Vor allem für eine, die für ihre modernen Unterrichtsmethoden bekannt war. Behauptete diese Schule auf ihrer Webseite zumindest.

„…von diesem Ringturm-Hochhaus gesprungen ist,“ ergänzte ich den begonnen Satz, und Magister Drimmel nickte. Wir hatten dieselben Bilder im Kopf. Die Bilder eines Zeitungsausschnittes. Der abgebildete Wolkenkratzer, die gestrichelte Falllinie, die Kreidespuren vor dem Eingang des schmucklosen Gebäudes aus den frühen Fünfzigerjahren.

„Er hat sich in die Tiefe gestürzt, und niemand wusste warum.“

Es folgte Magister Drimmels Geschichte der Ahnungslosigkeit. Der Junge stammte aus bester Familie, war aufmerksam, aber zurückhaltend und lernschwach gewesen. In den letzten Monaten vor seinem Freitod war Poldi immer leiser geworden. Hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen. Als ob ihn etwas geschmerzt oder ihm jemand wehgetan hätte. Der zweite Konjunktiv feierte eine wahre Auferstehung in Magister Drimmels Ausführungen. Sogar die Kriminalpolizei war nach Poldis Suizid hier in der Schule gewesen. Hatte Lehrer und ausgesuchte Schüler befragt. Keine einzige weiterführende Antwort. Wenig später sei das Verfahren eingestellt worden. Leopold schien sich grundlos aus dem achtzehnten Stockwerk gestürzt zu haben.

„Und Philipp, mein Sohn?“

„Er schien äußerst tapfer zu sein. Hat sich nichts anmerken lassen und sein nettes Lachen behalten. Im Schwimmsport ist seine Performance unverändert geblieben. Auch seine schulischen Leistungen haben sich kaum verschlechtert. Nur wenn man genauer hinsah, spürte man, wie dreckig es ihm ging. Auf einem Wandertag habe ich ihn einmal beiseite genommen, ihn auf Leopold angesprochen, auf die Leere nicht nur im Klassenzimmer sondern in uns allen. Philipp hat ein bisschen geweint. Seinen Kopf geschüttelt. Und wollte nach kurzem Schmollen wieder zu seinen Mitschülern zurück. Zwei Tage später hat er einen Landesrekord in 100 Meter Kraul aufgestellt und diesen Sieg Poldi gewidmet. Damit schien die Geschichte für ihn erledigt zu sein. Aber die Zuneigung zu seinem toten Klassenkameraden gärt sicher noch immer wie eine giftige Säure in ihm.“
„Die beiden sind also Freunde gewesen?“
„Ja, auf jeden Fall, sehr enge Freunde.“
„Woher wissen Sie das?“
„Ein Lehrer spürt Zuneigung und Ablehnung, Liebe und Hass, und muss erahnen können, was in seinen Schülerinnen und Schülern vorgeht. Sonst wäre er ein schlechter Pädagoge. Wir unterrichten nicht nur Deutsch, Französisch, Latein, sondern sind ebenso Psychologen, Sozialarbeiter und manchmal auch väterliche Freunde wider Willen.“

Magister Drimmels Erklärungen klangen nach einem Manifest für eine modern geführte Schule ohne verdammte Noten, ohne Bewertungsskalen, ohne Schularbeiten und Tests, ohne diese Belastungsproben für das sogenannte wirkliche Leben. Die Schüler mussten ihn gernhaben. Dieser Pädagoge war offen, diskursbereit und flexibel. Er hatte offene Ohren und einen verschlossenen Mund, wenn es darauf ankam. Ich fragte mich, was ihm die Schüler schon alles gebeichtet hatten, die erste Liebesenttäuschung, misslungener Sex, frühe Drogenerfahrungen oder wie einem aus der Unterstufe der Magen leergepumpt worden war. An einem Sonntagmorgen im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Einen Hauch vor dem Exitus nach einer geleerten Flasche ‚Berliner Luft‘ in einem räudigen Partykeller entfernt. Der DJ mit der furchterregenden Akne auf den Wangen hatte Harry Styles aufgelegt, bevor die Lichter des hackedichten Opfers ausgingen. Gut möglich, dass sich Magister Drimmel alle paar Wochen solche Stories anhören musste.

„Wie eng,“ fragte ich in die Stille hinein, „ganz normal eng oder beängstigend eng?“ Ich dachte an die halben Geständnisse meines Sohnes, eher dem eigenen Geschlecht als den Mädels auf der anderen Seite der Barrikade zugetan zu sein.
„Ich kann darauf keine Antwort geben,“ murmelte der Klassenvorstand meines Sohnes, „aber da Sie der Vater eines der beiden Jungen sind, erzähle ich Ihnen einen Vorfall an unserer Schule, der sich vor etwa einem Jahr zugetragen hat. Beide Burschen hatten gerade ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert, Leopold Anfang März, ihr Sohn Phil ein paar Tage später. Ich hatte Pausenaufsicht und spazierte den Korridor entlang. Kam an der Knabentoilette vorbei. Hörte seltsame Geräusche. Ich dachte, irgendein Schüler musste sich im Klo übergeben. Vielleicht illegale Tabletten, vielleicht ein anderer Notfall. Ich stieß die Türe auf und entdeckte Leopold und Philipp in einer offenstehenden Kabine. Sie machten gerade Dinge, die man Kindern in diesem Alter nicht zutrauen würde. Als sie merkten, wer da vor ihnen stand, erschraken sie beide. Lösten sich in einem Aufschrei voneinander. Bitte erzählen Sie niemandem davon, bettelten beide gleichzeitig, mit hochroten Köpfen und weit aufgerissenen Augen. Ich nickte und erteilte den beiden einen strengen Verweis. Außerdem wollte ich von den beiden eine Extra-Hausarbeit haben, einen langen Schulaufsatz mit dem Titel „Mein bester Freund.“ Es waren zwei der schönsten Arbeiten, die ich je gelesen hatte. Wenn nicht diese grauenhafte Tragödie passiert wäre, hätte ich beide Aufsätze gemeinsam in der Jahresschrift unserer Schule abdrucken lassen. Vielleicht sogar in einer Literaturzeitung. So wunderbar stilsicher waren die beiden Erörterungen geschrieben.“

Jetzt schluckten wir beide, Magister Drimmel und ich. Der Kaffee war zu Ende geschlürft, und ich hatte meine Informationen zu Leopold Schwartz und meinem Sohn Phil. Die beiden waren tatsächlich engste Freunde gewesen, möglicherweise sogar ineinander verliebt. Hatten sich zumindest dieses eine Mal auf der Schülertoilette befriedigt. Vielleicht auch öfters, nur irgendwo anders. Im nahen Auer-von-Welsbach-Park. Im Stadthallenbad. In der riesigen Wohnung von Leopolds Eltern.

Magister Drimmel hatte mir weitere Mosaiksteine zukommen lassen – ganz langsam konnte ich mir ein Bild von bisher ungeahnten Umständen machen. Und das seltsame Verhalten meines Sohnes erklären. Irgendetwas scherte hier krass aus der Reihe. Es hatte mit Grenzüberschreitungen zu tun. Mit Verboten, auf die alle Beteiligten pfiffen. Die drei Geschwister aus bestem Haus hatten sämtliche rote Linien überschritten, auch der jüngste Sohn, Leopold. Der sich vor wenigen Monaten von diesem Ringturm-Hochhaus gestürzt hatte. Ganz sicher hatte sein Tod mit solchen Eskalationen zu tun. Sein Aufprall auf dem Asphalt am Schottenring konnte ein emotionales Erdbeben ausgelöst haben. Unter seinen Geschwistern. Bei den Eltern. Und vielen weiteren Personen, die Poldi gekannt hatten. Sogar Magister Drimmel hatte einige Tränen vergossen, in diesem Besprechungszimmer. Vor einem völlig Unbekannten wie mir.

„Wo ist der Junge begraben?“ fragte ich den Pädagogen beim abschließenden Händeschütteln vor dem Eingang des Bundesreal-Gymnasiums. Ich dachte an ein gewaltiges Marmor-Mausoleum in einem der berühmten Bürgerfriedhöfe von Perchtoldsdorf, Grinzing, Hietzing, in Sievering möglicherweise, an eine Art protziger Gruft, die ein Vermögen gekostet haben würde – oder auch zwei.

„Es ist nur ein einfacher Stein in einem Naturfriedhof. Am Fuße einer sehr alten Eiche. Ich kann Ihnen die ungefähre Lage angeben, aber sogar mit diesem Hinweis werden Sie die Gedenkstelle kaum finden. Auf dem grauen Granit steht nur der Vorname des Jungen geschrieben. Leopold. In der krakeligen Schrift des pubertierenden Toten. Der sich vor der Zeit selbst gerichtet hatte. Und jedes seiner Geheimnisse mit in die Ewigkeit nahm.“

*

An jedem zweiten Mittwoch im Monat musste ich ein Schießtraining absolvieren, um meine Waffe weiterhin führen zu dürfen. Ich hatte die G17-Pistole in den letzten Jahren kaum angerührt, aber die österreichischen Vorschriften waren genauso stur wie eine Großherde von Maultieren. Die Überprüfung meiner Schießtauglichkeit fand in einer Einrichtung des Innenministeriums statt, in einem langgezogenen Keller im Bauch der Rossauer Kaserne. Über den Waffenständen gab es einige Verhörräume samt gelegentlichen Schreiduellen und dumpfer Gewalteinwirkung gegenüber besonders hartnäckigen Stehern. Manchmal kam auch die Ambulanz vorbei und holte ein weichgeklopftes Verhöropfer ab, das offiziell nur über die Türschwelle gestolpert war, zufällig mitten in gezückte Schlagstöcke hinein.

Als konzessionierter Privatdetektiv mit weitaus mehr als zehn untadelig verbrachten Dienstjahren auf den Schultern durfte ich mein Schießtraining in dieser Kaserne absolvieren, nach vorheriger Anmeldung natürlich. Meistens waren noch die knackigen Jungs von mobilen Einsatzkommandos hier, die ihre Pappkarton-Scheiben vollschossen, aus der Hüfte heraus, liegend oder freihändig – aus allen möglichen Situationen und Perspektiven. Pulverdampf und sexistische Scherze reicherten die stickige Luft mit Testosteron und Nitrozellulose an, in der die finstersten Disteln allzu männlicher Torheit gediehen.

Nachdem dutzende Schießkarten erfolgreich durchsiebt waren, gingen wir auf das eine oder andere Bier in die Kantine nebenan, mit allgemeinem Socialising, dem Servieren der neuesten Gerüchte und Halbwahrheiten aus dem Schlaraffenland des Verbrechens. Hier ein Mord, da ein Familiendrama oder eine tödlich abgelaufene Amtshandlung. Ein paar junge Langeweiler erzählten sogar von den Mikrodramen zuhause. Vom sonntäglichen Rasenmähen im Garten, von ihren aufsässigen Kids und den kaputten Kühlschränken. Das triste Leben der heterosexuellen Bevölkerung am Rande der Großstadt, Abteilung Innenministerium, Außendienst, Spezialeinheit, meistens vermummt. Schwer bewaffnet. Immer zu gewissen Einsätzen bereit. Zum Beispiel letzte Woche. Ein sexueller Angriff auf einen minderjährigen Buben. Im Auer-von-Welsbach-Park. Der Mann Mitte Vierzig, sein Opfer nicht einmal dreizehn. Ein paar Fotos wurden herumgereicht. Es sah so erbärmlich aus. So verdammt illegal und verboten. Das verheulte Gesicht des Opfers. Die verbissene Maske des Täters, den die Kollegen eines Einsatzkommandos in ihrem Streifenwagen bugsierten, mit Kabelbindern gefesselt, schnaubend vor Wut und betrogener Lust, vollkommen uneinsichtig gegenüber dem, was er soeben angestellt hatte. In der Wohnung des Angreifers wurde umfangreiches Material gefunden, die vornehme Umschreibung für Dateien der widerlichsten Art. Sexueller Missbrauch pur. An irgendwelchen Kids aus sozial prekären Familien verübt. Quer über den Kontinent. Oder in Russland, in Asien, wo auch immer. Das Darknet war eine perfekte Quelle zur Befriedigung perverser Begierden. Manchmal war ich richtig froh, nicht bei der Soko Pornographie anschaffen zu müssen.

Aus ermittlungstaktischen Gründen war die Festnahme im Park noch nicht öffentlich kommuniziert worden. Einige Überprüfungen liefen noch. Ein paar dieser Missbrauchsfilme schienen vom Täter persönlich aufgenommen worden zu sein. In diesem Park. Hinter den Büschen. Oder auf einer versifften Toilette, weiter oben im Meiselmarkt. Keine achthundert Meter entfernt. Die Opfer mussten Wiener Jugendliche sein, meinte einer der ermittelnden Beamten und leerte sein Bier, besonders zwei Gesichter seien ihm in Erinnerung geblieben, offene, gepflegte Gesichter, der eine Junge hatte dunkelbraune, der zweite hellbraune Haare. Beide schienen einander zu kennen. Lachten unbefangen in die Kamera und schienen sogar Spaß an den Spielen zu haben.

„Trotzdem waren sie viel zu jung,“ erzählte der schnauzbärtige Beamte und dreifache Familienvater, „Burschen aus gutem Haus, jedenfalls. Von dem einen wissen wir, dass er sich im November vorigen Jahres umgebracht hat. Aber der zweite ist uns vollkommen unbekannt, ein hübscher sportlicher Junge, einer, der vielleicht sogar Leistungssport betreibt. Der ein bezauberndes Lächeln hat. Und diesen traurigen Glanz in den sonst strahlenden Augen.“

Die sichergestellten Clips seien stumm gewesen, führte der Beamte aus und leerte sein Bier, „aber manchmal schien der eine Junge seinen Freund angesprochen zu haben. Es musste ein sehr kurzer Vorname gewesen sein. Mit einem ‚i‘ in der Mitte, wie uns ein Spezialist für Gebärdensprache erklärt hat, ein Vorname wie ‚Tim‘ oder ‚Nick‘, möglicherweise.“

Oder verdammt nochmal – ‚Phil‘.

*

Ich rief meinen Sohn an. Einmal, zweimal, fünfmal, zehn Mal, dutzende Male. Stammelte mit bebender Stimme seine Mailbox voll, flehte um Rückruf, sofort, auf der Stelle. Was zunächst wie eine Bitte, dann wie ein barscher Befehl und zuletzt nur noch nach Verzweiflung klang.
Nichts.
Keine Antwort.
Nicht einmal ein Anflug von Nichts. Nach ungefähr einer Stunde war die Nummer blockiert oder tot, jedenfalls läutete es nicht mehr. Ich wählte die Nummer meiner Exfrau und berichtete Agnes in schonenden Worten, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Phil war der beste Freund eines Jungen namens Leopold Schwartz gewesen, eines eher lernschwachen Buben aus sehr reichem Haus. Die beiden schienen ein Doppelleben geführt zu haben. An der Oberfläche agierten sie als unauffällige Schüler. Und gaben sich nach dem Unterricht oder abends an düsteren Orten irgendwelchen Männern hin, die sich ihr bisschen Lust bei den beiden Teenagern holten.

Das alles musste sich für Agnes noch hundertmal unglaubwürdiger anhören als für mich. Schließlich stellte Phil im Schwimmen einen Jugendrekord nach dem anderen auf. Wollte Staats- und später vielleicht Europameister in Kraul oder Lagen oder welcher Schwimmdisziplin immer werden, er griff nach den Sternen, schien sich zu mehr als hundert Prozent auf den Leistungssport zu konzentrieren und befand sich gerade auf einem Trainingslager in Rom, ich selbst hatte ihn erst vor ein paar Tagen zum Flughafen gebracht. Diese geheimen Eskapaden im Park oder im Keller einer kläglichen Shopping-Mall – das konnte und durfte nicht wahr sein. Um keinen Preis dieser Welt. Nicht in dieser Stadt. Nicht unser Sohn. Und schon gar nicht mit widerlichen, schäbigen Männern.

Agnes starrte mich an und spielte an einem Amulett herum, das angeblich ein Glücksbringer war. Eine Art Medaille an einer Silberkette, die sich bei näherem Hinsehen als eine Münze entpuppte. Eine belgische Ein-Liard-Münze aus dem späten 18. Jahrhundert. Als dieser Hellseher namens Zarachias in seinem verdammten Sauerkrautfass hockte und seinen Zeitgenossen dunkle Visionen von Weltuntergängen zuraunte.

Ich war zu ihr in die Buchhandlung gefahren. Um uns stapelte sich die Basisliteratur zu einem vollkommenen, ganzheitlichen Leben. Vegane Ernährung. Spirituelle Erleuchtung. Reiki für Fortgeschrittene. Wünschelrutengehen, aber richtig. Die Gurus in den Regalen verkündeten ihre Weisheiten für ein rundum geglücktes Dasein. Ausgeglichen. Balanciert. Mit sich und der Welt im Reinen. Ich dagegen saß in meinem verbeulten Anzug, einem vor Jahren einmal weiß gewesenen Hemd, nach Absinth und Zigarillos stinkend auf einem klapprigen Stuhl und ignorierte den schwarzen Kaffee, den mir Agnes hingestellt hatte. Mittlerweile wog sie mehr als hundert Kilo, war aber immer noch agil und beweglich, sie konnte sich in alle Richtungen verbiegen, das angehäufte Fett schien dabei gar nicht zu stören. Meine Ex-Frau sah mich mehr als entsetzt an, weil sie nicht einschätzen konnte, ob ich brav bei der Wahrheit geblieben war oder in einem Anfall kreativer Schübe viel mehr erfunden hatte, als es überhaupt zu erzählen gab. Nicht nur, dass Philipp offenkundig ein Doppelleben geführt und sich heimlich älteren Männern hingegeben hatte, war auch noch sein bester Freund bei einem Suizidversuch ums Leben gekommen. Unser Sohn musste einsam und verzweifelt gewesen sein. Ich hoffte, dass das alles nicht stimmte. Dass ich Agnes gerade blanken Bullshit erzählte. Ich hielt etwas inne, bevor ich mit der nächsten Frage herausrückte: Ob sie diesen Leopold gekannt habe?

„Ja natürlich,“ antwortete sie und erklärte mir, dass Philipps Freund einen netten und sympathischen Eindruck hinterlassen hätte – ein ganz normaler Junge, der plötzlich nicht mehr da gewesen sei. Sie hätten sich zerstritten, habe Phil erzählt, und Agnes hatte nicht weiter gefragt. Die Pubertät, das Hin und Her zwischen dem sterbenden Kind und einem langsam heranreifenden Mann. Der Zwiespalt mit sich selbst, das Hadern mit sich und der Welt, die hohen Erwartungen, und dazwischen der Leistungssport. Das Schwimmen. Die vielen Trainingsstunden im Chlorbecken der Stadthalle.

„Für einen engen Freund hätte Phillip kaum Zeit aufbringen können. Und für ein Mädchen ebenso wenig. Manchmal ging er für eine Stunde weg und kam wie ausgewechselt zurück. War er vorher schlecht drauf gewesen, lachte er hinterher wieder, und wenn er in Hochstimmung weggeradelt war, konnte es sein, dass er mit verweinten Augen zurückkehrte. Er fuhr oft mit dem Rad irgendwohin. Ich fragte nicht nach. Ich war mit mir selbst und der Buchhandlung beschäftigt. Solange die Noten in der Schule ausgezeichnet und die Rekorde im Schwimmbecken sagenhaft blieben, fragt man nicht nach. Alles schien im Lot zu sein, alles. Vielleicht hast du dich nur verhört. Du hast nicht einmal eindeutige Beweise gesehen, alles, was du weißt, hast du von einem schnauzbärtigen Kerl aus deiner Bullen-Schießhalle. Das ist nichts. Weniger als nichts.“

„Ruf du den Jungen an,“ schlug ich vor und nickte Agnes‘ Smartphone auf der Tischplatte entgegen, das mit dem zerkratzten Display und den vielen Sprüngen auf der Rückseite. Ein Handy, das offensichtlich schon mehrere tausend Mal zu Boden geplumpst war. Und irgendwie immer noch funktionierte.

Meine Ex nickte, rief Philipps Nummer aus ihrer Kontaktliste ab und hörte in das Nichts der blockierten Verbindung hinein.

„Vor einer Stunde habe ich noch wenigstens Freizeichen gehört,“ murmelte ich betreten. Der nächste Anruf würde meinem Bankier gelten, so viel war mir jetzt schon klar. Die abgängige Familie seines Sohnes schien so viel Dreck am Stecken zu haben wie ein irischer Kardinal. Zumindest dieser Vorzeigestudent und Amateurzuhälter mit der blassen, gelblichen Haut, weil seine Leber aufgrund eines fehlenden Enzyms verrückt spielte. Dazu die an der Oberfläche frigide wirkende Ballettprinzessin mit ihrem Studio-Armony-Fimmel. Und zuletzt jener tote jüngere Bruder, der sich zusammen mit meinem Sohn den rücksichtslosesten Kerlen aus der Gosse ausgeliefert hatte. Auf den Toiletten im Meiselmarkt, im Auer-von-Welsbach-Park oder wo zum Teufel auch immer.

Warum hatten Manuel und Kathy dieses Doppelleben geführt? Warum wollten sie nicht den Reichtum ihrer Eltern genießen, brav und widerstandslos in teurer Markenkleidung und mit besten Manieren durch den ersten Bezirk flanieren, Partys schmeißen, mit Freunden in eleganten Cocktailbars abhängen, in das überteuerte ‚John-Harris‘-Gym am Schillerplatz gehen und sich hinterher den Waschbrettbauch mit Pizzen voll Goldstaub und geschabten weißen Trüffelscheiben vollschlagen? Nichts passte zusammen. Überhaupt nichts. Im Penthouse der Familie Schwartz hatte es keine Betten gegeben. Dafür war mir ein Fläschchen Poppers in diesem Panamera-Porsche in die Hände gefallen. Auf einem analogen Anrufbeantworter hatte ich Zlatkos verruchter Stimme gelauscht, die eine baldige Abholung des vergessenen Koffers und des hübschen Kuverts mit der Kohle aus sogenannten Dienstleistungen urgierte. Dann gab es noch meine andere Klientin Nadine Kleingeld, die sich mitten in einem Rosenkrieg mit diesem Startup-Unternehmer und ehemaligen Vizeweltmeister in Texas Hold’em-Poker befand. Den sie vor einiger Zeit mit einer jungen Prostituierten namens Jacqueline im Ehebett erwischt hatte. Deren beste Freundin mit dem Bruder dieser Amateurnutte ging und ausgerechnet die Tochter des Pokerspielers und Startup-Gründers war. Die eigene Tochter. Und plötzlich fiel der berühmte Groschen in mir, das entscheidende Ein-Euro-Cent-Stück, das einen kalten Schauer nach dem anderen auslöste. Mein Innenleben fühlte sich mit einem Mal frostig an, wie vereist. Als ob meine verdammten Gefühle von einer Sekunde zu einem riesigen Eisberg erstarrt wären. Die eigene Tochter. Die eigenen Söhne. Die eigenen – Kinder. Der Immobilienentwickler, die Gynäkologin. Jenes Paar aus der gehobenen Gesellschaft, das bisher so unauffällig im Hintergrund geblieben war. Seltsam entrückt. Kaum zu begreifen. Waren sie zu Ostern tatsächlich nur in den Urlaub gefahren? Oder hatten sie nicht eher die Flucht ergriffen? Hatte ein Außenstehender von diesem familiären Desaster erfahren? Was war echt, was falsch, was hatte sich überhaupt wie ereignet?

Ich knackte mit den Händen herum. Betrachtete Agnes, die sich das nächste Glas Weißwein einschenkte. Aus biologischem Anbau. Mit Demeter Hefen. Bei Vollmond geerntet. Was uns jetzt auch nicht weiterhalf – unser Sohn hatte beschlossen, seine Eltern digital zu blockieren. Warum und wieso wusste keiner von uns. Ich zündete mir ein Zigarillo an, egal ob es erlaubt war oder auch nicht. Die Stille zwischen den Buchstapeln und Regalreihen war mit beiden Händen zu greifen. Irgendwo auf den esoterischen Seiten krabbelten Bücherskorpione herum. Ich hörte jedes einzelne Beinchen von ihnen, und die waren verdammt klein und leicht. Wie eine Schafswolke zwischen den Zähnen.

Plötzlich vibrierte das Handy meiner Exfrau. Eine italienische Nummer. Agnes schnappte sich das schokoladentafelgroße Ding, sagte „Hallo“ und hörte einer aufgeregt klingenden Stimme am anderen Ende der Verbindung zu. Ein älterer Mann. Österreicher, dem Redefluss nach. Vielleicht einer der Schwimmtrainer unseres Jungen. Nach den Blicken meiner Exfrau zu schließen, mussten die Nachrichten schlecht sein. Und sie waren es auch. Hundsmieserabel schlecht.

„Phil ist aus dem Trainingslager geflohen. Er hat anscheinend nichts mitgenommen, kein Gepäck, keine Bekleidung, keine Ausweise, kein Geld. Nichts. Sein Handy wurde vor einer Stunde in einem Straßengraben bei Ostia gefunden. Seitdem ist Philipp spurlos verschwunden,“ murmelte Agnes und Tränen begannen über ihre Wangen zu fließen, Tränen, die ich nur allzu gern mit ihr teilte.

*

Der mysteriöse Bankier wurde immer stiller am Telefon. Am Anfang hatte er noch Einwände gegen meinen Redefluss erhoben, aber im Laufe unseres Gesprächs verstummte er völlig. Ich hörte sein schweres Atmen in den Pausen zwischen meinen Sätzen, und spürte, wie sehr er sich gegen meine Ausführungen sträubte. Aber er legte nicht auf. Hörte sich alles ganz genau an. Erfuhr vom Doppelleben seiner Enkel, die in der Schule und im Studium hervorragend waren, die klassisches Ballett betrieben, ausgezeichnet Körperteile mit dem Kohlestift auf ein Blatt Papier wiedergeben konnten oder Instrumente wie Klavier oder Violine beherrschten, die aber dazwischen ihre Abgründe hatten, mit dem Feuer spielten, sich wildfremden Leuten an krassen Orten hingaben – alles hinter ihrer adretten, makellosen Fassade. Mit Blicken, die kein Wässerchen trübten. Einem Lächeln, das allenfalls kokett war. Und Worten, die eine Spur zu süß klangen, um aufrichtig gemeint gewesen zu sein.

Vieles von dem, was ich sagte, blieb Spekulation. Gefasel der reinen Vermutung. Ich hatte zwar ein paar Ansätze zu handfesten Beweisen, aber die Suppe war immer noch viel zu dünn. Vielleicht wurde sie etwas dicker, seit ich vom Selbstmord des dritten Kindes erfahren hatte, von Leopold oder Poldi, dem besten Freund meines Sohnes. Der jetzt ebenfalls untergetaucht war. Spurlos verschwunden. Ohne irgendetwas mitgenommen zu haben. Weder Bargeld noch Kleidung oder sein verdammtes Handy, das er anscheinend im nächsten Graben entsorgt hatte. Alles, was Philipp gehört hatte, war in seinem Trainingslagerzimmer zurückgelassen worden. Kein Abschiedsbrief. Keine vorläufigen letzten Worte. Nichts. Vielleicht war Philipp vor sich selbst geflohen. Befand sich auf der Flucht vor dem Toten, der ihm noch immer auf den Fersen war. Der ihm den Schlaf stahl und die Kraft zu den entscheidenden Tempi im Schwimmbecken raubte. Hatte Philipp sich selbst aufgegeben? War er deswegen untergetaucht? Wo befand er sich gerade? Ich dachte an die tausenden Polizeidienststellen, die gerade folgende Vermisstenmeldung bekommen hatten: Abgängiger Junge, sportlich, 180cm groß, 62 kg schwer, 16 Jahre alt, braune Haare und graue Augen. Österreicher. Spricht neben Deutsch auch Englisch und etwas Italienisch.

Der Bankier mit der jungen Stimme entschuldigte sich. Für etwas, woran er gar nicht schuld sein konnte. Ich fragte ihn geradeheraus, wie gut er seinen einzigen Sohn kannte. Diesen ehrgeizigen Immobilienentwickler, der wie ein mondäner Literat aussah oder dieser Schauspieler, der letztes Jahr in Cannes die Goldene Palme abgeräumt hatte. Anfang fünfzig, schlank, braun gebräunt, längere von der Sonne gebleichte Haare, etwas trainiert, keinerlei Bauchansatz, entspannter Gesichtsausdruck. Ein vielseitiger Blender, der Shakespeare rezitieren, aber auch in einem ganz gewöhnlichen Fernsehkrimi auftreten konnte.

„Worauf wollen Sie hinaus,“ entfuhr es dem älteren Herrn, dessen Bariton ziemlich sexy klang, ich wusste auch nicht warum, aber etwas an dieser Stimme passte nicht zum siebzigjährigen Multimillionär, der schon dreimal 20.000 Euro auf mein Konto überwiesen hatte und mir im nächsten Atemzug eine weitere Rate in Aussicht stellte, „sie sind ziemlich gut im Recherchieren, Herr Hartmann. Meine Anzahlungen sind offenkundig jeden Cent wert.“

„Das war nicht die Antwort auf meine Frage,“ entgegnete ich unwirsch und wiederholte noch einmal das Ratespiel zwischen uns, „wie gut haben Sie Ihren Sebastian gekannt? Nicht als erwachsenen Mann meine ich, sondern davor. Wie war er als Junge, als Teenager, als Maturant oder Student? Gab es irgendwelche Ereignisse, die seinen Charakter beeinflusst hatten, die ihn vielleicht von einem Tag auf den anderen seltsam erscheinen ließen?“
„Was für dämliche Fragen stellen Sie mir eigentlich,“ entrüstete sich der Bankier so laut, dass ich spürte, die richtigen Fallen ausgelegt zu haben.
„Denken Sie nach,“ forderte ich das einsetzende Schweigen am anderen Ende der Verbindung auf, „ich wette, es gibt etwas, das ihren Sohn verändert hat. Von einem Tag auf den nächsten. Als er zu lachen aufgehört hatte. Oder ins Bett zu machen begann. Als er nicht mehr einschlafen konnte. Als er sich in sein innerstes Selbst zurückzog und vielleicht dutzende Kilos abnahm. Als Sie ihn zu Psychologen und Therapeuten zu schicken begannen, die vielleicht allesamt …“
„Hören Sie auf,“ schnitt mir die seltsame Stimme das Wort ab, „ich weiß, was Sie meinen. Sebastian ist mit elf Jahren verstört von einem Reiturlaub zurückgekehrt. Er wirkte teilnahmslos, beinahe lethargisch, ließ in der Schule nach, kaute an den Fingernägeln herum, zerkratzte sich mit Zirkeln oder scharfen Messern die glatte Kinderhaut. War zwei Jahre in einer forensischen Einrichtung, wurde wieder entlassen, bekam Tabletten verschrieben, überwand die Pubertät, schaffte mit Müh und Not sein Abitur, machte das Betriebswirtschaftsdiplom und war dabei in meine Fußstapfen zu treten, nicht unbedingt als Bankier, aber als talentierter Immobilienentwickler. Ich habe ihn dabei nach Kräften unterstützt. Mit einer Frankfurter Bank im Rücken geht vieles leichter vonstatten.“
„Sebastian hat tatsächlich Karriere gemacht…“
„… und ist Geschäftsführer in einem erfolgreichen Immobilienunternehmen geworden, er hat eine reizende Frau von den Azoren geheiratet, eine angesehene Gynökologin, und beide haben zwei großartige Kinder…“
„…nein, drei,“ unterbrach ich den neuerlich einsetzenden Redefluss des Alten, „sie haben Leopold vergessen, den jüngeren Sohn, der sich im letzten November von einem Hochhaus…“
„…ersparen Sie mir bitte die Einzelheiten…“
„…geworfen hat. Und dessen Tod etwas ausgelöst hat. Was genau wissen wir noch nicht. Aber ich wette, es hat mit dem überstürzten Verschwinden dieser Familie zu tun. Ich danke Ihnen, dass Sie mir diese Einzelheiten aus Sebastians Kindheit erzählt haben.“
„Sie haben mich dazu gedrängt.“
„Ich hatte eine Vermutung…“
„…und jetzt?“
„Gewissheit, würde ich sagen.“

Ich legte auf. Grußlos. Ohne ein Wort des Abschieds. Warf das Smartphone auf die Tischplatte. Und überlegte, wo zum Teufel ich eigentlich war. Die Flasche Absinth, die versiffte Abwasch und ein paar dahinhuschende Schatten am Fußboden beamten mich wieder in meine Existenz zurück. Ich war noch immer Joe Hartmann. Obwohl ich in Wirklichkeit anders hieß. Aber das war jetzt vollkommen egal. Ich spürte, dass hinter den sexuellen Eskapaden heranwachsender junger Leute aus bestem Haus etwas ganz anderes stand. Eine Abwegigkeit, die schon viel früher eingesetzt hatte. Und womöglich jedes Familienmitglied gefangen hielt und im Innersten terrorisierte. Vielleicht hatte alles mit diesem elfjährigen Jungen begonnen, der vor vier Jahrzehnten verstört aus einem Reiturlaub zurückgekehrt war, hilflos den Dämonen ausgeliefert, die ihm dort aufgelauert hatten. In welcher Gestalt und unter welchen Umständen auch immer.

*

Küppers hatte auf meinem Smartphone eine Nachricht hinterlassen, die wenig beruhigend klang. Zumindest für mich. Die ‚Luxury-Living-Immobilien-GmbH‘ habe einen Käufer für die geräumige Dachgeschosswohnung gefunden, potente Investoren aus Belgien, die noch an diesem Nachmittag den Kaufvertrag unterschreiben würden. Die eine Hälfte der beiden Familien besaß Schokoladefabriken, die andere handelte mit Diamanten und Antiquitäten. Geld spiele hier keine Rolle. Die bezahlen die Kaufsumme, ohne mit der Wimper zu zucken – ungefähr wie andere Leute ihre Melange im Kaffeehaus berappen. Aus der linken Hüfte heraus, so Küppers digital aufgezeichnete Stimme.

Binnen weniger Stunden müssten meine eingespeicherten Fingerprints deaktiviert werden, im Rahmen der Datenschutzverordnung und Millionen anderer Richtlinien wäre Küppers verpflichtet, mich darüber umgehend zu informieren und so weiter und so fort. Der aufgezeichnete Belehrungsrap wollte gar nicht mehr aufhören.

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und seufzte, weil ich den Stress sich überstürzender Ereignisse hasste. Mein Leben war auf Observationen aufgebaut, die langsam vor sicher her köchelten wie Saucen, die über Stunden hinweg von zweieinhalb Liter Flüssigkeit auf wenige Zentiliter einzureduzieren waren – schnelle, überraschende Wendungen waren wirklich nicht meins. Auf der anderen Seite hatte der mysteriöse Frankfurter Bankier seine nächste Anzahlung vom Stapel gelassen, ich wurde alle paar Tage reicher, wohlhabender, bürgerlicher. Als ob mich dieser Millionär in seinesgleichen verwandeln und auf die bourgeoise Seite des Lebens zerren wollte, koste es was es wollte, im Augenblick waren es knapp 80.000 Euro. Achtzigtausend. Für einen Frankfurter Bankier ein Besenstil, für mich eine Schatztruhe. Das ganze verdammte Geld für Vermutungen und Spekulationen, für etwas Trockenfutter aus der Gerüchteküche des Lebens.

Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr die paar Gassen weiter. Von der einen Tiefgarage im Ersten zur nächsten, genauer gesagt von meinem finsteren Autoabteil in die ziemlich noble unter dem Kempinski-Hotel. Vor dem Ausgang Neutorgasse waren die Stellplätze zur Dachgeschosswohnung geräumt. Kein Porsche Panamera parkte nicht mehr protzig neben dem Eingang, und auch der aufgepeppte SUV war entfernt worden. Von Küppers höchstpersönlich wahrscheinlich. In irgendeinem höheren Auftrag. Wahrscheinlich steckte der Stellvertreter von Sebastian Schwartz dahinter, dieser ebenfalls Solarium gebräunte Ehrgeizling namens Max. Oder Hermann. Oder was immer dessen Vorname war. Trotz vorgeheuchelter Empathie mit der abgängigen Familie schien dieser Kerl unmittelbar vor dem nächsten Karriereschritt zu stehen: die Poleposition bei der ‚Luxury-Living-Immobilien GmbH‘ zu übernehmen und als neue Nummer Eins zuallererst das gewaltige Penthouse über dem Büro zu veräußern. Zu einem Preis, bei dem niemand nein sagen konnte: kein Notar, kein Rechnungsprüfer und erst recht nicht der ältere Bankier aus dem Frankfurter Grüneburg-Viertel. Vor der Kaufsumme und dem bereits ausgearbeiteten Notariatsvertrag hatten alle zu schweigen.

Die Wand, vor der die beiden Autos geparkt waren, strahlte mich wie ein Firmling in Mariazell an, frisch herausgeputzt und im knalligsten Weiß. Jede Schleifspur war mit fetten Pinselstrichen übertüncht worden, auch die kryptische Inschrift „661a“ gab es nicht mehr. Die Wände glänzten in der Farbe der Unschuld, als ob die Garage erst vor wenigen Stunden feierlich eröffnet worden wäre.

Mit etwas Herzklopfen im Brustbeutel drückte ich die rechte Zeigefingerkuppe gegen das kleine Touch-Quadrat, das Schloss summte wie gewohnt, und die Glastüre ging noch einmal wie durch Geisterhand auf. Ich betrat den Lift ins oberste Stockwerk, neben der Leuchttafel mit der Led-Anzeige war ein Din-4-Zettel affichiert worden: „Kindly note the Buyer’s Meeting at the 6th floor, Fam. Boulanger“ – wohl der Name der belgischen Investoren. Die sich in Kürze in Begleitung ihrer Rechtsanwälte und Anlageberater an dieser Adresse einfinden würden oder vielleicht bereits da waren. Buyer’s Meeting. Ich schüttelte den Kopf und betrat den imposanten Diele-Wohnzimmer-Fressbereich, hundert Quadratmeter luxuriöser Langeweile in dutzenden Pastellfarben. Fifty wider Shades of Pale oder so ähnlich. Je öfter ich hierherkam, desto banaler wirkte das teure Stillleben auf mich. Monochromatischer Luxus, der sich selbst genügte.

“Wir sind oben auf der Terrasse. Sie können uns ruhig Gesellschaft leisten,” hörte ich Küppers Stimme in die Richtung der geräumigen Wendeltreppe rufen, die das untere Stockwerk mit dem Freizeitbereich samt Whirlpool und Außenschwimmbecken verband. Bevor ich seiner Aufforderung nachkam, klapperte ich noch einmal die einzelnen Räume ab, einen nach dem anderen. Die großzügigen Bäder in weißer Marmorverkleidung. Die Jugendzimmer und den Schlafsalon der abgängigen Eltern. Irgendetwas hatte sich in der Zwischenzeit verändert, aber ich wusste nicht genau was.

Als ich wieder in der Küche ankam, schnappte ich mir die Flasche Pernod neben dem Induktionsherd, schaufelte zwei Kilo Eiswürfel in einen silbernen Champagnerkühler und trollte mich zur Investorenversammlung auf der Dachterrasse hinauf. Die Markisen und Sonnenschirme waren in all ihrer Pracht und Herrlichkeit ausgefahren, Hermann Max stand mit einer Gruppe von Leuten mittleren Alters am Rande des Schwimmbeckens und gestikulierte sein großes Finale: wie ein italienischer Dirigent an der Wiener Staatsoper, kurz bevor Tosca von der Engelsburg sprang. Die belgische Investorenversammlung hörte ihm mehr oder weniger andächtig zu, nur Küppers stand schlecht gelaunt etwas weiter im Abseits und schnitt Grimassen wie ein Weißclown während der Kindervorstellung.

Ich stellte den guten alten Pernod, den Champagnerkühler mit dem Eis und einen kleinen Teller Limettenscheiben, den ich auch noch mitgeschleppt hatte, auf den gläsernen Beistelltisch und setzte mich auf eines der fetten Denon-Fauteuils. Warf einen kurzen Blick auf Schalen mit Wasabi-Nüssen, Cashew-Kernen und anderem Barfutter und winkte zu den belgischen Investoren hinüber, die mit ihren Rechtsvertretern dem bisherigen ‚Luxury-Living-Immobilien-GmbH‘-Stellvertreter Max Hermann oder Hermann Max dutzende Fragen in einem ziemlich bizarren Deutsch stellten und ab und zu einen prüfenden Blick nach ihrem verzogenen Nachwuchs im Chlorwasser riskierten. Die Familie Boulanger ignorierte Küppers wie einen ausgewrungenen Putzlappen und starrte mich irritiert an, als ob ich ein Mittelding zwischen Leibeigenem und Lohndiener wäre: der Typ, der die sauteuren Koffer der belgischen Entourage von A nach B schleppen musste und dafür seinen Absinth bekam, die niederen Dienstleister schienen alle alkoholabhängig oder kokssüchtig zu sein, zumindest in den etwas betuchteren Haushalten. Max oder Hermann nickte kurz in meine Richtung und widmete danach seine ganze Aufmerksamkeit den belgischen Kunden, die keinen blassen Schimmer hatten, weswegen ich hier war, eine Flasche Pernod leerte und dabei ein Zigarillo nach dem anderen inhalierte. Und Küppers drehte Däumchen, nestelte an einer betont hässlichen Krawatte herum und verzog sein Mäulchen wie ein Kind, das seinen Spinat nicht anrühren wollte.

Der ehemalige Stellvertreter erklärte den versammelten Millionären wortreich die Vorzüge der Immobilien und deutete hin und wieder in meine Richtung, worum es da genau ging, war mir ziemlich egal. Wie es sich für ein niederes Kriechtier gehörte, lächelte ich bieder vor mich her, hob ich hin und wieder den Tumbler aus Bleikristall in die Höhe und deutete munteres Zuprosten oder einen faden Trinkspruch an. Ich fühlte mich wie ein Hausmeister oder jenes Mädchen für alles, das den Whirlpool säuberte, das Schwimmbecken chlorte und die zahlreichen Kühlschränke der Wohnung mit edlen Weinen bestückte. Und Küppers wirkte gereizt wie ein Schoßhund, den man seit Tagen zu füttern vergessen hatte.

Kurz vor Sonnenuntergang wurden die bibbernden Kids mit den blauen Lippen und den Schwimmflügeln an den dünnen Armen aus dem Becken gehievt und mit riesigen Frotteehandtüchern trocken geschrubbt – keine zwei Minuten später hatte sich die gesamte Meute verzogen. Nicht ohne zuvor das Kaufangebot unterschrieben zu haben. Der Immo-Deal war ohne viel Aufhebens über die Bühne gegangen. Acht Millionen Euro hatten von einer Minute zur anderen den Besitzer gewechselt. Vielleicht waren es auch neuneinhalb oder gleich 12 Millionen. Es gab jede Menge Leute, denen Geld völlig egal war. Die sich zumindest so gebärdeten. Die viel zu reich und gleichzeitig bettelarm waren. Vollgepumpt mit ihrer Gier nach hunderten Wiener-Innenstadt-Quadratmetern voller Luxus und Pomp.

Nachdem sich der belgische Kaufrausch mit seiner Durchlaucht Max Hermann, dem nunmehr Göttlichen, verzogen hatte, ging ich mit Küppers ins untere Penthouse-Geschoss. Die Türen zu allen Räumen standen sperrangelweit offen, und als ich in eines der ehemaligen Schlafzimmer starrte, bemerkte ich, dass mitten unter all dem Marmor und den Stuck an den Wänden ein riesengroßes Bett gestellt worden war, mit Lederumrandung und bunt besticktem Baldachin über den blütenweißen Damast-Laken. Ich betrat das nächste Schlafzimmer, danach das dritte und vierte auf der jeweils linken Seite des breiten Korridors, und in jedem dieser Raume war das gleiche schicke Doppelbett platziert worden, immer mit dieser Lederumrandung und einem imperial aussehenden Baldachin in jeweils unterschiedlichen Farben.

Ich blickte den Angestellten der ‚Luxury-Living-Immobilien-GmbH‘ fragend an, aber Küppers wich meinen bohrenden Blicken aus und starrte finster seine schmutzigen Straßenschuhe an, frustriert wie die Mutter eines Kindes, das schon wieder ins Bett gemacht hatte.

„Die Möbelpacker aus Brüssel waren bereits hier,“ fügte er niedergeschlagenen Blickes hinzu, „die Boulangers wollen hier schon schnell wie möglich einziehen. Die Schokoladen- und Diamantenbranche wartet anscheinend nicht gern. Vielleicht bleiben die belgischen Käufer nicht einmal ein Jahr in Wien, bevor sie wieder weiterziehen und die Wohnung an Diplomaten oder Freiberufler vermieten – auch wenn alles jahrelang leer stünde, wäre das ihnen so egal wie der daneben gegangene Schuss eines Nachwuchsfußballers.“

Küppers räusperte sich und informierte mich nochmals darüber, dass er in Kürze meinen Fingerprint-Zugang zur soeben verkauften Immobilie löschen müsse. „Wenn Sie wollen, können Sie noch den ganzen Abend hierbleiben, ihr Zugang wird erst um Mitternacht deaktiviert sein oder wenn Sie Penthouse-Türe hinter sich schließen. Sie kommen hier jederzeit raus – aber nie wieder herein. Falls Sie sich noch einmal umsehen möchten – nur zu“, fügte er leise hinzu, beorderte den Lift ins oberste Stockwerk hinauf und verabschiedete sich mit einem dünnen Lächeln von mir.

„Es war schön, Sie kennengelernt zu haben,“ log er dreist und betrat die Glaskabine des geräumigen Lifts. Ich fragte mich, wie oft die einzelnen Familienmitglieder diesen verfluchten Aufzug benützt hatten. Niemand von den Nachbarn, die ich in den letzten Tagen befragt hatte, konnte mir irgendetwas Näheres zu dieser Familie erzählen, die immerhin beinahe vier Jahre hier gelebt hatte. Mit ihren Kindern. Zuerst mit drei und dann nur noch mit den beiden älteren: Manuel und Kathy. Wo der jüngste Sohn hingeraten war, vermochte keiner der Nachbarn zu sagen. Die einen faselten von einem Auslandsschuljahr in den Vereinigten Staaten, die anderen murmelten etwas von Klapsmühle oder einem teuren Sanatorium in Davos – Gerüchte wie diese hielten die Alltagsmarionetten in den unteren Stockwerken einigermaßen lebendig. Auch wenn sie alle miteinander so aussahen, als hätten sie bereits mehrfach das Zeitliche gesegnet.

Nachdem Küppers fort war, räumte ich brav den Champagnerkühler mit der geleerten Pernod-Flasche und den geschmolzenen Eiswürfeln, den Teller mit den übriggebliebenen Limettenscheiben und die halbvollen Barfutter-Schälchen nach unten. Stellte alles in den Abwasch und patrouillierte noch einmal wie ein Nachtwächter durch die verlassene Wohnung. Überall gediegener Luxus: teure Murano-Luster, langweilige graue Minotti-Sofas und pompöse Türschnallen, kunstvoll geschwungene Wasserhähne und andere Protz-Armaturen. Vergoldete Versionen der Sinnlosigkeit.

Im letzten Schlafzimmer, ganz hinten auf der anderen Seite der Wohnung, wurde ich stutzig. Es war das einzige Zimmer, in dem noch ein paar Kleidungsstücke im Schrank hingen, einige Hoodies, Hemden und Jeans, alle in schwarz und in den kleinsten Männergrößen gehalten. Diese Gegenstände mussten Poldi gehört haben, dem jüngsten Kind der Familie, das sich vor einigen Monaten von diesem Ringturm-Hochhaus in den Tod gestürzt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich dieses Zimmer bei meiner Inspektion vor ein paar Tagen übersehen oder die im geräumigen Kasten befindlichen Kleidungsstücke ignoriert hatte. Im Papierkorb neben dem Schreibtisch lag ein Stück schwarzer Stoff. Ich beugte mich hinunter, griff mit spitzen Fingern hinein und zog ein T-Shirt heraus, diesmal in Größe „M“, ein schwarzes Leibchen, auf dessen Vorderseite die Silhouette eines Schwimmers abgebildet war, der sich anschickte, nach dem Startschuss ins Wasser zu springen. Es war keine Fotografie, nur eine reduziert gehaltene Karikatur, und darunter stand „Landesschwimmverband Wien“. Samt dessen Gründungsjahr: 1891. Ich kannte das T-Shirt. Ich hatte es oft am Oberkörper meines Sohnes gesehen. Genau dieses T-Shirt hat Phillip dutzende Male getragen. Mein Sohn, der seit Tagen in Italien abgängig war. Ich hob das Shirt mit dem V-Ausschnitt in die Höhe, gegen das Licht der im Westen untergehenden Sonne. Haltlos flossen die Tränen über meine Wangen, weil ich spürte, dass ich mich nicht mehr über den strahlenden Sonnenuntergang freuen konnte, solange mein nun ebenfalls abgängiger Sohn irgendwo in Mittelitalien herumirrte.

Ich legte das T-Shirt auf den Schreibtisch, streichelte über den Baumwollstoff und roch ein wenig an der Illustration eines Schwimmers, der sich gerade von seinem Startplatz katapultiert hatte und ins Wasser sprang, auf der Jagd nach einer neuen persönlichen Bestzeit. Wenn wir nichts mehr besaßen, konnte uns niemand mehr trösten. Unser ganzer Elternstolz war verschwunden – mit diesem großartigen Sohn, der sich in welcher Hölle auch immer verschanzte.

Nach einigen Minuten öffnete ich wieder die Augen und beobachtete, wie die letzten Strahlen der Abendsonne auf den schwarzen Stoff fielen, der alles in sich aufsog, bis nichts mehr anderes übrigblieb als dieser seltsam gefrorene Trost in mir: der Trost des verschwundenen, fremd gebliebenen Sohnes. Ein Trost der Verzweiflung. Möglicherweise.

In meiner rechten Sakkotasche ertastete ich ein Stück zusammengefaltetes Papier. Den herausgerissenen Zettel eines Notizblocks. Mit der Adresse des Naturfriedhofs mitten im Wienerwald, wo sich am Fuße einer uralten Eiche dieser Granitstein befand, mit einem hin gekrakelten Namen darauf.

„Leopold“, flüsterte ich leise und betrachtete die untergehende Sonne im Westen. Ich musste dorthin fahren, um das Grab des besten Freundes meines abgängigen Sohns zu sehen. Aber ich würde mich nicht damit begnügen, regungslos auf den Gedenkstein zu starren, sondern würde auf den Knien und mit bloßen Händen in der feuchten Erde nach einer Botschaft zu wühlen beginnen, die möglicherweise neben der Urne mit der Asche des Jungen versteckt worden war – eine letzte Offenbarung, die man dem toten Kind mitgegeben hatte. Ein zu spät gekommener Liebesbeweis, der vergeblich gebliebene Gruß der fassungslos Zurückbleibenden und ein Fingerzeig für jenen Wahnsinnigen, der den Mut aufbringen würde, in der fetten Erde des Vergessens zu wühlen.

*

„DU WIRST SEHEN: EIN STICK BEFINDET SICH DORT. IN EINEM ZELLOPHANBEUTEL. UNTER DEM BODEN DER URNE!!!“

Die SMS-Nachricht war mit einigen Ausrufezeichen versehen. Und obendrein in Großbuchstaben geschrieben. Mein Sohn hatte sich gemeldet. Von einem anonymisierten Wertkartenhandy aus. Er sei in Sicherheit, hatten seine Nachrichten begonnen, bei einem Freund. Es ginge ihm gut.

„MACHT EUCH KEINE SORGEN. UND SUCHT NICHT NACH MIR. IHR WERDET MICH NICHT FINDEN. NICHT SO SCHNELL JEDENFALLS.“

Worte, die alles andere als beruhigend klangen. Worte, die seine Unsicherheit wiedergaben, seine widersprüchliche Position zwischen den Welten. Philipp war kein kleiner Junge mehr. Aber auch noch lange kein Mann. Nur in Jeans, T-Shirt, einem Hoodie und in Sneakers ohne Socken war unser Sohn aus dem Trainingslager geflohen. Und irgendwo musste er untergekommen sein, da seine Nachrichten alles andere als verbittert klangen. Eher überheblich, vielleicht sogar arrogant. Jedenfalls äußerst selbstbewusst, geradezu fordernd. Ein neuer Tonfall hatte sich in Philipps Nachrichten gemengt. Er wuchs heran – unter derzeit mehr als fraglichen Umständen.

In den ersten Nachrichten hatte Philipp sogar mit einem Abbruch des wiederaufgenommenen Kontakts gedroht, aber nach und nach wurden seine Botschaften milder, der Ton weicher, die Gedanken freundlicher. Irgendwie schien der Junge sogar froh zu sein, über seine Beziehung zu Leopold sprechen zu können, wenn auch nur in kurzen Andeutungen, Halbsätzen und etwas verworren klingenden Angaben. Es musste ihm unvorstellbare Mühen bedeuten, von dieser schief gelaufenen Freundschaft zu berichten. Ich hatte ihm erzählt, bei seinem Klassenvorstand Drimmel gewesen zu sein, und Philipp ahnte, dass ich auf dem mir zugespielten Smartphone Kathys Bilder, Clips und Audioaufzeichnungen angeschaut hatte.

„DER STICK, PAPA. GEH IHN BITTE SUCHEN. ICH WEISS, DASS ER DORT LIEGT. ER MUSS UNTER DEM STEIN LIEGEN. AM BODEN DER URNE BEFESTIGT.“

Mit einem mehr als mulmigen Gefühl war ich zu diesem Waldfriedhof am Wiener Kahlenberg gefahren. Einer naturnahen Gedenkstätte in der Nähe des Waldseilparks, umgeben von Bäumen und Sträuchern, unterbrochen von wenigen Wiesen. Überall waren unscheinbare Steine zu sehen, die mit einem oder – viel seltener – mit mehreren Namen beschriftet waren. Es war nicht leicht, mich an die entrückte Atmosphäre dieses Erinnerungshains zu gewöhnen. Keine Kerzen, keine bescheuerten Bibelzitate, nur scheinbar zufällig hin gewürfelte Steine, auf denen Namen eingraviert waren: die Namen der oft konfessionslos gebliebenen Toten.

Mit rasendem Herzschlag blickte ich mich um wie ein Dieb, was heißt wie: im Grunde war ich jetzt einer. Zumindest war ich unbefugt, dafür mit einer Bauleuchte, etwas Grabungswerkzeug und einer Stirnlampe im Rucksack über die Einfriedung geklettert, und hatte zwischen losen aufgestellten Gedenksteinen nach dieser einen Uralt-Eiche gesucht.

„DU MUSST GANZ NACH HINTEN GEHEN. BIS ZU EINER ART WALD. DICH EHER RECHTS HALTEN. NUR DANN SIEHST DU DIE EICHE. ES IST EIN RIESIGER ALTER BAUM. KNORRIG UND VERWITTERT.“

Ich war erstaunt, wie genau Philipps Anleitungen waren. Hatte er diesen Gedenkhain öfters besucht – oder gab es jemanden, der ihm die näheren Hinweise steckte? Er sei bei einem Freund, hatte der Junge erzählt, mehr wollte er mir unter keinen Umständen verraten. Bei wem auch immer Philipp untergekommen war, mit Sicherheit war es kein Freund. Eher jemand, der ihn ausbeutete, das letzte bisschen Würde in ihm auslöschte, der ihn ruinierte und ihn womöglich verschlang. Ich dachte an die Andeutungen, die der Polizeibeamte nach dem Schießtraining gemacht hatte. Der Auer-von-Welsbach-Park. Die Büsche zum Technischen Museum hin. Die nächtlichen Begegnungen. Leopold. Die Männer. Und Phil. Oder diese Toilette auf dem Meiselmarkt, unten im Kellergeschoß. Wo außer sexuell besessenen Männern kaum jemand hinkam. Dieses Ausgenutzt werden. Das Hinhalten und Machenlassen. Das gierige Stöhnen der heimlichen Freier beim Geschlechtsverkehr. Die geweiteten Augen. Das Pochen hinter ihren Schläfen. Und die scharfen Gerüche nach Poppers und Pisse.

Meine Stablampe erfasste einen alten, knorrig und verwittert aussehenden Stamm. Es war eine mächtige Eiche, genau jener Baum, den Philipp erwähnt hatte. Ich senkte den Lichtstrahl zu Boden, und wenige Augenblicke später hatte ich den Gedenkstein gefunden. Ein länglicher, halb in der fetten Erde verankerter Findling aus einer der letzten Eiszeiten. Mit einem Namen in gekrakelter Schreibschrift darauf. Leopold. Ohne jede weitere Bezeichnung. Ohne Geburts- und Sterbedatum. Nur jemand, der die traurigen Umständen kannte, wusste, wer unter diesem Stein ruhte. Die kindliche Schrift verriet, dass es ein sehr junger Mann gewesen sein musste. Noch lange kein Erwachsener. Eher ein Teenager oder gar noch ein Kind.

„DER STICK MUSS DORT SEIN. IN EINEM DURCHSICHTIGEN SACKERL. BEFESTIGT AM BODEN DER…“

Sollte ich ernsthaft die verdammte Urne ausbuddeln? Mit der mitgebrachten Gartenschaufel in der schwarzbraunen Erde wühlen? Wie ein perverser Nachtwandler nach der Asche des jungen Selbstmörders suchen? Ich nahm einen tiefen Schluck Absinth aus dem Flachmann. Der gute alte Pernod. Dieses verfluchte Wermutkraut-Destillat, das mich früher oder später umbringen würde. Ich spuckte in meine schmutzigen Hände und begann mit den Grabungsarbeiten. Nicht gerade wie ein Archäologe, eher wie eine läufige Hündin, die weiße Trüffel im feuchtwarmen Erdreich zu wittern begann. Mein hastiges Schürfen erinnerte mich an meine nächtliche Aktion im Alberner Hafen, nur dass ich diesmal keine rotgestreifte Katze begrub, sondern eine Urne aus dem Totenreich holen wollte.

Nach zehn Minuten begann mir der Schweiß des schlechten Gewissens von der Stirn zu fließen. „DER STICK MUSS DA SEIN“ pochten die in Großbuchstaben gehaltenen Lettern der SMS-Nachricht in meinem Gehirn, „IN EINEM ZELLOPHANSACKERL. AM BODEN DER…“ Ich stieß mit der Gartenschaufel meiner Exfrau auf einen Gegenstand, der aussah wie ein Pokal. Von einer Art Klarsichtfolie umhüllt. Mit einer Gravur versehen, die Vor- und Zunamen des Toten sowie dessen Geburts- und Sterbedaten wiedergab.

Fünf Minuten später hatte ich die Urne aus der Erde geholt, die schützende Klarsichtfolie entfernt und – beinahe den kleinen Gegenstand übersehen, der beim Auswickeln des Aschenkrugs zu Boden gefallen war. Ein rechteckiges, im Lichtstrahl der Bauleuchte silbern schimmerndes Ding. Zur Hälfte von einer schwarzen Abdeckung umgeben. Der Stick, von dem Phil in seinen SMS gesprochen hatte. Ein USB-Stick mit irgendwelchen Dateien darauf. Mit jenen Geheimnissen, die man Poldi mit ins Grab gegeben hatte. „Man“ war diese Familie. Der Vater. Seine Mutter. Der ältere Bruder. Die größere Schwester. Und vielleicht auch noch Leopolds bester Freund. Phil. Philipp Kartak. Mein Sohn. Der begnadete Leistungsschwimmer, der bereits zehn Landesjugendrekorde aufgestellt hatte. Der stille Vorzugsschüler mit dem bescheidenen Lächeln. Aber auch der Teenager, der ein Doppelleben geführt hatte. Der immer wieder auf seinem Rad für ein paar Stunden nach irgendwohin verschwunden war. Für ein erfundenes Ausdauer-Training. Eine fiktive Kraftsporteinheit. Eine daher gelogene Kinovorstellung. Stattdessen musste Phil mit dem Rad in den Auer-von-Welsbach-Park oder zu dieser Shopping Mall im Meiselmarkt gefahren sein. Oder in den ersten Bezirk, zur luxuriösen Penthouse-Wohnung der Familie seines besten Freundes. Überall dorthin, wo ihn Menschen erwarteten, die hinter ihrer biederen Fassade Werwölfe waren. Weil sie einen Pakt eingegangen waren. Mit ihrem eigenen dunklen Begehren. Einem Pakt, dem sie nicht mehr entkommen würden – solange sie lebten.

Ich kniete mich ächzend nieder, griff nach dem USB-Stick und steckte ihn ins Münzfach meiner Brieftasche. In der Sakkotasche vibrierte die nächste Nachricht des untergetauchten Sohnes. Sie bestand aus einem Wort in Großbuchstaben und fünf Fragezeichen: „UND?????“ Seine jugendliche Aufgeregtheit. Eine vage Sehnsucht nach Nähe und die Angst, sein großes Geheimnis verraten zu haben.

„Gefunden“ schrieb ich zurück und schraubte den Deckel der Urne auf, warf einen Blick auf die schwarzgraue Asche, die wie alle anderen Aschen aussah: ein trauriger Haufen Restmüll, der nichts von dem Menschen verriet, dessen Fleisch für dieses Häufchen Vergänglichkeit verantwortlich war. Ich warf ein paar letzte Blicke auf Poldis Asche. Dachte an das Foto eines hübschen Jungen mit den lockigen dunkelbraunen Haaren, diesen pausbäckigen Wangen, den großen, beinahe schwarz wirkenden Pupillen und seinen weichen, großzügigen Mund. Ein paar letzte Bilder, die nichts mit dem Inhalt der Urne zu tun hatten – und doch ebenso ALLES. Ich verschraubte das Gefäß und begrub den Totenpokal ein zweites Mal in der Erde. Den Stick klimperte dabei mit den Münzen in meiner Brieftasche um die Wette.

Nach einer Viertelstunde sah die Gedenkstätte aus wie zuvor. Man musste schon angestrengt hinsehen, um zu bemerken, was sich hier abgespielt hatte. Dass jemand wie ich gekommen war. Mit einer ausgeborgten Gartenschaufel in der Erde gewühlt und nach der Urne gesucht hatte. Ich legte ein paar ausgedörrte Baumzweige vor den Gedenkstein. Wie fossile Blumen oder so ähnlich. Ich hatte dem Toten nichts mitgebracht, im Gegenteil, ich hatte ihm sein letztes Geheimnis entrissen. Was immer auf diesem Stick enthalten war, konnte vielleicht die Frage beantworten, warum sich der Junge vor einem halben Jahr von der Reling des Ringturm-Hochhauses im achtzehnten Stockwerk in die Tiefe gestürzt hatte. In einem Zeitungsausschnitt war von einem gellenden Schrei die Rede gewesen. Der Nachtportier des benachbarten Versicherungsgebäudes hatte dieses langgezogene Brüllen wahrgenommen und davon einem Reporter der ‚Kronenzeitung‘ erzählt.

Ich kraxelte über die Einfriedigung in mein gewohntes Leben als Privatdetektiv zurück, stieg in den klapprigen Toyota auf einem winzigen Parkplatz des Erinnerungshains und atmete schwer gegen die Windschutzscheibe des rostigen Wagens. Dann holte ich mein Handy heraus und schrieb eine letzte Nachricht an meinen verschwundenen Sohn, eine Nachricht, die aus einem Smiley und das Emoji für ein Buch stand. Für das Buch mit den sieben Siegeln. Für jenen Datenträger, den ich gerade aus dem Totenreich geholt hatte.

*

Audioaufzeichnungen, kurze Videoclips, Fotos aus der Dachgeschosswohnung und Körper, Körper, Körper. Überall Körper. Haltloses Stöhnen. Unterdrückte Schreie. Das Mitmachen und Hinhalten. Und das alles über Jahre hinweg. Zu Beginn war der ältere Sohn kaum ein Teenager gewesen. Ein Kind noch. Später kamen seine beiden Geschwister dazu. Kathy und Leopold. Und das alles spielte sich nicht etwa in einem Elendsquartier, sondern inmitten von hellen Räumen, auf luxuriösen Sofas, in riesigen Betten vor noch größeren Spiegeln und unter seidenen Baldachinen ab. Sie hatten es alle miteinander gemacht. Die Eltern. Ihre Kinder. Und noch andere Leute. Alte und junge. In jenem Penthouse, das erst gestern an eine belgische Industriellenfamilie verkauft worden war. Ich machte mir nicht die Mühe alles anzuhören und zu begaffen – die eine oder andere Datei, ein paar Clips und zwei Dutzend wahllos angeklickte Fotos reichten völlig aus, um mich schlimmer als miserabel zu fühlen. Meine Hände zitterten. Der Schweiß stand auf der Stirne Spalier. Die Augen tränten nach all dem dreckigen Scheiß, den sie angeglotzt hatten. Ich fühlte mich elend, wütend, ohnmächtig – und irgendwann kam dieses kalte Gefühl hoch, das Gegenteil von Zuneigung: eiskalter, tödlicher Hass.

Einige Minuten später hatte ich mich wieder erfangen, nippte an meinem Absinth und inhalierte das nächste Räucherstäbchen. Meine Wohnung kam mir trotzdem noch etwas schäbiger, trauriger, schmutziger vor. Ein Loch war es schon immer gewesen, auch wenn es sich hinter Gründerzeitmauern in einer pittoresken Gasse im ersten Bezirk verbarg. Über einer ehemaligen Schneiderei, der englischsprachigen Buchhandlung nebenan und dem hippen Friseur zwei Hausnummern weiter, wo einmal Waschen, Legen und Schneiden zweihundert Euro kostete. Der gediegene Luxus der besseren Leute. Gegenüber gab es eine Mixology-Bar, die raffinierte Cocktails zu gehobenen Preisen anbot. Ich ging zu einem der beiden hohen Fenster hinüber, vor denen dicke Samtvorhänge mit vielen Brandlöchern hingen, durch die tagsüber ein paar Lichtstrahlen einfielen. Diese wenigen Sonnentupfer genügten, um mich einigermaßen lebendig zu fühlen. Jetzt war alles in ein Halbdunkel gehüllt, das die Wirklichkeit wie eine obskure Fiktion erscheinen ließ. Ich hatte etwas gesehen, was niemand hätte sehen dürfen. Ich hatte als Zeuge einen virtuellen Tatort betreten. Den Tatort gefilmter Verbrechen.

Mit dem Zigarillo im Mundwinkel zog ich die Vorhänge beiseite und warf ein paar Blicke zur Gasse hinaus. Es war Abend, aber nicht allzu spät, nicht einmal elf. Vor der Bar vis-à-vis standen Leute in engen Anzügen oder weiten Cocktailkleidern und nippten an ihren Cocktails. Einen ‚Old Fashioned‘. Einen ‚Last Word‘. Einen ‚Dirty Martini‘. Schweigend rauchte ich hinter der schmutzigen Fensterscheibe und betrachtete die gut angezogenen, glücklich wirkenden Leute. Vielleicht waren letztes Jahr die abgängigen Eltern auch öfter vor dem Eingang dieser Cocktailbar gestanden, hatten an ihren Drinks genippt und sich diskret amüsiert – genauso wie jetzt die fünf oder sechs Leute auf der anderen Seite der Sterngasse. Alle schienen sie kaum Probleme zu haben. Lächelten permanent mit ihren Drinks in der rechten Hand. Plauderten über Gott und die Welt. Hatten kaum Geheimnisse voreinander. An der Oberfläche ihres Smalltalks zumindest.

Hinter der strahlenden Fassade aus beruflichen Erfolgen klaffte eine ganze andere, dunkle Wahrheit, ein kollektiver Familienabgrund, auf den das soeben Gesehene verwies. An meinen Schläfen begann es deutlich zu pochen. Diesmal war es nicht der Alkohol. Es waren diese Dateien. Die Clips. Die Audioaufzeichnungen. Die Bilder. Das Stöhnen. Das Rascheln und Machen. Die unterdrückten kindlichen Schreie, die wie tödliche Messerstiche tief ins Herz drangen. Der Missbrauch schien sich über Jahre hinweg ereignet zu haben. Schwer zu sagen, wann es angefangen hatte – ganz sicher bereits in Frankfurt. In einer Jugendstilwohnung mitten im gediegensten Viertel der Stadt. Und oft genug draußen. In einem Park oder einem entlegenen Wald. An einem See voller Windsurfer und Motorboote. Vielleicht sogar diesem See in Kärnten. Dem Wörther See. Am Südufer, nicht weit von der Veldener Bucht entfernt. Eine imposante Villa, irgendwann in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut und schönbrunngelb gestrichen. Englischer Rasen davor. Akkurat geschorene Hecken. Teure Autos, große Champagnerflaschen, Haute-Couture-Kleider. Luxusuhren und Diamantencolliers. Diese Statussymbole übertünchten die andere weggelogene Wahrheit. Das abgeschiedene Grundstück am See war wie das Wiener Penthouse oder ein Frankfurter Jugendstilgebäude Idylle und Hölle zugleich. Ich hätte auf der Stelle loskotzen können – und traute mich kaum noch zu schlucken. Hegte der mysteriöse Bankier insgeheim einen ähnlichen Verdacht? Und hatte er mir genau deswegen solche Unsummen im Voraus überwiesen?

Die Familie, überlegte ich und drückte die Zigarillokippe an der Zimmerwand aus, schien vor lauter Reichtum und beruflichem Erfolg über den jeden Zweifel erhaben gewesen zu sein. Wie ein Ozeandampfer, der als unsinkbar galt. Der so viele Sicherheitsvorkehrungen hatte, doppelt und dreifach gegen Stürme, hohen Wellengang oder Eisberge abgesichert war. Letzten November hatte sich der jüngere Sohn umgebracht. War in einer Regennacht von der Reling des Ringturm-Hochhauses gesprungen. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt. Die Falllinie hatte mehr als 70 Meter betragen. Seine Leiche wurde obduziert und danach der Familie übergeben. Später in einem Wiener Krematorium eingeäschert. Und wieder wenige Wochen danach in diesem Naturfriedhof beigesetzt. Am Fuße einer riesigen Eiche. Ich hatte den Granitstein mit diesem Vornamen gesehen. In der krakligen Schrift eines lebensüberdrüssigen Jungen.

Eine Word-Datei enthielt sogar Poldis Aufsatz, den sein Deutschlehrer Drimmel erwähnt hatte. Es war tatsächlich ein schöner Text über den besten und einzigen Freund, voller Hingabe und Leidenschaft und einer beinahe noch kindlichen Poesie. Leopold hatte meinen Sohn Phillip geliebt. Hatte ihn begehrt. Hatte Sex mit ihm gehabt und Phil vielleicht alles erst beibringen müssen. Er hatte meinen Sohn in das Penthouse gegenüber der Wiener Börse eingeladen und ihm seine Familie vorgestellt. Den Vater. Die Mutter. Den älteren Bruder. Zuletzt noch die Schwester. Und dann? War Philipp auch ein Teil dieser inzestuösen Familie geworden? Hatte er wenigstens geahnt, was die anderen miteinander trieben? Hatte er vielleicht deswegen Reißaus genommen und die Freundschaft zu Poldi gekündigt?

Vielleicht hatte das jüngste Kind verzweifelt versucht, über die Beziehung zu meinem Sohn diesem Körpergefängnis zu entfliehen. Dem drückenden familiären Schweigen zu entkommen. Um jemanden zu erreichen. Zu lieben. Zu erobern. Einen anderen Jungen, einen wie Philipp, der in der Schule neben ihn saß. Der coole Leistungsschwimmer, der junge Prinz mit dem scheuen Lächeln, der eifrige Nachwuchssportler und Vorzeigeschüler. Irgendwann begann diese Freundschaft, wurde mit der Zeit schöner, intensiver, leidenschaftlicher, entwickelte sich zu purer Leidenschaft und kippte danach ins Gegenteil um. Wurde Feindseligkeit, vielleicht sogar Hass. Wurde zum Gegenteil von dem, was sich Poldi vorgestellt hatte. Im November hielt er es nicht mehr aus. Drang nachts in das Ringturm-Hochhaus ein, schlich sich die achtzehn Stockwerke empor, machte ganz oben angekommen eine Tür zur Galerie auf, beugte sich über die Reling. Starrte minutenlang in die Tiefe, die ihn anzog und abstieß und wieder anzog – solange, bis der Junge auf die Reling stieg, ein paar Augenblicke noch einen rettenden Ausgang überlegte, dann seufzend die Augen schloss und sich fallen ließ.

Sein Aufprall war der Eisberg, gegen den das unsinkbare Schiff dieser Familie geprallt war, ein Eisberg, der die Schoten des als unsinkbar geltenden Dampfers aufschlitzte und den verdammten Luxuskreuzer der Selbstherrlichkeit in den eisigen Fluten untergehen ließ. Poldis Selbsttötung hatte diese makellose Familie zerstört. Als ob sein weggeworfenes Leben eine Art Rache gewesen wäre. Eine Rache an jenen Leuten, die ihn daran gehindert hatten, jemanden lieben zu können. Weil Missbrauch keinen Liebhaber hervorbringen konnte, sondern nur das nächste sich selbst zerstörende Opfer.

Vielleicht hatte Philipp die Beziehung zumindest am Anfang gar nicht gewollt. Womöglich nur Mitleid mit Poldi gehabt. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht verstand. Nachdem ihm klar geworden war, was alles zwischen den Familienmitgliedern lief, hatte sich Philipp von Leopold distanziert. Ihm die Freundschaft aufgekündigt, um sich umso intensiver dem Schwimmsport zu widmen. Poldi blieb wieder allein. Seiner Familie ausgeliefert, deren Mitglieder älter, mächtiger, durchtriebener waren. Bis aller Widerstand gebrochen und aufgebraucht war. Und Leopold ging. Sein Leben wegwarf in der kleinlauten Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändern würde.

Der Junge sollte Recht behalten. Mit seinem Tod hatte sich etwas geändert, oder nein: alles. Wenige Monate später war die gesamte Familie verschwunden. Hatte überstürzt die Flucht ergriffen. War über Ostern zur Villa am Wörthersee gefahren. Um dort miteinander zu reden, zu streiten und danach weiter zu flüchten? Begannen alle zu begreifen, dass sie in einer ausweglosen Sackgasse steckten, aus der sich keiner von ihnen befreien konnte, weder in einer Woche noch in einem Jahr, wahrscheinlich nie wieder in ihrem dreckig gewordenen Leben?

Ich zog die Vorhänge zu. Ging in die Küche hinüber. Trank ausnahmsweise ein ganzes Glas Wasser. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so etwas Verrücktes gemacht hatte: ein Glas Leitungswasser zu leeren. Vielleicht war dieser alkoholfreie Trunk gar nicht so schlecht. Er schmeckte zwar nach nichts, richtete dafür keinen Schaden an und ließ die Gehirnwindungen ziemlich in Ruhe. Ganz im Gegensatz zum gewohnten Pernod. Mit Eiswürfeln. Und einer Limettenscheibe darin, die genauso grün wie der Alkohol war. Ich mochte die Wirkung des Destillats, ich liebte meine Schweißausbrüche, den hohen Blutdruck und sogar den manchmal beängstigend rasenden Herzschlag. Ich hatte gelernt, in den Abgrund zu starren. Und dieser Abgrund starrte mit seinem Sternanisatem zurück.

Auf dem Küchentisch lagen jene vier Fotos, die mir Küppers bei unserem ersten Treffen überreicht hatte. Die Aufnahmen des Vaters, der Mutter und der beiden älteren Geschwister. Die vier Teilansichten eines kompakten Ganzen. Einer Entität. Des unsinkbaren Dampfers. Der trotzdem gegen einen riesigen Eisberg gekracht war. Nach jahrelangen waghalsigen Ausweichmanövern. Dieses unsinkbare Familienschiff war möglicherweise inzwischen gesunken. Und auf meinem Handy neben den Fotos leuchtete eine Nachricht auf, in hysterischen Großbuchstaben und nervös gesetzten Satzzeichen.

„HAST DU DIE DATEIEN AUF DEM STICK GEÖFFNET??? AHNST DU JETZT, WAS PASSIERT IST??!!“

Die nächste Botschaft meines ebenfalls untergetauchten Sohnes. Der sich wer weiß wo befand, der weit nach Mitternacht seine Botschaften schrieb und vielleicht selbst nicht mehr ein noch aus wusste.

„DU MUSST DICH AUFMACHEN, PAPA. DU BIST DETEKTIV, DU MUSST ALLES HERAUSFINDEN. ALLES. FAHR NACH HESSEN. FAHR NACH KÄRNTEN. FAHR DORTHIN, WO DU HINFAHREN MUSST. ES STEHT ALLES IN DEN DATEIEN. ALLES. DIE GESAMTE WAHRHEIT. DER GANZE LEIDENSWEG. UNSER GANZES FURCHTBARES LEBEN.“

*

Die Dateien auf dem Stick offenbarten nicht nur körperliche Gewalt, sexuelle Ausschweifungen und andere Irrwege. Manchmal waren auch berührende Szenen dabei. Aufnahmen von einem Weihnachtsfest beispielsweise, das vor Jahren stattgefunden haben musste. In einer Jugendstilvilla mit viel Stuck an der Decke, wahrscheinlich noch im Frankfurter Stadtteil Grüneburg aufgenommen. Wo solvente Bankiers ihre Häuser hatten, dazu Juristen und Ärzte oder aufstrebende Immobilienentwickler wie Sebastian Schwartz. Die drei Kinder – und damals waren sie alle noch Kinder gewesen – beherrschten klassische Instrumente: der älteste Sohn Violine, der jüngste Klavier, und Kathy Querflöte. Die drei spielten – äußerst adrett herausgeputzt wie hochpreisige Porzellanpuppen – eine Sonate von Chopin oder Schubert, vielleicht war es auch Haydn, Bach oder Mozart – ich konnte das nicht so genau unterscheiden. Ich hatte weder das Gefühl noch das Gehör oder die Hingabe dafür – für mich war alles nur klassische Musik. Lieblich, irgendwie. Nein, lieblich war das falsche Wort. Feierlich. Sagen wir, dass es feierlich war: die angespannten Mienen der jungen Musiker. Die glänzenden Augen der Eltern. In einem silbernen Champagnerkühler eine Flasche ‚Belle Epoque‘ und daneben zwei Bleikristallschalen. Weihnachten in einem bürgerlichen Haushalt in Frankfurt am Main. Im Hintergrund ein mehr als reich geschmückter Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen, alles farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Man hätte darüber einen Film drehen und im ersten Fernsehprogramm zur besten Sendezeit ausstrahlen können. Diesen Film gab es sogar. Jemand hatte die Szenen mit einer hervorragenden Kamera aufgenommen. Ein Bediensteter. Vielleicht eine Art Butler. Oder auch nur der Hausmeister. Jemand wie Küppers vielleicht.

Nach ein paar Minuten war das Konzert vorbei. Alle Familienmitglieder umarmten einander, wünschten sich „Frohe Weihnachten“ – dann folgte ein harter Schnitt, und die nächste Szene spielte sich in einem Schlafzimmer ab. Halbdunkel. Bläuliches Licht. Eine riesige Hand, die über das dichte Haar eines Elfjährigen fuhr. Heftiges Flüstern, hin gestammelte Wortfetzen, die ich kaum verstand. Ein Vater, der seinen Sohn begehrte. Der genau in jenem Alter war, als er selbst missbraucht worden war. Ein Kreislauf, der sich wiederholte, ein grauenvoller Tanz, der von neuem begann, das nächste Kapitel in einem Horrorroman, der nicht aufhören wollte. Die großen Augen des Sohnes. Zuerst glänzend noch. Dann erschrocken. Und nach dem Missbrauch gebrochen und flach. Das helle Leuchten war aus den Kinderaugen verschwunden, und der kleine Körper lag da wie zerstört. Und er war es irgendwie auch. Würde nie wieder ganz werden, und diese perfekte Existenz sein, die vorhin die Sonate gespielt hatte, an der Violine, mit den langen, dünnen Fingern, dem hingebungsvollem Ausdruck in den Augen, dem leichten Wiegen des Körpers. Diese kindliche Anmut war zerstört und würde niemals zurückkehren. Nicht in einer Woche, nicht in einem Jahr, nicht in fünfzig Jahren – nie mehr. Dieses Leben war vor meinen Augen erloschen. Erst jetzt erfasste ich die Dimensionen des Missbrauchs, der einen Menschen töten konnte, ihn aber als höchstmögliche Strafe weiterleben ließ. Um später vielleicht selbst noch schrecklichere Dinge zu begehen. An anderen wehrlosen Menschen. Ein endloser Teufelskreis Richtung Nachtmeer – zu den Raubfischen, zu einem aussichtslosen Kampf, zu totaler Auslöschung hinunter.

Ich rauchte, trank Absinth und war hin und her gerissen zwischen den abgerufenen Videoclips und den Erinnerungssplittern an meinen Sohn. Der auch so ein wunderbares Lächeln hatte. Einen so gefühlvollen Blick. Und manchmal dieses Strahlen in den graublauen Augen. Genau wie der elfjährige geigenspielende Junge vor dem Christbaum. Bevor der Schatten über ihn gekommen war. Der Schatten des Vaters. Die Hände des Missbrauchs. Das Flüstern des dunklen Begehrens. Die Bettlaken raschelten, als ob Ratten durchs Schlafzimmer strichen. Kurz bevor zwei Opfer in ihren Betten lagen: der vor langer Zeit missbrauchte Täter – und sein älterer Sohn.

Ich warf einen Blick auf die letzte Nachricht meines Sohnes, alles in schreienden Großbuchstaben gehalten: „PAPA, DU MUSST ALLES HERAUSFINDEN. ALLES. FAHR NACH HESSEN. FAHR NACH KÄRNTEN. FAHR DORTHIN, WO DU HINFAHREN MUSST.“

Der Bankier am anderen Ende der Leitung war verstummt. Ich hatte gar nicht richtig mitbekommen, dass wir miteinander telefonierten. Es war zwei Uhr nachts, und meine Gedanken spielten verrückt. Der Absinth in meinem Kopf tat seine Wirkung. Das letzte Zigarillo war im Aschenbecher verglüht. Und dem unbekannten Gesprächspartner hatte es die Sprache verschlagen. Was hatte ich ihm alles erzählt? Was verschwiegen? Welche Details ausgelassen, heruntergespielt oder mit euphorischem Gestammel umschrieben? Was immer ich gesagt hatte, reichte aus, um alle Einwände des Bankiers in einem leisen Röcheln untergehen zu lassen. Ein paar Takte lang hatte ich Angst, der Alte könnte sich an die Brust fassen, in sich zusammensacken und den letzten Ausgang hinaus in die Ewigkeit nehmen. Nach endlosen Minuten der Ungewissheit hatte sich der robuste Anlagenexperte wieder erfangen und antwortete mit gespielt fester Stimme:

„Na schön. Wie Sie meinen, Herr Hartmann. Kommen Sie nach Frankfurt. Kein Problem. Sie werden in ein paar Stunden ein elektronisches Flugticket sowie den Zugangscode zu einem Schließfach am Terminal 2 erhalten, wo sie Zündschlüssel, Tankkarte und Zulassungsschein zu einem schönen Wagen finden werden, dann sind Sie mobil und können überall hinfahren. Sie müssen den Wagen auch nicht mehr zurückgeben, behalten sie ihn ruhig. Ihr alter Toyota spottet sowieso jeder Beschreibung. Ich bitte Sie nur: finden Sie heraus, was Sie herausfinden müssen. Ich bezahle Sie dafür. Und ich bezahle sehr gut.“

Ich starrte mein verdammtes Handy in der schweißnassen Hand an. Strich mir eine graue Locke aus dem Gesicht. Kniff die Augen zusammen. Der Bankier hatte eine so jugendliche Stimme. Viel zu forsch für einen siebzigjährigen Mann. Sie klang weder verbraucht noch heiser noch sonst auf irgendeine Art von Alter, Schicksalsschlägen und anderer Unbill gezeichnet. Ein Bankier seines Kalibers hatte wahrscheinlich nur wenig Probleme. Unter Umständen keine. Vor allem besaß er so viel Kohle, dass er mir binnen Stunden einen neuen Wagen nachwerfen konnte. Woher wusste er eigetnlich, dass mein klappriger Toyota kaum fahrtüchtig war? Der alte Gauner musste über gute Informanten verfügen. Die halbe Welt lag ihm wahrscheinlich zu Füßen. Tanzte nach seiner verdammten Pfeife und hielt die Hand auf dafür. Ich selbst tat es anderen gleich. Bekam die Zuwendungen in regelmäßigen Abständen und verpflichtete mich dafür, die Wahrheit aus ihren dunklen Verliesen zu locken. Als Gegenleistung für die Bankierskohle, die auf meinem Girokonto zu wuchern begann wie die berühmten Blumen des Bösen.

*

Der Frankfurter Flughafen schien größer zu sein als so manche europäische Metropole. Eine unglaubliche Anhäufung von Abfertigungsgebäuden, Parkhäusern und Cargo-Sammelstellen, dazwischen Rollbahnen, Grasflächen und Betonpisten, soweit mein müder Blick aus dem kleinen Bullauge reichte. Wie ein kleines Kind, das sich zum ersten Mal in einem Flugzeug befand, hatte ich meine Nase an der Acrylscheibe plattgedrückt und die Wolkenformationen, das himmlische Tiefblau und die langsam unter uns auftauchende hessische Landschaft betrachtet. Mich dabei angenehm verloren gefühlt. Zwischen allen Verpflichtungen sitzend. In einer Vorläufigkeit gefangen, die spätestens am Gepäckband verpuffte. Ich war beruflich in Frankfurt. Sollte mich im ‚Grüneburg-Viertel‘ und auf diesem Kloster Eberbach umsehen. Nachforschungen anstellen. Leute befragen. Auf das eine oder andere Geheimnis stoßen. Noch mehr zur Klärung der familiären Abgängigkeit herausfinden. Vielleicht auch noch den einen oder anderen Absinth Sour in einer Hotelbar schlürfen. Ein paar Geschäftsleute in ihren dunkelblauen Alltagsanzügen mustern. Mit dem einen oder anderen ins Gespräch kommen und von der großen weiten Welt schwadronieren – wofür gab es sonst diese verschwiegenen Hotelbars mit fetten Chesterfield-Möbeln hinter den schweren Samtvorhängen des Schweigens.

Nach etwa dreistündiger Suche hatte ich die Wand mit den Schließfächern am Frankfurter Flughafen gefunden. Der Nummerncode 661 war mir mittlerweile so vertraut wie das eigene Geburtsdatum. Der Bankier wusste sicher mehr als er zugeben wollte, vielleicht spielte er auch nur Katz und Maus mit mir, aber solange er mit der Kohle herausrückte, konnte er machen, was er wollte. Er war mein Klient, mehr als das: der mit Abstand großzügigste Kunde, den ich je gehabt hatte.

Im Schließfach lagen neben dem Autoschlüssel noch zwei Tankkarten und ein flaches Lederetui, das den Zulassungsschein zu einem Mercedes der G-Klasse enthielt, so einer Art Jeep. Den Papieren zufolge hatte die Karre weit über 200 PS und war erst seit vorigem Jahr für den Straßenverkehr zugelassen. Ziemlich neu also. In einem Farbton gehalten, der laut Herstellerangaben unterwasserblau war. Der Zulassung zufolge stand der Oberklasseschlitten ausschließlich auf 98 Oktan Super Benzin, bei allen anderen Kraftstoffen würde der hochgetunte Motor mit einem lauten Röcheln verenden. Ich steckte Schlüssel, Zulassungsschein und die beiden Tankkarten in mein Sakko und suchte das Parkhaus P3, in dem der Wagen abgestellt war, eine Unternehmung, die eine weitere Stunde in Anspruch nahm. Draußen war in der Zwischenzeit ein heftiges Gewitter niedergegangen, aber die schwarzen Wolken hatten sich bereits wieder verzogen, die Abendsonne kam hinter der weitergezogenen Front heraus und die regennassen Straßen zwischen den Flughafengebäuden dampften wie sonst nur der Glühwein auf den Christkindlmärkten.

Der Mercedes befand sich brav am angegebenen Stellplatz, ein massives, in der Tat tiefseeblaues Ding, eine Art Geländewagen, aber für jene Angeber aus der Oberliga schick aufgemotzt, die sich damit in den teuren Innenstädten der Weltmetropolen wie durchgeknallte Asphaltcowboys aufführen konnten. Vor einem Sterne-Restaurant machte die Karre sicher was her, die Elektronik schien ausgefeilt zu sein, und die beigefarbenen Ledersitze waren so bequem wie ein Zahnarztstuhl oder ein First-Class-Sitz der Emirates Airlines. Der vornehme Karossen-Besitzer thronte wie auf dem Krönungsstuhl hoch über der Straße und hatte einen hervorragenden Überblick über den verdammten Verkehr der gewöhnlichen Leute. Nach ungefähr zehn Anläufen gelang es mir auch den Motor zu starten, und das Fahrzeug wusste wie ein smarter Geheimagent sofort meinen Namen.

„Guten Tag, Mister Hartmann, ich bin ihr persönlicher Fahrzeugassistent und möchte Ihnen gerne vor, während und nach der Fahrt Anweisungen geben. Verlassen Sie sich auf mich und genießen Sie unseren einzigartigen Mercedes-Komfort.“

Es war wie in einem Werbefilm, den sich Franz Kafka, Carl Benz und ein portugiesischer Hilfsbuchhalter gemeinsam ausgedacht hatten. Die digitalisierte Stimme, die mich durch und durch kannte (was ich aus den Ermahnungen, in diesem Mercedes weder zu rauchen noch während der Fahrt auch nur die kleinste Menge Absinth zu inhalieren, heraushörte). Irgendein Algorithmus des Mercedes-Konzern war mit Angaben zu meiner Person gefüttert worden, und wenn ich irre gewesen wäre, hätte mich noch vor der ersten Stopptafel ein psychotischer Schub ereilt. Aber so war das eben im 21. Jahrhundert. Die Maschinen wussten besser über einen Bescheid als man es wahrhaben wollte. Auch meine Kunden nahmen immer häufiger digitale Spyware in Anspruch, um ihre intimsten Freunde in Eigenregie gründlich ausspionieren zu können. Und ein analoger Privatdetektiv wie ich wurde, wie es aussah, immer weiter ins berufliche Abseits gedrängt.

Der Fahrzeugassistent namens Heinz geleitete mich aus dem Flughafengelände, dirigierte mich auf die Autobahn, bat mich sogenannten Offenbacher Kreuz die Ausfahrt zu nehmen und Kurs auf die Frankfurter City zu nehmen. Mein Fahrzeug überquerte eine Mainbrücke, fuhr mehr oder weniger ferngesteuert dreimal rechts, zweimal links, und ohne richtig zu wissen, wie mir geschah, landete ich in der Tiefgarage jenes Fünf-Sterne-Hotels, wo der Bankier eine Suite für mich gebucht hatte. Für drei Nächte. Im Voraus bezahlt. So ein deutscher Vermögensverwalter schien ziemlich organisiert zu sein.

An der Rezeption kannten alle bereits meinen Namen und liefen ehrfürchtig zusammen, als ob ich Madonna, George Clooney und Donald Trump in einer Person wäre. Mindestens zehn Augenpaare waren auf mich gerichtet, am längsten starrte mich der achtzehnjährige Lohndiener an, der unterwürfig wie ein antiker Leibeigener meinen Trolley durch fußballfeldlange Korridore aus trittschallgedämmten Teppichböden hinter sich herzog und jede Menge Details aus meinem verdammten Leben wissen wollte, ob ich Familie hatte, und Kinder, oh, einen sechzehnjährigen Sohn, wie hübsch, und der kleine Kofferträger grinste ziemlich schmutzig dazu. Vielleicht dachte er sich gerade ein paar krasse Szenen in seinem hübschen Kopf aus, aber vielleicht war es eher ich, der sich vorstellte, was der gutaussehende Jüngling gerade so dachte. Wahrscheinlich an gar nichts. Oder ans Ende seiner verdammten Schicht. Wenn er gegen Mitternacht die blöde Uniform ablegen und in seine Jeans aus dem Kellerspind schlüpfen konnte, um mit ein paar Freunden um die Häuser zu ziehen, Koks zu inhalieren, Mädels aufzureißen und neun Monate später als Vater wider Willen aufzuwachen, okay, an die letzte Hiobsbotschaft würde er garantiert nicht denken, allenfalls morgen früh, wenn er draufkam, dass er irgendein namenloses Mädchen ohne Kondom gebumst hatte.

Zehn Minuten später stand ich in einer Suite, die ungefähr drei Mal so groß war wie meine Wohnung in der Wiener Sterngasse. Dazu fünf Meter hoch. Man hätte hier locker ein Basketballspiel zwischen den New York Knicks und den Boston Warriors austragen können. Zusammen mit fünfzehn Kameras und dreihundert Zusehern. So riesig waren die Räume. Auf dem Doppelbett waren fünf Handtücher zu einer Art Schwan aufgetürmt und rings um das falsche Stoffvieh hatten emsige Gouvernanten Rosenblätter und güldenes Reisig verstreut. Alles war hier so schön zurecht drapiert, wie in dieser romantischen Komödie aus den frühen neunziger Jahren, in der Richard Gere und Julia Roberts die Hauptrollen spielten. Natürlich war von den beiden absolut nichts zu sehen – sonst hätte meine Suite eher in einem überkandidelten Altersheim als im so bieder wie noblen ‚Frankfurter Hof‘ untergebracht sein müssen. Dafür thronte ein Champagnerkühler mit einer Flasche Absinth, jeder Menge Eiswürfel sowie ein Teller voller Limettenscheiben und Premium-Tonics auf dem tonnenschweren Marmortisch in der Mitte der Suite, und auf dem sogenannten Sekretär unterhalb eines Flatscreens von der Größe eines Caravaggio-Tafelbilds lauerte das persönliche Schreiben des General Managers auf mich: zwanzig handgeschriebene Zeilen süßliches Geschwätz, das mich so wortreich wie nichtssagend willkommen hieß. Dieser akkumulierte Luxus konnte einen genauso fertigmachen wie zehn Amphetamin-Tabletten oder einige Linien MDMA. Ich starrte in einen wandhohen Spiegel und fühlte mich schuldig. Unter all dem Designerglanz war ich ein Loser, der nur von einem geheimnisvollen Bankier vor dem sozialen Absturz in Armut und Bedeutungslosigkeit bewahrt wurde.

Eine Art Butler pochte sanft gegen die Tür und wollte mich mit einem sogenannten ‚Signature-Dish‘ und einer Flasche Riesling bezirzen. Stellte alles auf dem runden Glastisch in der Zimmermitte ab und befüllte einen riesigen Kelch mit dem großen deutschen Gewächs. Irgendeine Lagenreserve, die hunderte Euros kostete. Die vierte Flasche von 146. Gerade, dass man dafür nicht extra einen roten Teppich ausrollen musste. Ich leerte den halben Kelch und ignorierte den Wagyu-Beef-Burger mit Roquefort, Blattgold und weißen Trüffelscheiben. Ein Gericht, wie von einem durchgeknallten Küchenchef in einem Moskauer Nachtklub zur Jahrtausendwende ersonnen. Teure Zutaten, mit viel Bling-Bling angehäuft. Bescheidenere Geister würden den Atem anhalten. Ich dagegen entsorgte den sinnlosen Kalorientanz im nächsten Papierkorb.

So wie es aussah, würde ich nächsten Tage als Prestige-Gefangener meines besten Kunden in dieser verdammten Suite zubringen, die selbstredend im Voraus bezahlt worden war. Ich hätte sogar ein paar Löcher in die Teppichwand schießen oder einen Haufen neben das Klo setzen können – wie irgendein Arschloch aus der Unterhaltungsbranche, das schon bessere Tage erlebt hatte – und niemand hätte darüber auch nur ein Wort verloren oder mit den zurecht drapierten Wimpern gezuckt.

Etwas später stand ich unten in der Lobby und wartete auf mein Taxi. Es war noch nicht spät, knapp nach zwanzig Uhr vielleicht, und Ende Juni war es draußen noch ziemlich hell. Nach dem Unwetter strahlte die Abendsonne vom Himmel herab wie ein ganzes Bündel nuklearer Brennstäbe. In meiner Sakkotasche vibrierte das Handy. Die nächste Nachricht meines verschwundenen Sohnes. Seit ein paar Tagen auf einer Chat-App, in der alle Teilnehmer anonym blieben. Und keine Spuren verfolgt werden konnten. Wo alles erlaubt war. Und es in irgendwelchen geschlossenen Räumen entsprechend zuging. Ich fragte mich, woher mein Sohn das alles kannte. Wer ihm dieses Darkland gezeigt hatte, wo er gerade war, wie es ihm ging. Sobald ich aber hartnäckige Fragen zu stellen begann, brach der fragile Kontakt für ein oder zwei Tage ab. Bevor dann doch wieder die nächste Nachricht in Großbuchstaben eintrudelte.

„PAPA, BIST DU NOCH DRAN AN DER SACHE? WANN FÄHRST DU NACH FRANKFURT? DU BIST SCHON DA?! GUT. DU HAST SICHER DEINEN ABSINTH GETRUNKEN, ALSO NIMM LIEBER EIN TAXI. UND FAHR ZUR ADRESSE, DIE DIR DER BANKIER ANGEGEBEN HAT.“

„Wolfgangstraße 99,“ sagte ich zu dem Taxifahrer mit dem Turban auf dem pechschwarzen Haar. Der Pakistani blickte kaum in den Rückspiegel. Zuckte mit den Schultern, gab die Adresse ins Navi ein und fuhr los. Er wusste wahrscheinlich nicht einmal, in welcher Stadt er sich befand, in welchem Land und in welchem Leben. Alles um ihn herum musste reine Schimäre sein. Eine suggerierte Gegenwart auf dem verlorenen Stern einer noch unbekannten Galaxie, Lichtjahre vom heimatlichen Planeten entfernt. Ich blickte durch das polierte Seitenfenster zur Straße hinaus. Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Einige Dealer an einer Straßenkreuzung. Junge Pärchen und jede Menge Touristen, die auf ihre Handys starrten und Google Maps zum Verbleib irgendwelcher Sehenswürdigkeiten befragten.

Der Weg in die Wolfgangstraße war nicht sehr weit. In nicht einmal zehn Minuten war ich dort. Stieg aus dem Pakistani-Taxi, hinterließ mein Trinkgeld wie eine Notdurft und befand mich in einer breiten Allee, überall alte Bäume vor noch älteren Jugendstilvillen. Mit Balkonen und kleinen Türmchen versehen. Die Fassaden gediegener Bürgerlichkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Eine gedämpfte Thomas-Mann-Atmosphäre. Alles hier war so verdammt gepflegt: die Zäune gestrichen, der Rasen gemäht, die Garagentore poliert. Was noch fehlte, waren einige Tassen Tee und Scones für den späten Besucher, dann wäre alles so perfekt wie in einer Netflix-Serie über das gediegene Leben britischer Tories in Knightbridge.

Ich läutete an der angegebenen Adresse. Küppers würde hier auf mich warten, hatte der Bankier prophezeit, aber niemand rührte sich hinter den zugezogenen Vorhängen. Nachdem ich einige Male energisch gegen die gusseiserne Pforte getreten hatte, summte etwas am Gitter, und die Türe ging tatsächlich einen Spalt auf. Es sah nicht so aus, als wäre ich hier wirklich willkommen. Vielleicht war das Tor auch nur über einen digitalen Befehl aufgemacht worden. Ich trat jedenfalls ein, ging auf den Eingang zu und drückte die goldene Türschnalle herunter. In der Diele war niemand. In der Küche ebenso wenig. Das Wohnzimmer stand leer. Kein Sofa, kein Esstisch, keine Stühle, keine Wandschränke nichts. Nur leere Wände, die bereits einige Sprünge aufwiesen. Der Parkettboden knarrte. Ganz langsam schlich ich die Holztreppe ins obere Stockwerk hinauf. Es war leichtsinnig von mir, meine Glock in der Wiener Sterngasse zurückgelassen zu haben. Andererseits bewaffnet eine Linienmaschine nach Frankfurt zu besteigen versuchen war vermutlich auch nicht ganz ohne.

Oben im ersten Stock herrschte Totenstille. Sämtliche Türen standen offen. Alle Räume waren dunkel, bis auf einen ganz hinten, aus dem etwas Licht drang. Mit angehaltenem Atem tastete ich mich über den knarrenden Korridor. Warf abwechselnd einen Blick nach links, einen nach rechts. Als ob ich einem Tennismatch zwischen blutigen Anfängern beiwohnen müsste. Niemand schien da zu sein, absolut niemand. Ich bewegte mich auf den erleuchteten Raum zu. Irgendetwas in meinem Kopf schien mich davor zu warnen, diesen letzten Salon zu betreten. Ich tat es trotzdem. Und erstarrte. Weil ich Küppers sah. Regungslos. Er hing an einem Seil, und etwas Pisse war aus seiner Stoffhose geronnen. Wer immer Küppers gewesen sein mochte, er war tot. So tot wie man nur sein konnte, wenn man sich Stunden zuvor an einem Schiffstau erhängt hatte.

*

Dem Navi zufolge lag Kloster Eberbach 50 Autominuten von Frankfurt entfernt. Mit dem Mercedes-Geländewagen war ich noch früher dort. Vielleicht hatte ich auf dem Weg dorthin die eine oder andere Radaranlage ausgelöst, aber das war mir ziemlich egal. Die aufgemotzte Karre gehörte einem Bankier, dem die paar Anzeigen wegen Raserei wenig ausmachen würden. Die Landschaft draußen floss wie ein Aquarell an mir vorüber, wie ein halbwegs echter Monet oder Toulouse-Lautrec, ein impressionistisches Fließen, das aus lauter Pinselpunkten bestand – und bei zusammengekniffenen Augen aus angemessener Entfernung doch einen Teich ergab, eine Blumenwiese oder einen Haufen Seerosen im Schilf. Aus dem Bordcomputer flutete eine Symphonie von Hector Berlioz, und ich fühlte mich ziemlich bürgerlich, als wäre ich ein Jurist, ein Arzt oder doch ein Bankmanager auf dem Weg zu einem wichtigen Private-Equity-Kunden – und nicht der verkrachte Privatdetektiv, der ich in Wirklichkeit war. Aber zum Henker – was war die Wirklichkeit schon? Eine Projektion? Eine Wunschvorstellung? Ein Sprachspiel? Was immer sie sein mochte, sie war auf jeden Fall schwer zu durchschauen. Und noch weniger zu begreifen – mindestens seitdem die alten Griechen damit begonnen hatten, der Wirklichkeit auf dem Grund zu gehen. Küppers hatte sich in der ‚Schwartz-Villa‘ im ‚Grüneburg-Viertel‘ erhängt. Die betuchte Familie war bereits seit sieben Wochen abgängig. Und mein Sohn erklärte mir seine zerbrochene Welt in Großbuchstaben und Ausrufezeichen.

Ich stellte den tiefseeblauen SUV mit dem Mercedesstern auf der Kühlerhaube am Parkplatz vor dem Kloster Eberbach ab: zwischen einem Lamborghini und einem Kia, der ungefähr so alt sein musste wie mein von Rostbeulen befallener Toyota in Wien. Bedächtig stieg ich aus und betrachtete die Gegend. Es war ziemlich viel Gegend. Oder auch gar keine. Im Hintergrund war eine riesige Kirche mit allerlei Nebenbauten zu sehen. Markanter Turm mit einer großen und kleinen Zwiebel ganz oben, schindelbedeckte Steildächer, weiß gestrichen mit terracottafarbenen Fenster- und Türrahmen. Das berühmte Kloster, umgeben von einem sehr dichten, dunkel und undurchdringlich wirkenden Wald. Dazwischen auch Wiesen und Weinberge. Die Reben schienen diesen Sommer prächtig zu gedeihen. Mitten unter der Woche hatten sich hier nur wenige Touristen eingefunden, die meisten davon waren offensichtlich längst in Pension. Ältere Menschen, die zum Wandern herkamen, nach ihrer Kleidung, dem festen Schuhwerk und den entschlossenen Mienen zu schließen. Als ob sie zu einer großen Reise aufbrechen wollten. Oder in einen letzten Krieg vor dem ewigen Schlaf zögen.

Ich fragte mich, was ich hier zu suchen hatte. Wahrscheinlich gar nichts. Den Ausführungen des geheimnisvollen Bankiers zufolge war die Familie Schwartz regelmäßig hierhergekommen. Die Kinder zum Reiten. Die Eltern zum Golfen auf dem nahen Rheinblick-Parcours. Und alle miteinander zum gemeinsamen Essen in der Klosterschänke zwischen den Kirchengebäuden und dem angrenzenden Wald. Nach außen hin die glücklichste Familie weit und breit. Manuel hatte schon den strahlenden Glanz in seinen Augen verloren, aber er versuchte noch immer das Kind zu sein, das er längst nicht mehr war. Seine genetische Krankheit war bereits ausgebrochen, die Muskelkrämpfe häuften sich, und Violine zu spielen wurde langsam unmöglich. Das Reiten gefiel dem Jungen, weniger das Springen und Galoppieren, sondern vor allem das Voltigieren, die Dressur. Die kleinen Kunststücke mit den sich im Kreis drehenden Pferden. Anscheinend hatte Manuel zu seinem 12. Geburtstag einen weißen Schimmel bekommen, der mindestens 20.000 Euro wert gewesen war, dazu den Stellplatz auf Kloster Eberbach, Trainer inklusive, und zwar einen sehr guten Trainer, einen Profi, der früher Vizeweltmeister gewesen war. Der Glanz in den Augen würde trotzdem nicht wieder zurückkehren. Das Kind in Manuel war tot. Auseinandergebrochen – als ob sein Innerstes gegen etwas Dunkles, Bedrohliches kollidiert wäre. Gegen den väterlichen Leib, so kalt und glatt wie ein Eisberg.

„DU MUSST ALLES HERAUSFINDEN. ALLES. IN FRANKFURT. IN EBERBACH. IN KÄRNTEN. AM SEE. WO AUCH IMMER.“

Diese Großbuchstaben. Die hervorgestammelten Nachrichten in diesem anonymen Chat. Mein Sohn, der auf der Flucht war. Vor sich selbst. Vor seiner Vergangenheit. Vor Leopold. Dessen Selbstmord eine Lawine aus Ereignissen ausgelöst haben musste. Sogar Küppers hatte sich gerade erst in der Frankfurter Jugendstilvilla erhängt. In der Ecke war ein Stativ gestanden, mit einer Digicam darauf. Was hatte diese Kamera alles erfasst, wer hatte damit welche Szenen gedreht, vor allem die widerwärtigen Szenen von Manuel mit dem Vater, der Mutter, mit der Schwester und dem jüngeren Bruder? Das Stöhnen und Rascheln, das leise Klagen, die brechenden Augen, die kleinlauten Blicke, und das blanke, zynische Grinsen zuletzt. Das gedankenleere Grinsen der Täter. Vielleicht hatte Küppers das alles gefilmt, und möglicherweise hatte er sich auch deswegen das Leben genommen. Vor dieser Kamera, die er noch kurz vor dem Selbstmord aktiviert hatte. In diesem Raum. Wo all das Grauen heimtückischer Alltag geworden war. Vor vielen Jahren bereits.

„Ich habe Sie schon erwartet.“

Die Stimme eines Kloster-Angestellten. Biederes Gesicht. Unauffällige Kleidung. Mit einem Kärtchen am Revers eines ausgebeulten Sakkos. Kein leitender Angestellter, sondern ein Betriebsleiter, der schon seit Jahrzehnten hier beschäftigt war. Küppers habe ihn vor ein paar Tagen angerufen, Sie kennen doch Küppers, diesen langjährigen Bediensteten der Familie Schwartz, immer zur Stelle, wenn man ihn braucht, ein Multitalent, in allen organisatorischen Belangen ein Meister. Ich dachte an das letzte Zimmer im ersten Stock der Jugendstilvilla. An das Seil, an dem Küppers gebaumelt war. Darunter der umgekippte Schemel. Und eine kleine Pisslache. Im Augenblick des Erdrosselns machten sich die Selbstmörder die Hosen voll. Verdrehten die Augen. Stöhnten noch einmal auf. Drehten sich ein paar Mal um die eigene Achse im Kreis. Bevor die Stille einkehrte. Diese brutale, endgültige Stille.

„Wussten Sie, dass dieses Kloster vor Jahrzehnten eine Nervenheilanstalt war?“, fragte der Angestellte des Staatsweinbetriebes, ein gewisser Müller. Ich starrte in die Richtung des ausgestreckten Armes und erkannte den Eingang eines Hotels. Davor einen Parkplatz mit Autos der Luxusklasse. Ein livrierter Portier – mindestens zwei Meter groß, kräftig, mit einem Kampfsportgesicht – musterte uns feindselig. Für diesen vernarbten Hochwohlgeboren vor dem Eingang waren wir sicher weniger wert als ein angeschossener Lehrling. Irgendwo bellte ein Hund. Und wieherten Pferde, die in irgendwelchen Stellboxen vor sich hindämmerten.

„Der Weiße Schimmel ist immer noch da,“ lächelte Müller und öffnete die Holztüre zu den Stallungen hinein. Der Trakt mit den untergestellten Warmblütern lag etwas abseits des Hotels, vielleicht fünfzig oder achtzig Meter von den Zimmern entfernt. Leichter Stallgeruch umhüllte uns wie ein missratenes Parfüm. In der Box Nummer Sieben stand der weiße Hengst. Das Pferd war mittlerweile 15 Jahre alt und hörte auf den Namen „Prinz von Hessen“. Wie ein anderes, nur wenige Kilometer entferntes Weingut. Aber wahrscheinlich war damit der ältere Sohn der Familie gemeint. Der damals halbwüchsige Junge. Manuel. Der die Pferde liebte. Das Voltigieren mochte. Sich in einer Koppel am wohlsten fühlte. Und jeder Frage auswich, die sich nach seinem Wohlergehen erkundigte.

„Der Junge hatte etwas auf dem Herzen gehabt und wollte damit nicht herausrücken. Er war ein Buch mit sieben Siegeln. Schweigsam und schwer zu erreichen. Außer man begann ein Gespräch über Pferde. Dann schrak er hoch aus seiner Versunkenheit und strahlte einen an, dass man ihn eigentlich nur noch in den Arm nehmen wollte. Um ihm ein wenig vom Schmerz zu nehmen, der ihm widerfahren sein musste.“

„Und Sie haben keine Ahnung, woher dieser Schmerz kam? Wer oder was ihn verursacht hat? Wieso der Junge nicht darüber reden wollte,“ versuchte ich Müller etwas mehr als diese Unverbindlichkeit zu entlocken, mit der er mir gegenübertrat, auch jetzt noch, nachdem wir den Stallbesuch hinter uns gebracht hatten und in der Klosterschänke verschwanden, auf das eine oder andere Glas Weißwein. Einen Riesling vom ‚Gern‘. Vom ‚Marcosbrunn‘. Von der Steinberger Lage. Kloster Eberbach bewirtschaftete 238 Hektar eigene Weingärten. Es war nicht nur riesig, sondern auch eines der ältesten Weingüter Deutschlands. Sogar der Ausdruck „Kabinettwein“ stammte von hier, nach dem klostereigenen ‚Cabinetkeller‘ benannt, wo die teuren Reserven in großen Eichenfässern heranreiften.

„Wer hat Manuel diesen Schimmel gekauft?“, erlaubte ich mir eine der letzten Fragen an Müller, ich spürte schon seinen finalen Händedruck in meiner Hand, gefolgt von ein paar mühsam hervorgestotterten Floskeln.

„Der Großvater des Jungen, er war ein …“
„…Bankier,“ ergänzte ich und stutzte mit einem Mal, „und wieso eigentlich war?“
„Dr. Leopold Schwartz ist seit zehn Jahren tot. Ein paar Monate nach dem Pferdekauf ist er überraschend an einer Gehirnblutung verstorben. Ausgerechnet in Wien. Während einer Dienstreise. Seine Leiche wurde in einem Wiener Luxushotel aufgefunden, es gab sogar Zeitungsberichte darüber, einen davon habe ich noch auf meinem Handy gespeichert.“

Müller zückte sein Smartphone und suchte nach einer bestimmten Datei, öffnete sie schließlich und hielt mir das Display entgegen, wie ein Unterstufenschüler, der die ersten geheimen Pornos mit seinem besten Freund teilen wollte. Meine Blicke kurvten über die alte Zeitungsnotiz hinweg. Dr. Leopold Schwartz aus Frankfurt. Tod durch Gehirnblutung. Bankier der Hessischen Landesbank. Ehrenmitglied der Deutschen Weinbruderschaft. Großmeister eines Freimaurerordens. Inhaber des Deutschen Verdienstkreuzes Dritter Klasse am Blauen Band. Und dutzende andere Auszeichnungen mehr, die mir ungefähr so viel sagten wie die Fußnoten zu einem Beweis der Fermatschen Vermutung.

„Er ist in Wien begraben, auf dem Hietzinger Friedhof,“ murmelte Müller in mein verblüfftes Schweigen hinein. Der Vater des untergetauchten Immobilienentwicklers war tot. Bereits mitten in den 10er Jahren verstorben. Und trotzdem hielt mich der Kerl seit ein paar Wochen auf Trab. Der Großvater jenes Vorzeigestudenten, der als Teenager diesen weißen Schimmel bekommen hatte, aus welchen Gründen auch immer. Ich hörte mich atmen. Schwer. Gepresst. Röchelnd. Es war kein besonders beruhigendes Atmen, eher ein gehetztes Stöhnen, aus der Tiefe des Zwerchfells heraus. Einen Augenblick fürchtete ich, der Boden könnte nachgeben und ich würde den Halt verlieren, vor Müllers entsetzten Augen das Bewusstsein verlieren und mich mit einem brechenden Blick Richtung Himmel in die verdammte Ewigkeit verdrücken. Aber noch war es nicht so weit. Ich erfing mich wieder. Verabschiedete mich von Müller. Saß Minuten später in diesem Mercedes der G-Klasse, den mir wer auch immer zur Verfügung gestellt hatte. Gewiss nicht dieser verdammte Bankier, denn der war laut Müllers Zeitungsartikel schon seit mehr als 10 Jahren tot.

Genau in diesem Augenblick rief er an. Ich hätte fast das verdammte Steuer verrissen. Der G-Mercedes schlingerte gefährlich, aber nach einer Überdosis Sekundenpanik hatte ich die Karre wieder vom Pannenstreifen auf die Überholspur bugsiert. Das Armaturenbrett war vorübergehend eine Orgie in Alarm rot gewesen. Das Wort „Vorsicht“ blinkte in mindestens 10 Sprachen auf, „akute Unfallgefahr“ jammerte der elektronische Fahrzeugassistent und ermahnte Herrn Hartmann, die Regeln der deutschen Straßenverkehrsordnung zu befolgen. Der Bankier mit der jugendlichen Stimme meldete sich. Jetzt wusste ich auch, warum er diese Stimme besaß. Weil der Unbekannte nicht derjenige war, für den er sich ausgab. Ein erster Verdacht drängte sich mir auf – wonach der älteste Enkel in die Fußstapfen seines verblichenen Großvaters gestiegen sein könnte, um mich mit Anzahlungen, Hinweisen und gelegentlichen Fragen zum Stand der Dinge zu terrorisieren. Ich Idiot hatte ihn ständig über meine Ermittlungsergebnisse informiert. Damit er genau Bescheid wusste, wie heiß es gerade für ihn und die anderen war. Falls der Rest der Familie noch unter den Lebenden weilte.

„Haben Sie mir etwas zu sagen?“, fragte mein Auftraggeber, der seit mehr als zehn Jahren den Hietzinger Friedhof bewohnte. Wahrscheinlich in einem Grab, das größer war als zwei soziale Wohnbauten der Gemeinde Wien zusammen.
„Wie fühlt es sich an, seit einer Dekade unter der Erde zu liegen?“, fragte ich gelassen retour und überlegte mir ein Zigarillo anzuzünden, was den bereits entnervten elektronischen Fahrzeugassistenten erst recht in Rage bringen würde.
„Was faseln Sie da?“
„Und wer sind Sie überhaupt?“
„Ihr Auftraggeber, Bankier Dr. Leopold…“
„Kommen Sie mir nicht mit dieser Lachnummer daher, dieser Dr. Schwartz ist seit 10 Jahren tot. Habe ich soeben auf Kloster Eberbach in Erfahrung gebracht. Er hat seinem missbrauchten Enkel einen weißen Schimmel geschenkt. Zu Manuels 12. Geburtstag. Um sich für irgendetwas zu entschuldigen. Um den Glanz in den Augen des Jungen zu retten. Um…“ Ich brach ab, weil auf dem Handy ein Smiley zu sehen war. Der Smiley auf dem Chat-Account meines Sohnes. Philipp war on. Wollte irgendwas sagen. Mir einen weiteren Anhaltspunkt geben. Der Bankier hatte aufgelegt, ziemlich sicher für immer, wenn er schon seit mehr als 10 Jahren mausetot war.

„WO BIST DU PAPA?“
„BEIM OFFENBACHER KREUZ RICHTUNG FRANKFURT.“

Langsam beherrschte auch ich die Kunst in Großbuchstaben zu kommunizieren. Zumindest schwappten meine erregten Schallwellen beeindruckend laut gegen die Windschutzscheibe, und der willfährige Fahrzeugassistent transkribierte den halben Wutausbruch getreulich mit fetten Großbuchstaben ins Gegenwartsdeutsche.

„SCHAU MAL AUF WELCHER STRASSE DU BIST.“

Ich versuchte ein verdammtes Schild in der Dämmerung auszumachen. Es war bereits spät, halb zehn Uhr abends vielleicht. Ich hatte den späten Nachmittag und einen halben Abend in einer weiteren Weinschänke in Eltville verbracht. Paniertes Fleisch mit grüner Soße aus sieben Kräutern gegessen. Einige Kelche Weißwein dazu getrunken und über das Leben im Allgemeinen und diese Familie Schwartz im Besonderen sinniert.

Nach ein paar Minuten hatte ich herausgefunden, auf welcher verdammten Straße ich mich befand. Sie hatte eine Zahl, die mir sehr bekannt vorkam. Die in meinen Ermittlungen eine gewisse Rolle gespielt hatte. Und anscheinend immer noch brandaktuell war.

„DER NÄCHSTE PARKPLATZ HEISST BUCHENRIED. DORT WIRST DU AUSSTEIGEN. UND WARTEN. BIS ES GANZ DUNKEL GEWORDEN IST. DANN WIRST DU SEHEN, WAS SACHE IST. FÜR DIE GEWISSEN LEUTE. FÜR FAMILIEN, DIE KEINE MEHR SIND. DIE AUSEINANDER BRECHEN WIE SCHIFFE, DIE GEGEN EINEN EISBERG GEKRACHT SIND. UND UNTERGEHEN. IN DEN EISKALTEN FLUTEN IHRER BEGIERDE ERTRINKEN.“

*

Es war kurz vor Mitternacht, als die ich erneut die Jugendstilvilla in der Wolfgangstraße betrat und das hohe mit reichlich Stuck und einem übergroßen Lobmeyr-Luster versehene Atrium durchschritt. Die vergilbten Blumentapeten und die vielen Risse im Mauerwerk begleiteten mich wie eine falsch gespielte Sonate. Noch einmal stolperte ich über die breite Holztreppe in den ersten Stock hinauf, dem letzten Zimmer auf der linken Seite entgegen.

Wenig überraschend hing Küppers immer noch da. Die Pisse an seiner Hose war eingetrocknet, und es roch schon etwas muffig im Raum. Die Kamera in der Ecke starrte mich feindselig an. Und ich schaute ebenso feindselig zurück. Ich war auf dem Parkplatz gewesen. In Buchenried. Am Autobahnzubringer mit einer mehr als bekannten alphanumerischen Kombination: Eine Sechs. Noch eine Sechs. Eine Eins. Und das kleine ‚a‘, das manchmal auch eine Eins darstellen konnte. In gewissen Codes, die mir Zugang zu einem rosafarbenen Koffer oder einem mir zugespielten Smartphone verschafft hatten. Und die das verdammte Schließfach am Frankfurter Flughafen öffnen ließen. Vier Zahlen, die mir immer mehr Klarheit verschafften – sogar jetzt, nachdem ich erfahren hatte, dass mein Auftraggeber seit zehn Jahren tot war. Wer hatte mich da eigentlich kontaktiert und sich als Dr. Leopold Schwartz ausgegeben? Ein mittelloser Angeber konnte es auch nicht sein, ich hatte mehr als großzügige Vorauszahlungen erhalten, für Leistungen, die noch kaum erbracht worden waren und sowieso nie in einem angemessenen Verhältnis zu den überwiesenen Summen stehen würden. Ich hatte mich einem Phantom ausgeliefert – ein Phantom, das nur einen Namen tragen konnte: Manuel. Der älteste Sohn dieser Familie Schwartz. Der im Hintergrund die ganze Zeit über die Fäden gezogen hatte und mich womöglich zu strafbaren Handlungen verleitet hatte. Meine Existenz als selbständiger Privatdetektiv stand auf dem Spiel. Ich hatte sämtliche roten Linien von Compliance, Ethik und anderen schrägen Dingen gewerblicher Sorgfaltspflicht überschritten. Mehr denn je war ich verpflichtet, alles aufzuklären. Die Wahrheit ans Tageslicht zu zerren. Wie einen ehemaligen Diktator, der sich nach seinem Sturz in einem Erdloch versteckt hielt und dem Standgericht harrte.

Auf dem Parkplatz Buchenried hatten einige Fahrzeuge geparkt. Mittelklassewägen, in denen meistens Männer mittleren Alters saßen. Zigarettenrauchend. Mit einem Smartphone spielend. Als ob sie auf etwas warten würden. Auf irgendein Signal. Ein verabredetes Zeichen. Plötzlich öffnete jemand die Tür seines Wagens, stieg aus und trat auf eine Art Picknicktisch zu. Aus schwerem, unlackiertem Holz. Von zwei Sitzbänken umstellt. Er winkte jemandem in seinem Fahrzeug zu, und mehrere Personen stiegen aus. Eine Frau. Ein Sohn. Eine Tochter. Noch ein Sohn. Alle vier hatten wenig an. Die Frau einen BH, die Söhne Shorts, die Tochter kurze Pants. Wie auf ein Zeichen begannen sie einander zu küssen. Zu streicheln. Und das letzte bisschen Textil zu entfernen. Aus dem Mund des etwas abseitsstehenden Mannes ertönte ein langgezogener Pfiff. Die Türen der anderen Fahrzeuge wurden aufgestoßen, und dann kamen sie, die Männer der unteren Mittelklasse, übergewichtig, kurzatmig, notgeil. Sie zerrten ihre Genitalien aus den schäbigen Stoffhosen hervor und begaben sich an den Tatort. Sie beteiligten sich. Nahmen sich ihren Teil von der Lust. An diesem Holztisch, im Licht der Autoscheinwerfer. Es war längst Abend geworden, im Westen erlosch das letzte bisschen Orange einer längst untergangenen Sonne. Die Männer knöpften sich die Frau vor. Die Söhne. Die Tochter. Jeder kam dran. Bis wieder ein Pfiff ertönte, diesmal etwas länger, und alle wieder in ihre Fahrzeuge verschwanden. Die Verbrennungsmotoren starteten. Und in ihren Mittelklassewägen den Parkplatz verließen. Nur die Kondome blieben zurück. Lagen wie zertretene Würmer unter dem Holztisch, und aus den darmähnlichen Hüllen tropfte die vergossene D.N.A. biederer Brandstifter ins Freie. Unter glosenden Zigarettenkippen, weggeworfenen Wasserflaschen und einer vergessenen Schachtel mit Potenzpillen.

Ich konnte noch immer kaum fassen, was ich eine knappe Stunde zuvor gesehen hatte. Ich hätte eingreifen sollen, ja müssen. Hätte die Autobahnpolizei alarmieren und diesem verbotenen Treiben ein Ende bereiten können. Was ich gesehen hatte, führte direkt zu einer Familie, die langer Zeit ebenfalls hierhergekommen war. Der Vater verdiente sich gerade die ersten Sporen in der Immobilienbranche, seine Frau war als angehende Ärztin in einem Krankenhaus beschäftigt, der ältere Sohn mochte zehn Jahre alt sein. Die beiden jüngeren Geschwister kamen später hinzu. Oder waren auch nie dabei. Einige Jahre später zog die Familie nach Wien, in eine riesige Luxuswohnung im letzten Geschoss eines großbürgerlichen Hauses nahe der Ringstraße. Eine Familie, die sich früher hier in Buchenried an solchen Treffen beteiligt hatte. Die ebenso Teil dieser bizarren Verabredungen gewesen und nun einfach verschwunden war. Der tote Banker, der mich aus dem Nichts (woher auch sonst?) engagiert hatte, die unregelmäßigen Chatnachrichten meines Sohnes, der aus dem Schwimmtrainingslager getürmt war. All diese Dinge und Sachverhalte gehörten zusammen, durchkreuzten und widersprachen einander, waren Bestandteil gut gehüteter Geheimnisse, die für niemanden da draußen bestimmt waren. In der sogenannten Wirklichkeit, jener Welt, die wir täglich aufs Neue vermaßen.

Ich betrat das letzte Zimmer im oberen Stockwerk der Frankfurter Jugendstilvilla und starrte auf die in der abgestandenen Luft baumelnde Leiche. Warf einen letzten Blick zur Kamera hinüber, die früher vielleicht ebenfalls auf diesem Parkplatz Buchenried platziert worden war, und Handlungen aufgenommen hatte, die vielleicht noch immer in geschlossenen Darknet-Chaträumen zirkulierten. Küppers war jedenfalls tot. Hing schon seit Tagen wie luftgetrockneter Speck in diesem Raum und begann muffig zu riechen. Das Kameraobjektiv zeigte genau auf seine baumelnde Leiche. Als ob Küppers all die Jahre hinter dieser Kamera gestanden wäre, um das aufzunehmen, was sich da draußen auf dem Autobahnparkplatz abgespielt hatte. Oder hier in den gediegenen Räumen der Frankfurter Villa. Oder in der Penthouse im ersten Wiener Bezirk. Ein Lakai, der sich zuletzt selbst gerichtet hatte. Der an seiner Mitschuld zugrunde gegangen war. Und sich vor derselben Kamera erhängt hatte, mit der er diese traurigen Missbrauchsszenen festgehalten hatte.

Ich stellte den Kragen meines Staubmantels hoch und verließ den Tatort. Nachdem ich einige Straßen weitergegangen war, rief ich die Notrufnummer der Polizei an. Es war das Einzige, was ich noch tun konnte. Ich, ein Flaneur und haltloser Passant, der wie ein Dieb durch die Straßen des noblen Viertels strich und von weitem die Sirenen der heranrasenden Einsatzfahrzeuge hörte und das rotierende Blaulicht sah, das sich geradewegs auf diese Villa zubewegte, in der eine Leiche baumelte. Im ersten Stock. Im letzten Zimmer. Ganz hinten. ♦

Teil 3 – Die fernen Geschwister des Schlafes ...
Das Grab von Dr. Leopold Schwartz lag in der Nobelabteilung des Hietzinger Friedhofs, wo Mausoleen von der Größe von Reihenhäusern der drohenden Ewigkeit harrten. Auch die Ruhestätte des Frankfurter Bankiers bestand aus italienischem Marmor, der sich unter meinen Fingerkuppen emsig poliert und gediegen anfühlte. Die Grabesstätte erinnerte an eine Schlosskapelle mit Giebeldach, darunter gab es Platz für drei Flächen: auf der linken Seite stand ein Spruch von Johann Wolfgang von Goethe geschrieben, auf der rechten gar nichts. In der Mitte prangte in güldenen Lettern der Name des Toten: Dr. Leopold Schwartz. Geboren in Frankfurt, 1945 gestorben in Wien 2015. Er war genau siebzig Jahre alt geworden, nicht besonders alt für einen Frankfurter Bankier.

Seine Stimme am Telefon hatte stets hell geklungen, geradezu sportlich, jedenfalls aufgeräumt und verbindlich, wie es sich für einen Golf spielenden Bankier in Topform gehörte. Die Tarnung war perfekt gewesen. Ich war auf seine Stimme, seine zuvorkommende Art mit mir zu kommunizieren hereingefallen wie ein kompletter Idiot – nicht zuletzt der Überweisungen wegen, die nun – so dachte ich – mit einem Schlag aufhören würden. Aber dem war nicht so. In der letzten Nacht hatte sich das Geld auf meinem Girokonto verdoppelt. Ich besaß 160.000 Euro für gar nichts. Von einem längst verstorbenen Bankier überwiesen, der mich beauftragt hatte, nach einer Familie zu suchen, die sich in Nichts aufgelöst hatte. Die sich anscheinend tief in inzestuösen Beziehungen verstrickt hatte und vielleicht daran zugrunde gegangen war – allerdings: bisher gab es nicht den geringsten Hinweis auf ein Verbrechen. Dafür existierten zwei Gräber: die eine Urne mit den verbrannten Überresten des verleugneten dritten Kindes unter einem Gedenkstein mit der Aufschrift „Leopold“ am Kahlenberg und dieses wuchtige Mausoleum hier im Hietzinger Friedhof mit den goldenen Lettern ‚Dr. Leopold Schwartz‘ inklusive Geburts- und Sterbedatum und einem Johann-Wolfgang-von-Goethe-Spruch auf der linken Seite der Gedenkfläche. Dazu die nächtlichen Anrufe des Toten. Und seine Überweisungen aus der Ewigkeit heraus. Nicht einmal in Büchern absoluter Unruhe war mit so einem Mystery-Plot zu rechnen.

Die Sache stank weit höher hinauf als nur bis zum Himmel. Den USB-Stick-Aufzeichnungen zufolge hatte der Vater mit dem Sohn im selben Alter zu verkehren begonnen, in dem der Täter selbst missbraucht worden war. Von einem Reitlehrer auf dem Gestüt in Kloster Eberbach. Ein Missbrauch, der sich mit umgekehrten Vorzeichen wiederholte und sich mit der Teilnahme der Mutter noch potenzierte. Warum hatte Fachärztin für Gynäkologie mitgemacht? Schließlich hatte sie sich als Medizinerin mit der genetischen Krankheit ihres Ältesten auseinanderzusetzen, die einem defekten Gen herrührte, das von beiden Elternteilen an den Jungen weitergegeben und in Manuel – im Gegensatz zu den beiden anderen Kindern – manifest geworden war. Eine permanente Entzündung der Leber. Ein Aufwachsen ohne Zucker und Fett. Dafür ständig Kohlenhydrate. Eine einseitige, karge, wenig kindgerechte Ernährung. Ich dachte an die zweitausend Schaumrollen und Schwarzwälder Kirschtortenstücke, die ich in diesem Alter verdrückt hatte. Manuel dagegen hatte trockene Pasta und zerkochten Reis zu sich nehmen müssen. Und immer nur wenig, dafür ständig. Ein Löffelchen hier, ein Gäbelchen dort. Alle paar Stunden. Der totale Stress für ein Kind. Vielleicht war er deswegen von den anderen Schülern gehänselt worden und musste täglich von den Eltern animiert werden, trotz aller Widrigkeiten weiterhin das Gymnasium zu besuchen und nicht alles hinzuwerfen – selbst dann nicht, als Manuel gezwungen wurde, das geliebte Violinspiel aufgrund ständiger Muskelkrämpfe aufzugeben. Wie oft musste Manuel darüber bittere Tränen vergossen und etwas Schutz bei den Eltern gesucht haben. Die ihn streichelten, trösteten, die ihn küssten und schließlich auch anfassten. Etwas, das aus Liebe und Fürsorge begonnen hatte, musste im Laufe der Jahre zu etwas Bösartigen mutiert sein. Etwas, das nicht ausgesprochen und schon gar nicht nach außen getragen werden durfte. Vielleicht begann der Missbrauch dem Jungen nach einer Zeit des Ekels sogar zu gefallen. So sehr, dass er seine Geschwister mit hineinzuziehen begann. Zuerst Kathy. Dann Leopold. Die beiden mussten damals noch Kinder gewesen sein.

Kinder.

Je länger ich vor dem Mausoleum des toten Großvaters an die gespeicherten Dateien, Videoclips und Audioaufzeichnungen auf dem USB-Stick dachte, der als Grabbeigabe zusammen mit der Urne in die fette Wienerwald-Erde versenkt worden war, desto trauriger wurde ich. Mutloser. Und wütender. Ich verstand nicht, warum eine Familie, deren Elternteile so erfolgreich in ihren Berufen waren, in dieser Orgie aus Manipulation und Missbrauch untergehen konnte. Auch andere Personen waren an diesen Vorgängen beteiligt gewesen, ich hatte Phil auf einigen Bildern gesehen, in der riesigen Wohnung, in einem Bett, halbnackt in die Kamera lächelnd, Seite an Seite mit Leopold, Kathy und anderen Jungen. Dazu einige Mädchen und weitere erwachsene Menschen. Hatte niemand von ihnen den Behörden auch nur den leisesten Wink geben können? War alles so geheim geblieben wie ein gemeinsam geschlossener Pakt mit dem Teufel?

Ende November hatte sich Poldi von diesem Ringturm-Hochhaus in die Tiefe gestürzt. Sein tödliches Fallen musste den Zusammenbruch des Familienlebens ausgelöst haben. Vielleicht hatte es nächtliche Schreiduelle aus Vorhalten, Ausflüchten, hervorgestammelten Entschuldigungen und Lebenslügen gegeben, eine tief empfundene kollektive Familienschuld, die alle vier Überlebenden aneinander kettete – für immer, möglicherweise. Das so geliebte wie missbrauchte Nesthäkchen war tot. Nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Sondern vor Verzweiflung, Scham und Ausweglosigkeit in den Tod gesprungen. Poldis Grab war ein letzter stummer Vorwurf an alle. An den Vater. An die Mutter. An Manuel. An Kathy. Und wahrscheinlich auch an Phil, der vor ein paar Tagen aus dem Schwimmtrainingslager bei Rom geflohen war und von den Polizeibehörden in ganz Europa gesucht wurde. Dessen Konterfei mittlerweile auf italienischen Milchflaschen und in hunderten Lotterieläden prangte. Meine Exfrau hatte mir via WhatsApp ein Schwarzweiß-Foto unseres Sohnes auf dem Rücketikett einer italienischen Milchflasche geschickt, und darunter war folgender Text zu lesen gewesen: „Scomparso: Studente austriaco di 16 anni e mezzo, nuotatore agonistico, ottimo studente, capelli castano scuro di media lunghezza, occhi bruni, alto 180cm, di corporatura esile ma ben allenata. Se qualcuno lo ha visto, chiami la polizia al 911. Grazie.”

Sooft ich an die Schwarz-weiß-Aufnahme meines Sohnes und den Text auf den italienischen Milchflaschen dachte, kamen mir die Tränen. Auch jetzt, während meine Fingerkuppen die goldenen Lettern auf dem protzigen Mausoleum berührten. Als ich sie wenig später wieder betrachtete, stutzte ich: meine Haut hatte die goldene Farbe der eingravierten Buchstaben von Dr. Leopold Schwartz angenommen. Die Schrift war also erst kürzlich angebracht worden. Vielleicht vorgestern oder gestern, womöglich erst heute. Trotz der Hitze war die goldgelbe Farbe noch nicht eingetrocknet. Am Grabmal eines Toten, der vor zehn Jahren verstorben war. Angeblich.

Hals über Kopf stürmte ich in das unscheinbare Verwaltungsgebäude neben dem Friedhofseingang. Ein kleiner, ziemlich verwittert aussehender Mann saß an einem wackligen Holztisch und aß ein Stück Käse mit kleinen Zwiebelstücken, Pflanzenöl und einem Tafelessig, dessen süß-saure Aromen wie die Verwesung selbst durch den winzigen Raum strichen. ‚Handkäs mit Musik‘ hieß dieses hessische Gericht, dazu ein Butterbrot mit jeder Menge Schnittlauch darauf. Die Frankfurter Vorspeise par excellence. Wie sie in der Sachsenhausener Äppler-Stuben-Gegend verabreicht wurde. Seit Jahrhunderten möglicherweise.

„Dr. Leopold Schwartz,“ murmelte der ungefähr siebzigjährige Pensionist, der an gewissen Tagen ehrenhalber den Friedhof beaufsichtigte und für allfällige Fragen des Publikums zur Verfügung stand, „Dr. Schwartz, Leopold, tut mir leid, mein Freund, ich kann diesen Namen leider nicht in den Aufzeichnungen finden, obwohl Sie mir das Foto seines Mausoleums vorgelegt haben, probieren wir es andersherum, mit dem Verzeichnis der Besitzer der Grabstellen, ganz unten an der rechten Ecke der Aufnahme ist die Nummer 6/14 zu sehen, also handelt es sich um 14. Grab in der 6. Reihe im Mausoleum-Bereich, das haben wir gleich, einen Augenblick,“ murmelte der Greis und hielt plötzlich inne: „Eine Luxury-Living-Immobilien-GmbH“ ist hier als Eigentümerin der Grabstätte eingetragen, sie hat das Mausoleum erst Mitte März errichten lassen und den Mietpreis für 100 Jahre im Voraus bezahlt.“
„Obwohl vermutlich niemand unter der verdammten Grabplatte liegt,“ fügte ich missmutig hinzu, „und dennoch dieser Name in die schwarze Marmorwand graviert ist: Dr. Leopold Schwartz. Die Leiche dieses vor zehn Jahren verstorbenen Bankiers ist wahrscheinlich längst anderswo bestatten worden.“
„Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich,“ stimmte mir der Pensionist zu und widmete sich wieder seinem ‚Handkäs mit Musik‘, der mit seinen säuerlichen Aromen jeden Kubikzentimeter des dunklen Verwaltungsraumes ausfüllte, „es ist durchaus nicht unüblich, ein paar Daten im Voraus einzutragen, man lässt einfach das Sterbedatum aus und wartet geduldig auf das unvermeidliche Eintreten des Todes. In diesem Fall scheint es allerdings so zu sein, dass alle Daten feststehen – und trotzdem niemand in diesem Mausoleum liegt. Oder vielleicht doch? Man müsste Nachschau halten, wie bei dieser Katze in der schwarzen Schrödinger-Box. Der Physiker selbst wurde allerdings auf dem Friedhof Alpbach in Tirol begraben. Übrigens, Sie haben da etwas Farbe an den Fingern der rechten Hand.“
„Allerdings. Von der Inschrift, die auf der Marmorfläche des Mausoleums eingraviert war. Die Buchstaben sind erst neulich mit goldener Farbe nachgezogen worden.“
„So etwas wird bei Mausoleen ständig gemacht,“ lächelte der verwittert aussehende Pensionist und widmete sich wieder seinem Frankfurter Tagesteller, zerschnitt den Handkäse, tauchte die Stücke in eine Lake aus Tafelessig, blassem Pflanzenöl und Zwiebelringe ein und begann mich wie ein Beamter im Wiener Magistrat für Migrationsangelegenheiten zu ignorieren. Am liebsten hätte ich ihn nach seinem eigenen Namen gefragt, in der heimlichen Hoffnung, er würde sich als der verschollen geglaubte Bankier erweisen, der sich am Hietzinger Friedhof unerkannt als ehrenamtlicher Grabpfleger verdingte.

Grußlos verschwand ich in einen strahlenden Nachmittag hinaus. Auf dem Friedhofsvorplatz hatte es mindestens vierzig Grad, aber im Inneren des dunkelblauen G4-Mercedes war es angenehm kühl. Die Klimaanlage funktionierte perfekt, und mein elektronischer Fahrzeugassistent namens Heinz erkundigte sich besorgt, ob die eingestellten 22,5 Grad angesichts der brütenden Hitze nachjustiert werden sollten.

Das digitale Wesen kümmerte sich rührend um mich. Wies mich auf meine mangelnden Fahrkünste hin, empfahl mir alle 30 Minuten eine Pause einzulegen und ermahnte mich, während des Fahrens nicht nach der Absinth-Flasche im Handschuhfach zu greifen, es sei denn, ich wollte meinen Führerschein für acht Monate beim Verkehrsamt abgeben und mindestens 3000 Euro Strafe bezahlen. Vielleicht trank ich in den letzten Tagen deshalb weniger vom guten, alten Pernod. Weil ich jetzt diesen neuen digitalen Freund Heinz hatte, der mich auf mein problematisches Trinkverhalten hinwies. Auch wenn er nur eine Maschine war, ein Algorithmus, eine Kunstfigur – genauso unangreifbar wie Dr. Leopold Schwartz, der tot und doch nicht tot war, der sein Mausoleum auf dem Hietzinger Friedhof hatte, in dem höchstwahrscheinlich weder Urne noch Sarg noch sonst etwas aufgebahrt war, und das für 100 Jahre im Voraus bezahlt worden war. In Ewigkeit, amen.

Das Handy vibrierte. Ein paar weitere Nachrichten meines abgängigen Sohnes lagen im anonymen Chat bereit. In den hysterischen Großbuchstaben eines Teenagers, der über Nacht getürmt war. Ohne Geld. Ohne Reisepass. Ohne Rucksack. Nur mit dem Notwendigsten bekleidet: Sneakers, Jeans, T-Shirt, in den Hosentaschen vielleicht etwas Geld, eine angebrochene Kaugummipackung, ein paar Taschentücher. Er musste bei jemandem in Mittelitalien Unterschlupf gefunden haben, nicht allzu weit von Rom entfernt, bei einer Person, die Philipp schon vorher gekannt haben musste.

„ALS DETEKTIV, PAPA, KANNST DU ALLES HERAUSFINDEN. FAHR AN DEN SEE. IN DIESE VILLA AN DER SÜDUFERSTRASSE. DORT GIBT ES DIESES ZIMMER. DAS ZIMMER DER DINGE. UND EINE BOTSCHAFT. VERSTECKT, ABER EINDEUTIG. UND DANACH – FAHR NACH ITALIEN. DORT WERDEN WIR UNS NOCH EINMAL SEHEN. ICH WEISS NUR NOCH NICHT GENAU WO. SALUTONI, PHIL.“

*

Die Villa Schwartz lag in einem Wald über dem Südufer des Wörther Sees, nicht weit vom Dellacher Golfplatz entfernt. Ich fuhr an einem langgezogenen Parkplatz vorbei, der mit Mercedes-Limousinen, seltenen Lamborghinis und einigen BMW-Cabrios vollgestellt war, und bog nach Anweisung meines digitalen Fahrzeugassistenten Heinz in eine schmale, aber immerhin asphaltierte Forststraße ein, fuhr im Schritttempo noch einige hundert Meter durch einen dichten und abweisend wirkenden Wald und hielt schließlich vor einem schwarzen, schmiedeeisernen Tor: der versperrten Einfahrt zur Sommerresidenz der abgängigen Familie Schwartz. Eine schönbrunngelb gestrichene Villa, die hinter dem übermannshohen Zaun liegen musste, an einem abschüssigen Hang Richtung See gelegen, schwer einsehbar und von der Außenwelt abgeschottet, mitten in diesem finsteren Forst aus Nadelbäumen, Farnsträuchern und engen Wanderwegen, die durch das Dickicht führten.

Ich stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Unter den Fichten und Tannenbäumen war es angenehm kühl. Ein paar Vögel zwitscherten irgendwo, und ein dunkelbrauner Marder nahm vor meinen Blicken Reißaus. Etwa zwanzig Meter von mir entfernt führte ein kleiner Pfad tiefer hinein in den Wald. ‚Fußweg nach Velden‘, war auf einem verwitterten Holzschild zu lesen, zusammen mit einer Zeitangabe: 1 ½ Stunden. Wahrscheinlich die ungefähre Wanderzeit für einen lahmen Durchschnittstouristen.

Ich holte meine Absinth Flasche aus dem Handschuhfach und genehmigte mir einen Schluck (Heinz protestierte halbherzig, weil ich zwar den Motor abgewürgt, aber die Zündung nicht ausgeschaltet hatte). Im Radio lief eine Brahms-Symphonie, hier am Wörthersee komponiert, genauso tiefgründig und dunkel wie dieser Wald, der mich wie eine böse Prophezeiung umgab. Ich stellte mir den langbärtigen Komponisten aus dem 19. Jahrhundert vor, wie er in einer Art Kutte um den See gewandert und vielleicht auch an diesem Hügel über dem Südufer vorbeigekommen war, mindestens 100 Jahre vor der Eröffnung des Golfvereins Dellach und der zugehörigen 18-Loch-Anlage. Ab und zu blieb die mönchsartige Gestalt stehen, verharrte ein paar Augenblicke, summte eine Melodie, die ihr gerade eingefallen war, und notierte sich auf einem Stück Papier die entsprechenden Noten. Keine Ahnung, warum ich mir gerade jetzt diese Komponistenszene ausmalte. Ich stand ratlos vor dem geschlossenen schwarzen Tor herum, trank etwas Absinth, rauchte ein Zigarillo und überlegte, wer zum Teufel in dieser Einschicht aufkreuzen würde, um mir den Zugang zu dieser Villa zu verschaffen.

„NUR GEDULD, PAPA. ER KOMMT SICHER UND WIRD AUF EINEM MOUNTAINBIKE UNTERWEGS SEIN. MEHR WEISS ICH AUCH NICHT.“

Die bisher letzte Botschaft meines abgängigen Sohnes. Der unbedingt wollte, dass ich hierherkam, und irgendwie hatte ich den Verdacht, dass es gar nicht er selbst war, der mich hierher dirigiert hatte – sondern irgendwer anders. Vielleicht derselbe durchgeknallte Typ, der sich auch für den toten Bankier ausgegeben und mir die üppigen Vorauszahlungen aufs Konto gebeamt hatte. Soweit ich die Lage überblickte, musste es sich dabei um Manuel Schwartz handeln, der in die Fußstapfen seines toten Großvaters getreten war und mich mit Überweisungen am laufenden Band überhäufte. Ich schmeckte den leichten Menthol-Noten des Sternanis-Destillats hinterher, wie ein entrückter Sommelier, der sich in einen raren Garagenwein aus dem Bordeaux-Gebiet verguckt hatte.

Nachdem die Überweisungen mittlerweile im sechsstelligen Bereich lagen, wurde ich in immer kürzeren Abständen vom Filialleiter meiner Hausbank, einem Regionalmanager und zuletzt auch noch einem Private-Equity-Experten kontaktiert, der mir unbedingt mündelsichere Anleihen aus der Immobilienbranche andrehen wollte. Ziemlich hohe Rendite und mindestens so vertrauenswürdig wie das Beratungsgeschwätz auf der anderen Seite der dubiosen Verbindung. Ein durchschnittlicher Alltagspsychopath, der sich grandios und außergewöhnlich vorkam, und doch nichts anderes war als ein deviantes Stück Scheiße. Mündelsichere Papiere, Immobilienbranche – ich schüttelte verächtlich den Kopf und überlegte, ob ich nicht lieber in jenes Unternehmen investieren sollte, das diesen wunderbaren Pernod seit 1805 unters Volk brachte. Immerhin war ich als regelmäßiger Absinth-Konsument seit Jahrzehnten schon so etwas wie dessen Stakeholder.

Irgendwann erschien der angekündigte Radfahrer doch: ein gemütlich wirkender, schnauzbärtiger Kerl um die Vierzig, leichter Bauchansatz, und doch sportlich. In einem knappen, knallbunten Radlerdress mit hunderten Logos darauf, eine ziemlich gewagte Aufmachung für sein doch schon fortgeschrittenes Alter. Wenn er so daher radelte, drehten sich bestimmt einige Leute auf der Straße nach ihm um, wenn auch eher die Kinder, Narren oder ganz Alten. Die ersteren beiden aus Neugier, und die letzteren vor Angst, von diesem Pseudo-Radrennfahrer auf einem Fußgängerübergang niedergemäht zu werden.

Der Feuersalamander-Schnauz nannte sich Unterweger, schüttelte mir übertrieben lange die schweißnasse Hand und meinte, dass ich dem Wagen und meiner Erscheinung nach Tony sein müsse, Tony mit Üpsilon, wie Unterweger mehrmals in seinem Kärntner Jargon betonte, während er in einer kleinen Umhängetasche zwischen Kondomen, einem Poppers Fläschchen und etwas Gleitcreme nach dem Schlüssel für die Seevilla suchte.

„Tony?“, fragte ich stirnrunzelnd nach, „von welchem Tony sprechen Sie eigentlich?“
„Na, von Ihnen. Sie werden schon wissen warum. Die Beschreibung, die ich erhalten habe, trifft jedenfalls genau auf Sie zu.“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf und fragte mich, was Unterweger so im Schilde führte, während er auf seinem Mountainbike durch die dichten Kärntner Wälder strich: vielleicht gab es hier in der Nähe einen geheimen Sextreffpunkt, wo Geilspechte jeden Alters miteinander verkehrten, ob hetero, bi, gay oder irgendetwas dazwischen. Minuten später hatte Unterweger gefunden, wonach er in seiner Tasche gesucht hatte, und hielt mir grinsend ein weißes Plastikrechteck ohne Aufschrift entgegen: „Das ist die Zutrittskarte zum Familienanwesen Schwartz. Halten Sie die Karte gegen das schwarze Kästchen an der linken weißen Säule und warten Sie 10 Sekunden, dann geht das elektronisch gesteuerte Tor auf und Sie können die letzten paar hundert Meter direkt vor den Hauseingang fahren.“

Ich griff nach dem weißen Kärtchen und fragte Unterweger nach der Herkunft desselben. Er murmelte etwas von einem Nachbarn, der ihm die Karte zugesteckt habe, einen Großbauern auf der anderen Seite des Waldes, der einzige unter den Anrainern hier, der in letzter Zeit noch Kontakt zu dieser Familie gehabt hatte. Dieser Landwirt namens Trattnig habe ihn im Namen von Schwartz junior beauftragt, die verdammte Karte an jemanden auszuhändigen, der sich Tony nannte. Mit „Üpsilon“ wie Unterweger nochmals mit Nachdruck betonte.
„Doch nicht dieser junge Mann…?“, rückte ich mit der naheliegendsten Vermutung heraus.
„Ganz recht, Manuel, der ältere Sohn der Familie Schwartz. Jusstudent. Anfang 20, etwas scheu und dennoch zuvorkommend, manchmal auch etwas zu sehr.“

Der schräge Mountainbiker namens Unterweger grinste anzüglich und dachte todsicher an die Sexutensilien in seiner schwarzen Umhängetasche. Kein Zweifel, dass er nicht nur der Fitness wegen mit dem Rad unterwegs war, sondern sich mit anderen sexsüchtigen Leuten irgendwo in diesem Wald traf, möglicherweise an einer Lichtung hier in der Nähe, wo bei Schönwetter dutzende potenzielle Sexpartner herumstreunen würden. Für einen nachmittäglichen Gang Bang zwischen Vogelgezwitscher und den laut knallenden Golfschlägen auf den kurz geschorenen Rasenflächen hinter dem Waldstück.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand der biedere Vertretertyp auf seinem schicken Mountainbike zwischen Sträuchern und Baumstämmen. Ich warf die geleerte Absinth-Flasche in den Müllcontainer neben der Einfahrt und hielt die weiße Plastikkarte gegen das schwarze Kästchen, das tatsächlich in Augenhöhe angebracht war, wenn man in einem schicken G4-SUV saß und den Arm nach dem digitalen Lesegerät ausstreckte. Heinz protestierte gegen meine Absinth-Fahne, jammerte etwas von erfassten 1,5 Promille und acht Monate langem Führerscheinentzug plus 3000 Euro Verwaltungsstrafe, aber ich fuhr trotzdem durch die geöffnete Einfahrt und lenkte den Geländewagen auf dem schmalen Asphaltband jener schönbrunngelben Villa entgegen, die hinter den Baumstämmen und Farnkräutern in pompösestem Schönbrunner Gelb zu leuchten begann.

Sekunden später stand ich davor. Eine Riesenhütte. Im Stil der sogenannten Wörthersee-Architektur erbaut, aber um gute 100 Jahre zu spät. Ich blickte die Granitstufen hoch. An ihrem oberen Ende lauerte eine schwere Eichenholztüre mit goldener Schnalle. Eingerahmt von teuerstem Marmor. Daneben ein vergoldetes Schild. Mit pechschwarzer Inschrift. „Villa Schwartz. Wenn Sie das hier lesen, sind Sie willkommen.“

Ich hatte die Sommerresidenz der mondänen Familie erreicht. Die auf so deviante Weise ihren Neigungen ausgeliefert war, wie vielleicht auch dieser Provinzradler namens Unterweger. Der möglicherweise gerade deswegen die Besitzer des Anwesens gekannt hatte. Falls es Manuel gewesen war, der ihn über einen Nachbarn gebeten hatte, einem gewissen Tony die Zutrittskarte zur Villa Schwartz auszuhändigen, musste zumindest der ältere Schwartz-Sohn noch leben. Genau wie seine Schwester Kathy. Die Mutter namens Lucrezia. Und Sebastian, Manuels Vater. Wahrscheinlich existierten sie alle glücklich und mit sich selbst im Reinen dahin, genossen in einem Drei-Michelin-Sterner gerade ein fettes 10-Gänge-Menü, tranken teuerste Rotweine dazu und amüsierten sich gemeinsam darüber, wie sie die restliche Welt zum Narren hielten. Bezahlten die gewaltige Zeche in bar und hinterließen nirgendwo im digitalen Raum ihre dreckigen Spuren.

Aber da war noch etwas. Die Nachrichten meines abgängigen Sohnes. Das ständige Vibrieren in meiner Sakkotasche. Philipps Botschaften in Großbuchstaben. Mit vielen Rufzeichen versehen. Ich musste seinen kryptischen Anweisungen Folge leisten, ich konnte nicht anders. Obwohl es vielleicht nicht einmal Phils eigene Angaben waren. Weil er im Auftrag von jemand anderem handelte oder dazu gezwungen wurde? War er etwa dieser Familie in die Arme gelaufen? Hatte er bei Manuel Zuflucht gesucht? Oder wollte er mir mit seinen Hinweisen doch etwas anderes mitteilen?

Ich warf einen Blick auf mein Smartphone. Ein Smiley. Genau in dem Augenblick, als die Eingangstüre aufging. Irgendein Sensor hatte mein Gesicht vermessen und ließ mich eintreten. In ein Halbdunkel, in dem nach und nach die Lichter angingen. Ganz automatisch und wie von Geisterhand ausgelöst, je nachdem wohin ich mich bewegte. Vom Atrium zur riesigen Wohnküche hinüber. Mit fantastischem Ausblick auf den See. Auf der anderen Seite erkannte ich Techelsberg. Ein Stück Autobahn. Und die Ossiacher Tauern. Dahinter Gewitterwolken, die sich über den Nockbergen zusammenbrauten. Hier am See war es noch heiß und sehr schwül. Die hohe Luftfeuchtigkeit drückte schwer auf die Lungen. Ich schwitzte im Stehen. Suchte in der Küche nach dem Kühlschrank, holte eine Mineralwasserflasche aus dem Seitenregal und trank deren Inhalt in einem Zug aus.

„GEH JETZT HINAUF,“ lautete der nächste Hinweis meines Sohnes, aber ich war mir nicht sicher, ob es wirklich Phil war, der diese Botschaften verfasste, vielleicht versteckte sich hinter den Anweisungen nur eine Künstliche Intelligenz, die mit Daten zu meinem Sohn gefüttert worden war und nun seinen aufgeregten Teenager-Stil perfekt imitierte.

„GEH HINAUF IN DEN ERSTEN STOCK. SUCHE DAS ZIMMER. DAS ZIMMER MIT DEM SCHWEREN BALKEN DAVOR. DER DREIFACH GESICHERTEN TÜRE. DU KENNST DEN CODE, MIT DEM DU INS ZIMMER TRETEN KANNST. ERINNERE DICH AN DIE ZIFFERN, DIE DU SCHON MEHRMALS EINGEGEBEN HAST. AN ANDERER STELLE. ES SIND IMMER DIESELBEN ZIFFERN. ZU IMMER DERSELBEN SACHE. HAST DU ERST DAS ZIMMER BETRETEN, BRAUCHE ICH MICH NICHT LÄNGER ZU MELDEN. ABER MACH DIR KEINE SORGEN, PAPA. ES GEHT MIR GUT. PHIL.“

*

Ein hartnäckiges Bauchgefühl riet mir, das geheimnisvolle Zimmer im ersten Stock warten zu lassen. Mich zuvor draußen umzusehen, auf dem riesigen Grundstück, das zu diesem Gebäude gehörte. Ich durchquerte die Wohnküche, in der alle Bilder abgehängt worden waren. An den Wänden konnte man noch die Umrisse der Gemälde erkennen, jene etwas dunkleren Ränder, die von den Rahmen der Bilder zurückgelassen worden waren. Ich öffnete eine riesige Schiebetüre und trat ins Freie, auf die großzügig angelegte Steinterrasse, die sich vor dem Erdgeschoss der Villa erstreckte. Unter einer riesigen Markise standen anthrazitfarbene Gartenmöbel sowie dazu passende Glastische herum. Im Hintergrund war ein Napoleon-Griller zu sehen, so ausladend wie ein Flügelaltar. Lauter Insignien gehobener Freizeitkultur. Sogar eine Bar gab es auf dieser Terrasse, mit Sumpf und Kühlgeräten, einem Blender und zwei ‚Hoshizaki‘-Eiswürfelmaschinen. Hier schien es an nichts zu mangeln – und trotzdem: die Villa stand leer. Die Gemälde waren abgehängt worden. Die meisten Kästen standen ausgeräumt offen. Jemand musste hier Spuren beseitigt haben. Aus welchen Gründen auch immer.

Auf halbem Weg zwischen Villa und Seeufer gab es einen Außenpool, der so groß war, dass darin sogar Leistungsschwimmer ihr Training absolvieren konnten. Ich fragte mich, ob auch Phil in diesem Pool seine Runden gedreht hatte, anschließend mit seinem besten Freund Poldi auf der Terrasse vor der Villa gesessen war und ein paar gegrillte Würstchen oder ein kleines Steak verdrückt hatte, bevor es in den ersten Stock hinaufging, in die einzelnen Zimmer. Nur wenige Kilometer von hier entfernt, gab es in Auen ein Jugend- und Sportgästehaus, wohin ich meinen Sohn mehrmals im Sommer gebracht hatte. Als er noch jünger gewesen war, ein ganz reizender Junge, der kaum ein Wort von sich gegeben, sondern mich die ganze Fahrt über einfach nur angestrahlt hatte, mit seinen großen, glänzenden Augen. Einerseits hatte er mich bewundert, und sich Minuten später wieder gefragt, warum sein Dad einen so seltsamen Beruf ausüben musste, warum er nicht einfach Immobilienentwickler oder Arzt oder Rechtsanwalt oder sonst etwas Ehrbares geworden war, sondern in seinem zerknitterten Hemd und dem verbeulten Sakko ein paar doppelte Absinth in einer dieser tristen Autobahnraststätten trank und auf die wenigen Fragen des Sohnes ausweichende Antworten gab.

Wir waren beide seltsam gewesen, Philipp und ich, ich und Philipp. Ein schräges, ungleiches Paar, das nicht zusammenpasste, eine Beziehung, die abseitig aussah und etwas ganz anderes zu sein schien als diese Vater-und-einziger-Sohn-Geschichte, die wir beide trotzdem durchzogen. Phil war alles andere als ein Wunschkind gewesen. Meine Exfrau hatte mir erst kurz vor der Entbindung von der bevorstehenden Geburt erzählt, am Telefon, beiläufig, mit ihrer stets vorwurfsvoll klingenden Stimme. Warum ich mich mit ihr eingelassen hatte, blieb mir ein Rätsel. Ich war nicht in sie verliebt, und sie in mich ebenso wenig. Wenn ich es mir überlegte, war es auch schwer, sich in mich zu verlieben – außer man war ziemlich verrückt. Ein paar Männer versuchten es trotzdem. Sooft ich solche Avancen bemerkte, nahm ich zuverlässig Reißaus. Ging in Ausflüchten unter. Verdrückte mich in das Nichts der Außenwelt. Mein Leben gehörte ausschließlich mir. Und ging sonst keinem was an. Meine Heimat waren Darkrooms und Saunen, die ewiggleichen Gestalten im feuchtwarmen Nebel, die alle nur auf das eine aus waren.

Wenn ich es mir Recht überlegte, lebte ich in einer Parallelwelt ausgelebter Begierden. Ansonsten war ich allein. In meiner verkommenen Wohnung im ersten Bezirk gefangen wie ein nicht registriertes Haustier. Ich lebte von Observationen, von der Dreckwäsche, die meine in Rosenkriegen verstrickten Klienten zu waschen pflegten. Die ihren Eheleuten oder Lebensabschnittspartnern eins auswischen wollten, und die dafür die Dienstleistungen eines konzessionierten Privatdetektivs benötigten. Der ihnen ein paar wasserdichte Beweismittel beschaffte, die später in einem Prozess gegen die beklagte Partei ausgespielt werden konnten. Ich war das Arschloch, das anderen Arschlöchern die arschlöchigsten Gründe lieferte, dritten, vierten oder fünften Parteien die Hölle heiß zu machen. So war es nun einmal auf Erden: der Mensch war des Menschen Wolf. Daran hatte sich seit tausenden von Jahren wenig geändert.

Ich ging in die Knie, griff mit der rechten Hand in den Swimmingpool, das in der Sonne glitzernde Wasser fühlte sich warm an. Auf der Oberfläche schwebten ein paar heruntergefallene Blätter, am linken Rand trieb der Kadaver einer Katze mit abgetrenntem Kopf, und aus dem aufgeschlitzten Bauch baumelten Därme. Kein besonders erquicklicher Anblick. Eher eine Warnung an den eingedrungenen Besucher, so wenig Fragen wie möglich zu stellen. In der Sakkotasche vibrierte das Smartphone. Die seltsamen Botschaften meines Sohnes begannen mich langsam in den Irrsinn zu treiben, aber vielleicht war das genau ihre Absicht.

„GEH NICHT HINAUS INS FREIE, DAD. DIE WAHRHEIT LIEGT ANDERSWO. SIE LIEGT IM ZIMMER OBEN. IN DIESEM ZIMMER. DER. DINGE.“

Genauso geschrieben – mit diesen bestimmt gesetzten Punkten zwischen letzten drei Wörtern. Ich drehte das Smartphone ab. Ging offline. Wollte nicht gestört werden. Nicht jetzt. Während ich einen letzten Blick auf den im Wasser treibenden Katzenkadaver warf, mich danach aufrichtete und dem Bootshaus am Ufer entgegenschritt. Die Holztüre war nur angelehnt, und von drinnen war leichtes Wellenschlagen gegen den Mahagoniholzrumpf eines schnittigen Motorbootes zu hören, das wie selbstverständlich zum Inventar dieser Villa am Wörthersee gehörte. Allerdings hatte jemand das Steuerrad entfernt, die vorderen Sitze demontiert und aus undurchsichtigen Gründen ins Wasser geworfen. Die beigen Ledermöbel trieben noch immer im türkisfarbenen Wasser und waren möglicherweise beschwert worden, damit sie nicht davontreiben konnten. Ein paar Zander schwammen träge um die versenkten Möbelstücke. Der Rumpf des beschädigten Bootes war mit seltsamen Schriftzeichen versehen. Eine krakelige Schrift, die ich schon einmal irgendwo gesehen hatte. Nicht ganz genau in diesem Stil, aber so ähnlich. Abgehakte Buchstaben, die in meiner Erinnerung runder, flüssiger gewesen waren, sonst aber ganz ähnlich aussahen. Die Buchstaben ergaben Wörter, aber Wörter in einer anderen Sprache. Es war Italienisch. ‚I nostri genitori‘ war auf die vordere Holzoberfläche des Bootes geschmiert worden, ‚devono‘ prangte in dicken Lettern auf den verbliebenen Ledersitzen und am hinteren Bootsrand stand das unheimlichste aller Wörter geschrieben, nicht in rot wie alle anderen hingesprayten Buchstaben gehalten, sondern in Schwarz: ‚morire‘. Als ob das italienische Verb für den Namen dieses Bootes stand. Ich stutzte. Überlegte ein paar Augenblicke. Und murmelte die hingekrakelten Wörter hintereinander. Wörter, die plötzlich Sinn ergaben, sogar ziemlich viel Sinn: ‚I nostri genitori devono morire‘.

‚Unsere Eltern müssen sterben‘ stand auf dem devastierten Schnellboot geschrieben. Unsere Eltern? Waren damit der Immobilienentwickler und seine Gynäkologin-Gattin gemeint? Hatten Manuel und Kathy das Boot demontiert und die krakeligen Buchstaben auf das Motorboot gesprayt? In einer Schrift, die mich plötzlich an jene erinnerte, die auf dem Grabstein ihres jüngeren Bruders angebracht worden war, dieses ‚Leopold‘ in demselben krakeligen Schriftzug. Reiner Zufall? Oder eiskalte Berechnung?

Dicke Schweißperlen quollen aus den Poren an meinen Schläfen und strömten in mehreren Bahnen die Wangen hinunter. Vielleicht weinte ich auch nur. Meine Hände zitterten jedenfalls. Mir wurde beinahe schwarz vor den Augen. Ich war nahe dran, den dunkelsten Geheimnissen dieser Familie auf die Schliche zu kommen.

Ich stolperte den Abhang hinauf und erreichte die geräumige Terrasse. Nach dem Bootshaus-Besuch fühlte ich mich bereit, über die Schwelle ins Innere der Villa zu treten und auf der breiten Holztreppe hinauf in den ersten Stock zu schleichen. Diesem Zimmer am Ende des Korridors entgegen, das anscheinend mehrfach verriegelt war. Und eine Offenbarung bereithalten musste. Eine letzte Nachricht an die Außenwelt. Das Vermächtnis der beiden übriggebliebenen Kinder. Von Manuel und Kathy.

Ich war nun bereit für das Zimmer der Dinge.

*

Es war die siebente Türe, ganz hinten im ersten Stock dieser Seevilla. An der rechten Seite war ein schwarzes Kästchen mit einer Zifferntastatur montiert, ähnlich wie bei den Selbsteinlagerungshäusern am Rande der Großstädte. An der Decke des Korridors war ein Rauchmelder angebracht. Oder doch eine Kamera, die jede meine Bewegungen wahrnahm. Ich ahnte, dass ich mir nur einen Versuch leisten konnte – aber ich war nicht nervös, und mein Puls erhöhte sich kaum: ich kannte die geheime Zahlenkombination. Die exakt der Straßennummer zu diesem Autobahn-Zubringer in der Nähe von Frankfurt entsprach, beim Offenbacher Kreuz, wo sich dieser Parkplatz befand, zu dem zahlreiche Pärchen, Swinger und sogar ganze Familien nach Geheimabsprachen in geschlossenen Chatgruppen hinfuhren, um das zu tun, was ihren Begierden und Vorstellungen zufolge getan werden musste.

Auch diese Familie war dort gewesen. Vor Jahren bereits. Mehrere, vielleicht dutzende Male. Ich hatte nicht nur die entsprechenden Audioaufzeichnungen gehört und einige kurze, unscharfe Clips gesehen – ich selbst war am Tatort gewesen und hatte die wartenden Männer in ihren Mitteklassewägen, die einsamen Holzbänke, die vielen gebrauchten Kondome und Papiertaschentücher wahrnehmen müssen. Ein einziger Blick auf die weggeworfenen Utensilien hätte gereicht, um mir vorzustellen, was sich dort abgespielt hatte: eine Akkumulation vielfachen Missbrauchs. Vor dutzenden Neugierigen und Mittätern.

Ich drückte zweimal auf die 6 und zweimal auf die Eins, und hörte ein leises Surren hinter dem fetten Querbalken. Es klickte leise, und die massive Türe ging einen Spalt auf. Ich hielt den Atem an. Drückte leicht gegen die weiß lackierte Holzfläche und trat in das Halbdunkel des Zimmers. Auf der Wand gegenüber flimmerte ein riesiger Flatscreen.

„Guten Tag, Tony, willkommen in der Seevilla Schwartz. Schön, dass Sie hierhergefunden haben und eingetreten sind in das Zimmer der Dinge. Sehen Sie sich um. Machen Sie sich ein Bild. Aber schießen Sie keine. Wir beobachten Sie. Aus sicherer Entfernung heraus. Sie sind allein und stehen doch unter Aufsicht. Aber fühlen Sie sich willkommen. Manuel & Kathy Schwartz.“

Ich versuchte so locker wie möglich zu bleiben. Entspannt zu wirken. So relaxed wie ein Hotelgast, der gerade seine über das Wochenende gemietete Suite betreten hatte und via Flatscreen begrüßt wurde. Vom General Manager. Oder einem blasierten jungen Mann: dem enttarnten Bankier mit der jugendlichen Stimme.

„Manuel“, murmelte ich, und starrte die Bilder an der Wand an. Großformatige Aufnahmen eines jungen, sehr hübschen Mannes. Aber an verdächtigen Orten. In verwilderten Parks. Auf versifften Toiletten. Oder im Halbdunkel Wiener Saunaanlagen. Es schienen Fotografien zu sein, aber es waren keine. Sondern Gemälde, die nach geschossenen Standbildern mit hoher technischer Kompetenz geschaffen worden waren. Aufnahmen von Manuel, auf perfekten Öl-Bildern wiedergegeben, die Kathy gemalt hatte. Ein hinreißend schöner junger Mann mit graublauen Augen, einem sinnlichen Mund, mit dichtem dunkelbraunem Haar und dieser sanften Melancholie auf dem ganzen Gesicht.

Jetzt wusste ich auch, warum mir Manuel sofort bekannt vorgekommen war. Dieser Prinz der Nacht hatte sich den schmutzigen Orten herumgetrieben. In Saunen und Parks, auf öffentlichen Toiletten. Er hatte seine Schwester in Zlatkos billiger Absteige als Nutte von nebenan auftreten lassen. Und den jüngeren Bruder in den Auer-von-Welsbach-Park oder ins Souterrain heruntergekommener Shopping-Malls geschickt. Manuel war immer dabei gewesen war und sich an den sexuellen Eskapaden gelabt. Er war im Zentrum allen Geschehens gestanden, hatte alle manipuliert, hinters Licht geführt und in die Scheiße geritten. Vor allem aber – sich selbst. Auch ich hatte es mit diesem jungen Mann in einem Dampfbad getrieben. Auf den Holzbänken einer Gaysauna. Und ein paar Mal sogar – hier. Ganz in der Nähe im Wald. Wo sich dieser geheime Treffpunkt befunden hatte und sich wahrscheinlich noch immer befand.

Der schnauzbärtige Mountainbiker namens Unterweger hatte Recht gehabt: ich war dieser Tony gewesen, hatte mich unter diesem billigen Pseudonym ein Date ausgemacht, in der Meinung, der Geschlechtsverkehr mit dem jungen Unbekannten im Wald würde anonym und folgenlos bleiben, aber jetzt sah ich mich auf dem Flatscreen wieder. Wie ich diesen jungen Mann fickte, diesen Ausnahmestudenten, diesen definierten Körper, sehnig und haarlos und glatt, der entgegen unserer Abmachung nicht allein zum Treffpunkt gekommen war – sondern in Begleitung zweier anderer junger Männer, die sich unkenntlich gemacht hatten. Der eine hatte eine Welpenmaske und der zweite einen Schweinskopf getragen, beides aus Latex oder Kunstleder. Ich erstarrte, weil ich die beiden maskierten Körper auf dem Flatscreen wiedererkannte.

„Leopold“, murmelte ich leise, und dann, nach mehreren Sekunden, „Philipp“.

Ich erinnerte mich und erinnerte mich nicht. Es war an einem schwülen Nachmittag gewesen. Eine halbe Stunde Sex mitten im Wald, mit vermeintlich erwachsenen Leuten, die Gesichtsmasken getragen und alles mitgemacht hatten: die es auf diesen flimmernden Bildern noch immer genossen. Die aus versenkten Lautsprechern so laut zu stöhnen begannen, dass ich mir die Ohren zuhalten musste und gegen die Ohnmacht, die Scham und die Wut ankämpfte, meinem Verlangen nachgegeben zu haben. Den Anweisungen des Vorzeigestudenten gefolgt zu sein. Und nach Kärnten gefahren war. An den See, in diesen Wald. Hierher. In die Nähe dieser Villa. Ich hatte meinen Sohn von einer Sportwoche abholen wollen, das Jugendsportgästehaus war ganz in der Nähe gewesen, nicht einmal fünf Kilometer entfernt. Es hätte ein anonymer, geiler Ausflug in den nahen Wald werden sollen, und stattdessen wurde es eine Reise ins Herzzerreißende der Dinge: ich hatte mitgemacht, hatte mich an diesem Missbrauch beteiligt und war nun ein Teil davon: nicht mehr der smarte Joe Hartmann, von Beruf Privatdetektiv, mit Agnes liiert und Vater eines Sohnes, nein, ich war dieser Tony gewesen, ein verantwortungsloser Kerl, der sich nur seiner eigenen Lust verpflichtet fühlte und sonst nichts und niemandem mehr.

Unter diesem Pseudonym war ich Manuel vor anderthalb Jahren erstmals begegnet. Auf einer Plattform im Netz. Später in einem Park. In einer Sauna. Dann in diesem oder jenem Lokal. Irgendwann überredete er mich via WhatsApp zu einem Treffen in diesem Wald nahe Velden. An einer Lichtung ganz in der Nähe dieser Villa warteten noch zwei Personen auf mich: hagere Gestalten in Ledermaske und Brustgeschirr gemeinsam mit Manuel, der eine Peitsche in der Hand hielt und grinste. Über das ganze Gesicht grinste. Wir trieben es zu viert. Zwei devote junge Männer, deren Zuhälter und ich. Poldi hatte sich mir hingegeben, und danach Phil. Der mich erkannt haben musste. Und der nichts gesagt hatte. Der es im Gegenteil genossen hatte, von mir durchgenommen zu werden – so laut hatte er unter seiner verdammten Welpenmaske aus Kunstleder gestöhnt. Ein erfahrener passiver Mann, der behauptet hatte, einundzwanzig Jahre alt zu sein, ein halbes Jahr älter als sein bester Freund neben ihm.

Unser geheimes Treffen war im Zeichen der Lüge gestanden: Ich war nicht Tony, und Philipp nicht Marco und Poldi ebenso wenig Milan gewesen. Wir waren hierhergefahren, unter falschen Namen, aber mit unseren Körpern, unserem Begehren, unserer Lust und dem drückenden Schweigen danach. Eine Zigarette rauchend. Und ein halber Blick zurück über die Schulter, wie sich die maskierten Jungen mit ihrem angeblichen Cousin davonschlichen und schließlich hinter Baumstämmen und Sträuchern verschwanden. Jetzt waren die beiden wiedergekehrt. Auf dem Flatscreen. Maskiert. Aber erkennbar. Ganz deutlich erkennbar als Leopold und als Phil. Als beste Freunde, die sich gemeinsam mit Manuel fremden Männern hingegeben hatten, die allesamt unter falschen Namen aufgetaucht waren. In den Parks. In einer Shopping Mall. An dieser Lichtung im Wald.

„Tony“, murmelte ich, und spürte, wie der Boden unter meinen Füßen nachgab, wie etwas in diesem Raum zu vibrieren begann und ein beißender Geruch meine Nasenlöcher, meine Wahrnehmung erreichte, unter der Türschwelle quoll dichter Rauch hervor, der sich in der gesamten Villa auszubreiten schien, und dann hörte ich das Knistern und Flackern unmittelbar vor der Tür zum Zimmer der Dinge, ich sah den Feuerschein durch die Ritzen im Holz, rot und orange und gelb mit blauen, zuckenden Rändern. Jemand musste diesen Brand mittels Fernsteuerung ausgelöst haben, wollte die Seevilla zerstören und gleichzeitig mich vernichten. Meinen Körper verbrennen sehen. Jetzt und hier. In diesem Zimmer der Dinge. Nachdem ich den Auftrag des geheimnisvollen Bankiers erfüllt hatte und den Geheimnissen der untergetauchten Familie auf die Spur gekommen war.

Der Raum hatte keine Fenster. Sondern nur glatte, weißgestrichene Wände voller Portraits eines jungen Mannes, der wahrscheinlich drauf und dran war, seine Familie, seine Herkunft, sein Leben zu zerstören, jenes Leben, das so verheißungsvoll begonnen hatte, das von Luxus und Wohlstand umrahmt gewesen war – und nun genauso in Flammen stand wie diese Villa Schwartz am Südufer des Wörther Sees, an einem der schönsten und teuersten Flecken des Landes.

Ich holte noch einmal Luft, benetzte meine Augen mit dem Schweiß auf den Handflächen, riss die Türe auf und lief schreiend aus dem Zimmer, mitten in das Flammenmeer hinein, in dieses Lodern aus gellendem Feuer. Spürte wie meine Kleidung zu brennen begann, sah die Treppe nach unten so weit von mir entfernt, ich spürte den heißen Atem der Hölle. Gelangte nach endlosen Sekunden doch ins Freie, rannte mit brennender Kleidung dem Pool vor der Villa entgegen, wagte den Sprung in das lauwarme Wasser, ein scharfer, stechender Schmerz – aber ich war gerettet. Wenn auch gezeichnet. Sah auf die Brandwunden an den Armen und Beinen, Wunden, die nicht schlimm zu sein schienen. Wenn ich Glück hatte, würde ich nur etwas Salbe und Verbandszeug benötigen. Kein Krankenhaus. Kein verdammtes Polizeiverhör. Nichts. Ich schwamm ein paar Tempi und betrachtete die in Vollbrand stehende Villa. Meterhohe Flammen loderten aus dem Dachstuhl und brachten die gewaltige Holzkonstruktion nach wenigen Minuten zum Einsturz. Als ich die ersten Folgetonhörner herannahender Feuerwehren hörte, floh ich ans Ufer hinunter, sprang ohne zu überlegen ins türkisblaue Wasser und kraulte keuchend dem Gestade auf der anderen Seite entgegen, erreichte einen einsamen Badeplatz, entledigte mich der zerfetzten Kleidung voller Brandlöcher und ertastete das Smartphone in der löchrig gewordenen Hosentasche. Es war vollgesogen mit Wasser, aber immer noch da. Würde mich mein Sohn zu erreichen versuchen? Würde ich mich nach einem langen, ohnmächtigen Schlaf noch an die Zugangsdaten zu unserem Geheimchat erinnern? Würde mir Philipp verraten, wo sich dieses Anwesen der Familie Schwartz in der Toskana befand? Und würde ich herausfinden können, was dem Vater, der Mutter, dem älteren Sohn und der jüngeren Schwester widerfahren war, nachdem ich alles andere ans Tageslicht gezerrt hatte: den gesamten Schmutz, den Dreck und den schäbigen Abfall aus diesem brennenden Zimmer der Dinge.

Die Schmerzen begannen heftiger zu werden, ich kämpfte gegen die drohende Ohnmacht unter grellem Sonnenlicht an. Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, dachte ich noch kurz an die krakeligen Schriftzüge auf der teuren Motoryacht im Bootshaus auf der anderen Seite des Sees: ‚I nostri genitori devono morire.‘

*

Ich benötigte einige Tage, um wieder auf die Beine zu kommen und die erlittenen Brandverletzungen ausheilen zu lassen. Obwohl sie nicht allzu heftig waren, hatte ich es vorgezogen, mich in eine Privatklinik zu begeben, anstatt mit Hilfe von Zugsalben und noch mehr Absinth den unbezwingbaren Helden zu spielen. In dieser Klinik über dem Wörthersee stellte niemand allzu neugierige Fragen, solange die üppigen Rechnungen brav bezahlt wurden. Die Ärzte respektierten meine Weigerung, gewisse Ermittlungsbehörden einzuschalten, und das Pflegepersonal umhegte mich respektvoll und gelassen wie einen prominenten Patienten. Ab und zu tuschelten sie über meine verrückten Blutwerte, aber ich weigerte mich, in eine andere Klinik überwiesen zu werden.

Im Fernsehen liefen Berichte über die Seevilla, die aus unbekannter Ursache binnen Minuten in Vollbrand geraten war. Aus den Trümmern des bis auf die Grundmauern eingeäscherten Gebäudes hatte man eine verkohlte Leiche gezogenen, die Überreste eines Mannes von mittlerer Statur im mittleren Alter, ein Landstreicher möglicherweise, der sich in der leerstehenden Villa illegal einquartiert hatte, und dem die örtliche Presse mangels feststellbarer Identität einen Aliasnamen verpasst hatte: Tony. Mit ‚-y‘ noch dazu. Ein Vagabund ohne Herkunft und sozialen Hintergrund, vielleicht ein heimlich eingereister Migrant, denn die Staatsgrenze war nur einige Kilometer vom Wörthersee entfernt.

Nachdem bekannt geworden war, dass die niedergebrannte Villa einer wohlhabenden Familie gehörte, die ihrerseits seit Wochen unbekannten Aufenthalts war, wurden die von Journalisten, Bloggern, Influencern und anderen Wirklichkeitskonstrukteuren genährten Spekulationen erneut angefacht, die Polizei begann zu ermitteln, die Krankenhäuser und Sanatorien der näheren Umgebung wurden abgeklappert, vielleicht hatte der mutmaßliche Feuerteufel, wie es in den Medien reißerisch hieß, in den medizinischen Einrichtungen Mittelkärntens Hilfe gesucht. Sich notdürftig versorgen lassen. Bevor er wieder das Weite gesucht hatte. Hier im Privatsanatorium „Zur guten Nachricht“ kam keiner vorbei. Außer Agnes, meiner Ex, die mit verweinten Augen an meinem Bett saß und mir eine Million Fragen stellte. Fragen, die ich kaum beantworten könnte, Fragen, denen ich auswich wie ein Teenager, der nicht an seiner Riesendummheit vom letzten Wochenende Schuld haben wollte.

„Wo ist Philipp?“, fragte mich Agnes immer wieder, aber ich hatte keine Antwort parat. Das Handy auf dem Nachtkästchen war tot. Hatte während meiner unfreiwilligen Seeüberquerung eine Art Hirntod erlitten. Alle Daten darauf waren gelöscht. Auch wenn ich es auflud und hinterher wieder einzuschalten versuchte, blieb der Bildschirm schwarz. Nur ein kleiner Cursor leuchtete irgendwo auf. Von Philipp gab es keine einzige Spur. Keine Nachricht. Keinen Hinweis darauf, ob er noch lebte. Wo er sein könnte. Mit wem er zusammen war. Ob er eine direkte Verbindung zur untergetauchten Familie besaß und etwas vom Verbleib vor allem der Eltern wusste. ‚I nostri genitori devono morire‘ war schließlich als finstere Drohung in riesigen Lettern auf den Rumpf des luxuriösen Motorboots geschmiert worden. Ein Satz, der Alpträume auslösen konnte. Nicht zuletzt in meinem Gehirn. Während der Rest meiner sterblichen Existenz zu schlafen versuchte.

Nachts schrak ich hoch und hatte ich das Gefühl, noch immer im Halbdunkel dieses Zimmers der Dinge zu sein, umgeben von den Gemälden, die Kathy von ihrem älteren Bruder gemacht hatte, diesem attraktiven jungen Mann mit dem dunkelbraunen Haar, den ausdrucksstarken Augen, den perfekt zurecht gezupften Augenbrauen, den spöttisch nach oben gezogenen Mundwinkeln, dem kleinen Grübchen am Kinn, den hohlen Wangen und der stets glatt rasierten Haut.

Die Makellosigkeit, die Manuel wie eine Aureole umgab, schien mit der Zeit bösartig geworden zu sein, aber Kathys pedantisch genau gemalte Bilder gaben noch immer eine Schönheit wieder, die in ihr genaues Gegenteil gekippt war: eine geheime, abgrundtiefe Hässlichkeit, die den Vorzeigestudenten ereilt hatte, wie eine tödliche Krankheit, aus der es kein Entrinnen mehr gab: nicht aus diesem Zimmer all jener Dinge, die alles das offenbart hatten, was diese Familie zusammengeschweißt, nach außen abgeschirmt und nach innen angegriffen hatte. Diese erhabene Familie Schwartz hatte ein luxuriöses Leben über den Dächern Wiens geführt und war trotzdem in den gigantischen Wellen des Missbrauchs untergegangen wie ein dahintreibendes Segelboot mit gebrochenen Masten und zersplittertem Kiel, ohne Mannschaft, ohne Kapitän, führungslos und mit kaputtem Ruder dem finalen Sturm der Vernichtung ausgeliefert. Der Selbstmord des jüngsten Sohnes hatte das Schweigen gebrochen, das letzte Stückchen Vertrauen zerstört und die akkumulierten Notlügen als das entlarvt, was sie tatsächlich waren: in der Not geborene Lügen. Die vor sich her wucherten wie ein gefährlicher Tumor und langsam ein Familienmitglied nach dem anderen erfassten. Wer immer von diesen vier abgängigen Menschen noch am Leben war, befand sich in höchster Gefahr. Einem Schattendasein ausgeliefert, das kaum zu ertragen war. Weder heute noch morgen. Nie mehr.

Nach ungefähr einer Woche, die mir wie zehn Ewigkeiten im Arschloch der Hölle vorkam, wurde ich auf eigenen Wunsch vorzeitig entlassen. Vorsichtig wie jemand, der gerade von einem Holzkreuz heruntergestiegen war, trat ich vor die Türe der Anstalt, von meinen Brandwunden genesen, von den schlimmsten Schmerzen befreit. Mittlerweile war das abgebrannte Seegrundstück aus den Schlagzeilen geraten, die Medien interessierten sich längst für andere Verbrechen, Skandale und Widrigkeiten und ließen das dunkle Geheimnis der eingeäscherten Villa zurück wie nutzlosen Müll. Wer dieser Tony gewesen sein mochte, blieb der Öffentlichkeit noch immer verborgen – dafür hatte ich das zweifelhafte Vergnügen gehabt, diesem Kerl zu begegnen. Einem schlitzohrigen Typen in den mittleren Fünfziger Jahren, der Zigarillos rauchte und sich regelmäßig mit Absinth betrank, der vorgab, Privatdetektiv zu sein und doch nur ein billiger Schmarotzer war, der in dunklen Bars, Saunen und Darkrooms verkehrte und sich dort alle paar Monate seine Befriedigung holte, dazu ein paar Geschlechtskrankheiten und sein bisschen Stück vermeintlicher Freiheit, die natürlich ihr genaues Gegenteil war: sexuelle Hörigkeit ohne Anfang und Ende, ohne Höhepunkt, ohne Gestalt. Ein sich selbst genügender mechanischer Kreislauf, als anonymer Körper mit anderen anonymen Leben zu verkehren, sich in herben Gerüchen und dunklen Räuschen zu verlieren wie in einem abgelegenen Verhörraum. In einer Folterkammer. Oder auf dem riesigen Flatscreen im letzten Zimmer der Dinge. Als eigenes, entstelltes Spiegelbild seines Selbst.

Ich bezahlte den Sanatoriumsaufenthalt mit meiner neuen Kreditkarte und erwarb einen kaum gebrauchten, ebenfalls nachtblauen Mercedes G4, den Vorführwagen eines Autohauses in Villach. Die exakte Kopie jenes luxuriösen Geländefahrzeugs, das mir der mysteriöse Bankier mit der jugendlichen Stimme zur Verfügung gestellt hatte und das zusammen mit der Seevilla Schwartz in Flammen aufgegangen war. Obwohl der geheimnisvolle Millionär seit 10 Jahren tot war, hatte er mittlerweile einen sechsstelligen Betrag auf mein Konto überwiesen. Ich war jetzt reich. Obwohl ich mir den hohen Kontostand kaum erklären konnte. Und schon gar nicht die Verpflichtungen, die damit einhergehen mussten.

„Finden Sie heraus, wo mein Sohn steckt, meine Schwiegertochter, und deren Kinder.“

Die Stimme des Bankiers war immer noch da, aber diesmal drang sie nicht mehr aus dem Lautsprecher eines Smartphones – sie befand sich tief drinnen in meinem Kopf. Hatte sich in meinem Gedächtnis eingegraben wie ein seit langer Zeit ausgestorbenes Tier, das nur hinterhältig darauf wartete, aus der vorgetäuschten Totenstarre sein nächstes Opfer zu überfallen. Ich wusste, ich würde nach Italien fahren. In die Gegend von Siena. Eine liebliche Hügellandschaft voller Weinberge und Olivenhaine, voller Pferdekoppeln und Rinderweiden. Irgendwo in der Nähe der toskanischen Küste gab es mindestens ein Anwesen, das der Familie Schwartz gehörte. Einen Bauernhof. Eine ländliche Villa. Der nächste Fluchtort der abgängigen Familie. Vielleicht auch ihr letzter.

Nachdem das wenige Gepäck verstaut und ich in den Wagen gestiegen war, riskierte ich einen Blick in den Rückspiegel. Seltsam, ich hatte während meines Klinikaufenthaltes kaum in den Spiegel geschaut, sondern wie der letzte Idiot die Nachrichten auf dem riesigen Flatscreen verfolgt, den Ermittlungen der Brandkommission und dem Vorhabenbericht eines Sprechers der Staatsanwaltschaft gelauscht. Mittlerweile waren die Erhebungen eingestellt und über die nicht identifizierte Leiche der Mantel des Schweigens gebreitet worden. Die Leiche eines hageren Mannes Mitte fünfzig, etwas ungepflegt, Alkoholiker, nikotinabhängig, mit abseitig schlechten Blutwerten. Nachdem in ganz Kärnten niemand vermisst wurde, auf den die Beschreibung zutreffen konnte, legte man den Fall gerade beiseite. Schloss die Akten. Vertraute auf den Sankt Nimmerleinstag. Oder das Salzamt. Auf irgendeine höhere Instanz jedenfalls, die es längst nicht mehr gab.

Ich lächelte meinem Spiegelbild zu. Etwas kleinlaut und ängstlich beinahe. So kannte ich mich gar nicht. Das arme Würstchen im eigenen Saft zu spielen war nicht gerade mein Ding. Aber ich war in dieser verdammten Villa gewesen. Hatte mir Zugang zum Zimmer der Dinge verschafft. Hatte Kathys Bilder gesehen und Manuels Offenbarungen verfolgt. Und ich hatte Tony kennengelernt, mein anderes, bösartiges Ich. Das in den Flammen umgekommen war. Und die Geheimnisse des Missbrauchs mit in die Ewigkeit genommen hatte, wo es keine ermittelnden Behörden mehr gab, keinen Kriminalinspektor, keinen Staatsanwalt, keinen Richter, keinen Verteidiger, nichts. Nur die endlosen Weiten des Vergessens, in dem alles eins war. Oder nichts. Gegeneinander aufgehoben und ausgelöscht. Als ob sich niemals etwas ereignet hätte. Weder in dieser Villa. Noch im Wald. Noch am See. Auch nicht auf der Dachterrasse der großkotzigen Wohnung in der Neutorgasse oder im Auer-von-Welsbach-Park und schon gar nicht auf der versifften Toilette des Meisel Marktes. Es hatte sich nichts ereignet. Wenigstens in der gestaltlosen Ewigkeit nicht. Tony war tot. Philipp unauffindbar. Und die Familie Schwartz wie ausgelöscht in ihrer eigenen amorphen, gefühllosen Nacht. Ich drückte auf einen Knopf in der Mittelkonsole und der Wagen sprang an. Der elektronische Assistent namens Heinz begrüßte mich, als ob nichts gewesen wäre. Nach Siena, gewiss, mein Freund. Schnallen Sie sich bitte an und halten Sie das Lenkrad fest, ich navigiere Sie zuverlässig an das gewünschte Ziel – wenn Sie mir noch die genaue Adresse verraten könnten, wäre ich Ihnen mehr als verbunden.

Genau das war mein Problem. Ich starrte das Smartphone an. Das neueste Apple-Ding, mit noch mehr Gimmicks und Millionen neuer Funktionen darauf. Gerade erst in Betrieb genommen. Vor einer halben Stunde aus dem Luxuskarton gefischt, in aller Eile konfiguriert und notdürftig aufgeladen. Ich kannte die Zieladresse nicht. Aber ich wusste, es würde etwas passieren. Ich war wieder mit diesem Messengerservice verbunden. In demselben Raum. Mit derselben unbekannten Person, die vorgab, Philipp zu sein. Es würde etwas passieren. Der grüne Cursor leuchtete intermittierend. Die Sekunden und Minuten verrannen. Das fünfte Zigarillo hintereinander erlosch zwischen dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Und die Asche fiel wie der Staub von Toten zu Boden.

Nach längerem Warten erschien tatsächlich eine Nachricht auf dem Display. In Großbuchstaben. Die nächste Anweisung meines verschwundenen Sohnes. Oder auch nur jemand, der sich für ihn ausgab. Genauso überzeugend, wie der Unbekannte diesen Bankier gespielt hatte. Den Bankier mit der jugendlichen Stimme.

„Manuel“, murmelte ich und dachte an die Erlebnisse meines verbrannten Alter Egos zurück. Ein dunkler Halbschatten in der Dampfkammer. Ein bereitwillig geöffneter Mund hinter den feuchtwarmen Schwaden. Der ohne viel Aufhebens hingehaltene Po. Und nach der kurzen Begegnung ein gehauchtes „Ciao“, ein halbes Lächeln und das leise Schließen der Holztüre. Nichts hatte sich ereignet. Außer einer folgenlosen Begegnung mit einem Fremden – als ob ich nur eine Nebelschwade berührt hätte.

Ich gab die mitgeteilte Adresse in das Navigationssystem ein, und Heinz war begeistert. Die Reise ins Herz der Dinge war noch lange nicht zu Ende, ganz im Gegenteil: sie hatte gerade erst von neuem begonnen.

*

„BIST DU SCHON UNTERWEGS IN DIE TOSKANA, PAPA?! DU MUSST HERAUSFINDEN, WIE ALLES WEITERGEHEN UND ENDEN WIRD. SCHLIESSLICH HAST DU VIEL GELD BEKOMMEN DAFÜR BEKOMMEN. DU STEHST IN DER PFLICHT DEINES AUFTRAGGEBERS. UND GENAUSO IN MEINER. DU MUSST KOMMEN – DU MUSST!“

Da waren sie wieder, diese Botschaften aus dem Nichts, auf einer App ohne Logins: hektische Anweisungen in Großbuchstaben, die mich misstrauisch machten. Philipp war bereits seit mehr als drei Wochen verschwunden. Genauso spurlos wie diese vermögende Familie gut zwei Monate zuvor. Deren riesige Dachgeschosswohnung mittlerweile an belgische Investoren verkauft worden und deren Kärntner Villa am Wörther See in Flammen aufgegangen war. Kurz nachdem ich im Zimmer der Dinge die Bilder gesehen hatte. Kathys hinreißend gemalte Bilder eines außergewöhnlichen jungen Mannes. Während auf einem Flatscreen unscharf aufgenommene Missbrauchsszenen flimmerten, wild zusammen geschnittene Clips von Parkplätzen, Waldlichtungen, Küstenabschnitten oder leerstehenden Häusern, von Orten, die dirty gewesen waren, schmutzig in jeder Beziehung.

Kurz bevor der Fluchtweg abgeschnitten war, hatte ich den Brandgeruch wahrgenommen, das Knistern der flackernden Flammen gehört, ich war zur Türe gelaufen, hatte den Weg nach unten gesucht, war auf der bereits in Vollbrand stehenden Holztreppe nach unten geflohen und hatte draußen auf der Terrasse Teile des Dachstuhls einstürzen gehört, war mit brennenden Kleidern zum Pool gerannt, Hals über Kopf in das Chlorwasser gesprungen und hatte mich auf diese Weise in letzter Sekunde gerettet. War kurz vor dem Eintreffen der Feuerwehren über den See geschwommen. Und hatte mich mit letzter Kraft in diese Privatklinik geschleppt, in der keine Fragen gestellt wurden.

In der Presse hatte ich von diesem Tony erfahren, der bei dem Villenbrand ums Leben gekommen war, einem Unbekannten in den mittleren Fünfziger Jahren, ungewisser Herkunft und Identität, einem Opfer, dem die Journalisten der Lokalpresse den Alias-Namen „Tony“ verpasst hatten, Tony mit -y. Mein Alter Ego, mein Deckname, mein Pseudonym in den schwulen Halbwelten. Überall dort, wo mein richtiger Name nicht hin reichen durfte.

‚I nostri genitori devono morire‘ war auf dem Mahagoniholz des zerstörten Motorbootes auf dem Seegrundstück der Familie Schwartz zu lesen gewesen, unsere Eltern müssen sterben. Nicht hier am Wörthersee, sondern weiter unten im Süden, in Italien möglicherweise, in der Toskana, wo diese Familie noch ein Anwesen besaß, wo genau wusste ich noch gar nicht.

„ICH WERDE DIR ALLES VERRATEN, PAPA. UND DIR ZUGANG ZU ALLEM VERSCHAFFEN.“

Konnte ich mich darauf verlassen, dass hinter diesen Nachrichten tatsächlich mein Sohn steckte? Nichts an diesen Worten schien echt, wahrhaftig oder wenigstens glaubwürdig zu sein. Sie waren nur Worte, die mir irgendjemand aus den Untiefen des WeltWeitenWahnsinns zukommen ließ, aus welchen Interessen und in wessen Auftrag auch immer.

Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Nicht einmal 10 Kilometer trennten mich noch bis zur Grenze. Ob ich es wollte oder nicht, ich hatte das Gefühl, nicht nur einem bedrückenden Geheimnis entgegenzufahren, sondern ebenso einem längst verloren geglaubten Lebensabschnitt: meiner eigenen Jugend, die ich an den Kärntner Seen verbracht hatte. In der Nähe von Villach. Ich warf einen Blick auf die Stadt zu meiner Rechten, hin gewürfelt wie ausgestreutes Legospielzeug zwischen den grünen Hügeln und den Nockbergen im Hintergrund. Hier war ich aufgewachsen, am Rande der ungefähr 70.000 Einwohner zählenden Stadt, in einer Kleinfamilie, mit depressivem Vater, unterwürfiger Mutter und einem wahnsinnigen Bruder, der mir im Alter von sieben Jahren einen Bleistift in die Kinderhand gerammt hatte, was ganz ähnliche Spuren hinterlassen hatte wie die rostigen Nägel auf den Extremitäten des allseits bekannten Erlösers. Diese Holzkreuze waren überall gewesen. In unserer Küche. Im Wohnzimmer. An jeder Ecke der Kleinstadt. Und erst recht in jeder Kapelle, im Dom, in den Landpfarreien. Das CCTV der katholischen Kirche. DER ERLÖSER ist immer und überall, ER sieht dich bei allem, was du tust, also Vorsicht. Du bist nichts als eine wandelnde Sünde.

Wichsen in finsteren Kellergeschossen, zusammen mit anderen Jungs, die einfach nur Jungs waren. Blasse, runde, schon vor der Pubertät verbrauchte Gesichter. Sexhefte, früher Alkohol, Zigaretten. Jeder auf seine Weise durchgeknallt, jeder auf der Suche nach etwas, das noch weniger war als das ländliche Nichts, das uns alle umgab. Hole mir einen herunter. Lutsch ihn mir. Pass auf mit den Zähnen. Diese frühen Kommandos, diese heiseren Stimmen, die immer noch da waren. Oder stets von neuem zurückkehrten. Die Stimmen im Kopf – blasse Epiphanien der Geilheit. Die sich während der Sommermonate aus privaten Kellern in die Freibäder und auf Campingplätze verlagerten. Das Herumlungern zwischen den Wohnwagen und Zelten. Eine ungefähre Ahnung von dem, was du wolltest. Ein paar Komplizen erahnten deine Sehnsucht, errieten dein Begehren, ältere Leute als du, Männer, Erwachsene, hin und wieder auch Jugendliche. Aus Hamburg. Aus Düsseldorf. Aus Wuppertal. Aus Stuttgart. Welche Autofabriken gerade ihre Betriebsferien hatten. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre. Sexuelle Befreiung. Massenausbrüche aus dem Gefängnis der Katholischen Kirche. Ins nächste des endlosen Begehrens hinein. Eine permanente Revolution des Körpers, die auf der Stelle trat. Es war trotzdem lässig gewesen, dutzende Schwänze in einer einzigen Ferienwoche zu blasen, zuerst diesen hier, dann den daneben und den nächsten dort drüben und noch ein paar andere auch. Alle, die ich kriegen konnte. Und jene, die mich ebenfalls wollten. Und irgendwann in den Arsch. Ich mochte fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen sein. Zugekifft und vollgepumpt mit Alkohol. So richtig verlorengegangen in der Welt der verbotenen Dinge. Es gab genug Leute, die mich durchnahmen. Meinen noch glatten Körper wollten. Meine jugendliche Naivität. Halte deinen glatten Po hin. Lass dich ficken. Dieses neue Wort. Ficken. Das genauso klang, wie sich das Tun dahinter anfühlte: kurz, spitz, klebrig, hart, rein, raus. Bevor ich wusste, was kam, war der andere schon fertig. Hatte reingespritzt. Und war wieder verschwunden. Hatte mich zurückgelassen wie weggeworfenen Müll. In einer Waldlichtung. Auf einer Wiese. Zwischen Zelten und Wohnwägen, erloschenen Lagerfeuern und einer achtlos hingelegten Gitarre, auf die ich in der Dunkelheit versehentlich gespritzt hatte. Das war meine Befreiung von einem vergeudeten Schuljahr gewesen, diese acht Wochen sexueller Revolution. Ein 60tägiger Aufstand gegen den Weg, die verlogene Wahrheit und das schüttere Leben im traurigen Dorf am Rande einer noch traurigeren Stadt. In der Nähe eines Sees. Wo die Männer hinkamen. Still und geheim wie Quallen, die aus der Tiefe des Meeres an die Oberfläche schwebten. Das schleimige Grinsen. Ihr Wissen. Ihre Erwartung. Mein Wille wurde vom Kugelhagel begehrender Blicke durchsiebt. Ein Junge, weder schön noch hässlich, weder dünn noch dick, weder groß noch klein, mit mittellangen braunen Haaren und braunen Augen, ein Junge, der in der Nähe eines aufgelassenen Seebads wartete und mitging und im Wagen seines Freiers das machte, was erwartet wurde. Mehr oder weniger willig, devot, ohne Widerstand, der längst zu einem permanenten ‚ja‘ zurechtgebogen war. Und irgendwie hatte ich es genossen. Und trotzdem keine Worte dafür übriggehabt. Maß dem Treiben kaum Bedeutung zu. Es war einfach das, was ich machte, in den großen Ferien. Zwischen einem Wolkenbruch und dem nächsten.

In der Oberstufe dämmerte mir langsam, dass ich anders als die anderen war. Obwohl ich doch genauso so sein wollte wie sie. Das einzige weiße Exemplar in der Herde aus schwarzköpfigen Fleischschafen. Umkreist von Schäferhunden. Beobachtet von den Bauern. Ausgesucht zur Schur. Und irgendwann auch zur Schlachtung. Ein letzter dämlicher Blick in den Schussapparat, ein kurzes Plopp und das war‘s. Das Ende meines Schaflebens. Das schweißgebadete Erwachen im Bett. Die Flecken in den Laken. Der Durchfall. Das ständige Bauchweh. Das Bettnässen noch mit siebzehn. Die missbilligenden Blicke von überall her. Die Schläge des Vaters. Das stumme Mitleid der Mutter. Das hinterhältige Gelächter des psychotischen Bruders. Die Matura geschmissen und zum Bundesheer geflohen. Dort noch mehr Schwänze gelutscht. Oder in der Dunkelheit eines Kasernenkellers den Arsch hingehalten. Irgendein Korporal, ein Unterleutnant, ein Major hatte immer Bock auf den Rekruten vor ihm. Unter ihm. Neben ihm. Um ihm herum. Wie eine Schweißfliege, die er zerquetschen konnte. Ein barscher Befehl und ein paar Tage Bau, zusammen mit einem, der kaum bis drei zählen konnte.

Nach dem Militär emigrierte ich in die Gastronomie und zog die nächste Uniform an – die etwas buntere Kellner-Livree. In einem gehobenen Gasthof, in einem 5-Sterne-Hotel, in Haubenrestaurants. Überall dasselbe gewalttätige Theater um eigentlich gar nichts. Irgendwann lernte ich jemanden kennen, der einen Handlanger suchte. Eine Art Assistent. Zum Ausspionieren anderer Leute. Die ersten schrägen Blicke auf das Leben der Besserverdienenden. Auf ihre zerbrochenen Ehen. Auf die geheimen Begierden. Auf die Opfer der Lust. Ein Job, der die nächsten 25 Jahre mein Job bleiben sollte. Irgendwann gründete ich meine eigene Detektei, die ich nach dem Türschild an meiner Sterngassen-Wohnung benannt hatte: ‚Agentur Hartmann‘. Mehr verriet das Schild nicht. Und das war gut so.

Neben dem Observieren schlitterte ich in die Ehe mit einer Frau, die ich nicht liebte. Und dazwischen immer wieder die Männer, die Jungs, diese Kellerasseln der Nacht. Die ersten Geschlechtskrankheiten. Die damals allgegenwärtige Aids-Krise. Die Zeit des Stillhaltens. Der Beerdigungen so vieler anderer Männer. Die ich gekannt und doch nicht gekannt hatte. Die man einfach irgendwo in der Dunkelheit traf. Im Rathauspark. In der Floriani-Loge, auf der Johann-Nepomuk-Berger-Toilette. Stricher. Lehrlinge. Kellner. Baumeister. Landgrafen. Und immer wieder Priester dazwischen. Diakone. Dechanten. Monsignori. Das ganze Gesocks der Katholischen Kirche. Den Auswurf der Hölle. Der eine war so geil wie der andere gewesen. Und irgendwann war alles ausgestanden und scheinbar vorbei. Die Begräbnisse. Die verborgene Trauer. Die in aller Stille vergossenen Tränen. Das alltägliche Achselzucken, das viel später von von einem unschuldigen Schrei im Kreißsaal gestoppt wurde. Mein Sohn. Mein kleiner Sohn Philipp. Unser Sohn. Der Sohn von Agnes und Joe. Einer esoterischen Buchhändlerin und eines verkrachten Privatdetektivs.

„Warum hast du dir keine besseren Eltern aussuchen können, Phil?“, murmelte ich, steckte mir das nächste Zigarillo an und riskierte einen Schluck Absinth aus dem Flachmann. Der digitale Fahrzeugassistent protestierte, aber Heinz Zwo hatte gegen mein Bedürfnis nach schwerem Alkohol keine Chance. Hinter der Windschutzscheibe lauerte die Region Friaul. Udine Nord. Das Stadio delle Alpi. Die Abzweigung nach Triest, nach Venedig, und weiter nach Padova, Ferrara, Bologna. Dazwischen die Nachrichten meines untergetauchten Sohnes, wie Morsezeichen aus einer ganz anderen Nacht.

„BEEILE DICH, PAPA. SONST FINDEST DU NICHTS MEHR HERAUS. SONST VERPASST DU SOGAR MICH. UND DU WILLST MICH DOCH SEHEN, ODER?!“

Was für eine Frage. Natürlich wollte ich nichts lieber als ein Treffen mit meinem abgängigen Sohn, nach dem Polizisten in ganz Europa fahndeten. Oder die wenigstens so taten. Eine Menge Leute tauchten jeden Tag unter. Verschwanden über Nacht. Lösten sich anscheinend in Luft auf und kehrten nie wieder. Der gewöhnliche Alltag im Leben eines Privatdetektivs. Ein paar hingelegte Fotos auf dem Schreibtisch, die verweinten Gesichter von Ehepartnern, von Eltern, von Erbberechtigten oder einfach von besorgten Verwandten. Den Ausläufern jeder Familie. Finden Sie meinen Sohn. Meine Tochter. Finden Sie die Existenz zu dieser Fotografie.

Meine Klienten waren höchst unterschiedlich: Eine Juristenfamilie. Eine Witwe in Rente. Der Hochschulprofessor. Der Rauchfangkehrer. Oder Nadine Kleingeld, eine Managerin aus der Getränkebranche. So viele hatten irgendwann irgendwo irgendjemand an irgendeinen Unbekannten verloren. Suchten zuerst selbständig danach. Und fanden nicht. Begannen irgendwann damit, den oder die Abgängigen suchen zu lassen. Genau für diese Anliegen war ich da. Der Inhaber der Detektei Joe Hartmann. Sterngasse 4, im ersten Stock. In der Wiener Innenstadt. Meine Klienten traf ich ausschließlich in der Öffentlichkeit. Im Kaffeehaus. In einem Espresso. In einem mittelschicken Italiener, von mir aus auch in einer verdammten Kirche, in einem Park, vor den Toren eines Fußballstadions, egal wo – nur nicht in dieser Sterngasse 4, meinem sogenannten Zuhause.

Ich nahm einen nächsten Schluck Pernod aus dem Flachmann und fragte mich, ob es überhaupt mein Sohn war, der mich nach Italien lockte. Der mysteriöse Bankier hatte sich auch schon verpisst. Hatte die letzte Ausfahrt Richtung Ewigkeit genommen oder war zu jemandem auf Wolke 700 mutiert. Die Sommerresidenz der untergetauchten Familie war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Und aus den verkohlten Trümmern hatte man die Leiche eines älteren Mannes entdeckt. Weder groß noch klein, weder dünn noch dick, mit einigen Furchen im Gesicht und einem kleinen Flachmann in der versengten Sakkotasche. Die Beschreibung in den Medien traf auf mich zu.

Eindeutig.

Oft genug in meinem zerrütteten Leben war ich dieser Tony gewesen. Als ob ich mich hinter einem anonymen Allerweltsnamen verstecken wollte oder musste. Die Gründe für dieses Versteckspiel waren schäbig gewesen. Geheime Treffen. Mit verdächtigen Leuten, die Verbotenes wollten. Sogar ein Date mit dem eigenen Sohn. Vermittelt von einem verrückten Studenten aus besserem Haus. Zusammen mit dessen jüngerem Bruder, der sich später umgebracht hatte. Bei diesem Treffen im Wald war ich ER gewesen. Tony. Der unbekannte, der gefährliche, der unverfrorene Mann, der sich was der Teufel alles herausnehmen wollte. Der sich hinter diesem Kürzel versteckte und im Schatten dieser Anonymität geheime Treffen ausmachte. Nicht nur in Wien. Auch in Kärnten. Am Wörther See. In einem Wald an der Südufer-Straße. Einem geheimen Treffpunkt für sexsüchtige Leute. Ausgerechnet nahe dieser Seevilla Schwartz.

An einer Autobahnraststätte bei Florenz kippte ich mehrere Espressi hinunter. Ich war die ganze Nacht durchgefahren. Im Osten schimmerte es bereits, ein blassroter Streifen strich über den Horizont und würde bald in einem Feuerball aufgehen. Der nächste Tag, der über die Nacht triumphierte. Ich spielte meine Paraderolle des schlecht rasierten Agenten, der sich vor einer dreckigen Autobahnraststätte voller Touristen, Fernfahrer und anderer Menschen ohne besonders Ziel die entzündeten Augen rieb und ein Zigarillo um das andere paffte. Noch lastete die Nacht auf der Landschaft im Westen, aber in Kürze würde der nächste Tag über den östlichen Hügelketten hereinbrechen. Die Fremden um mich, deren Wege mit meinen ohne jede Verabredung kreuzten, schienen geheime Komplizen zu sein: zufällige Passanten, stumme Zeugen von Verbrechen, die sich niemals ereignen würden. Testimonials von gar nichts.

Ich leerte den Espresso aus dem Pappbecher, drückte die letzte Kippe aus und sah auf die Uhr. Halb fünf. Ein verdächtiger Kerl auf dem Weg zu einem Tatort. Oder doch nur ein Krimineller, der den nächsten Tag aus der Nacht schälte, wie das Fruchtfleisch aus einer dicken Orangenschale. Der Tod verfolgte mich wie ein Schatten – seit meiner Geburt. Ein unsichtbarer Killer war uns allen auf den Fersen, ein Killer, der in uns eingebaut war. Wie eine tödliche Information. Wie ein Virus. Eine Giftspritze. Eine Zyankalitablette, die wir irgendwann einmal einnehmen mussten. Schließlich waren wir alle sterblich. Jeder von uns. Und an manchen Tagen fühlten wir es. Wenn es um uns herum hell zu werden begann und der Tag dennoch dunkel blieb.

Aus welchen Gründen auch immer.

*

Der Ort, zu den mich Phils kryptische Nachrichten lotsten, hieß Castiglioncello. Ein hübscher Badeort am Tyrrhenischen Meer, mit Bademodengeschäften, Andenkenläden und einer Gastronomie, die alle Italienklischees aufs Beste bediente: Plastikseesterne und falsche Fischernetze in den Pizzerien, türkische Kellner, die vortäuschten, aus Sizilien oder von den Liparischen Inseln zu stammen, und deutsche Familien, die mit Eistüten und der Bildzeitung in den Händen durch die Fußgängerzone flanierten – Harmlosigkeit pur, wie aus einem Sommerprospekt für ‚Dämlich Reisen‘ oder so ähnlich. Es gab Dutzende Hotels, an die hundert Lokale, einen riesigen Pinienpark mitten im Zentrum und jede Menge Müßiggang zu Höchstpreisen. Die meisten Passanten befanden sich im Urlaub und schwebten wie auf einem Valium-Trip über die Gehsteige und Straßen, fern aller Erregungszustände, tiefenentspannt, von ihren Alltagskrämpfen erlöst – beinahe glücklich.

Ich saß in einer Vinothek, die sich ‚Sughero‘ nannte, einem hübsch eingerichteten Ecklokal mit winziger Terrasse, an deren Tische Einheimische saßen, oder wenigstens Leute, die miteinander in fließendem Italienisch parlierten. Dazu eine Flasche spontanvergorenen Weißwein nach der anderen tranken, Glasschälchen voller Erdnüsse und entsteinter Oliven leerten und sich lachend über die banalsten Dinge der Welt unterhielten, über die Touristen, die da draußen wie Zombies Richtung Promenade stolperten, in unsicheren, abrupten Bewegungen, als ob sie gerade irgendwelchen Gräbern entstiegen wären und sich an unschuldigen Seelen rächen wollten, einfach weil es Dienstagabend war und der Vollmond hoch über dem nahen Pinienwald schien.

Immerhin hatte der junge Typ hinter dem Tresen auch Absinth im Programm, einen aus limitierter Produktion, direkt von einer Genossenschaft aus den Pyrenäen importiert, offensichtlich ein ganz besonderer grüner Tropfen, der dennoch kaum an meinen gewohnten Pernod heranreichte. Ich war eben eingestellt auf die verdammte grüne Flüssigkeit mit ihrem dezenten Sternanis- und Fenchelgeschmack, den 68 % Alkohol und den paar Milligramm Thuyon, die mich regelmäßig ruhigstellten und meine Wahrnehmung auf das Wesentliche fokussierten: eine gewisse Langsamkeit, die im Widerspruch zum hektischen Getue vieler Zeitgenossen stand – was mir echt scheißegal war. Wie die meisten anderen Dinge in meinem Leben. Ich hatte mich viel zu wenig um meine Agentur, meine Frau, meinen Sohn und nicht zuletzt auch um meinen Körper gekümmert, und jetzt sah ich eben aus, wie ich aussah: ein zerknitterter älterer Typ Mitte 50, mit fahler Gesichtsfarbe und poröser Haut, ziemlich hager und trotz Borsalino, weißem Leinenanzug und teuren Lackschuhen armselig aussehend, ein abgebrannter Bewohner des Zauberbergs, der von seiner tödlichen Erkrankung niedergestreckt in einem Liegestuhl saß, an einem biozertifizierten Absinth aus den Pyrenäen nippte und auf den angekündigten Boten wartete, einen Typ namens Gibran. Gibran Alcocer. Der Beschreibung meines Sohnes nach ein junger Mann Anfang 20 mit dichtem schwarzem Haar, dunkelgrauen Augen und Fingern so lang wie den Tentakeln eines ausgewachsenen Kraken. Hauptberuflich Terrakotta-Töpfer, aber nebenher ein autodidaktischer Pianist, dessen Piano-Soli auf TikTok hunderttausende User erreichten. Alle Stücke hießen ‚Idea‘ mit einer Zahl dahinter, ‚Idea 9‘, ‚Idea 10‘, ‚Idea 15‘, ‚Idea 22‘, ‚Idea Unendlich‘ oder so ähnlich. Ich hatte mir die Clips auf TikTok angesehen, Alcocers Klavierstücke waren schöne, sanfte Petitessen, die mich an Schumann, Chopin oder vielleicht auch an Erik Satie erinnerten, aber was wusste ich schon, ich war nur ein kleiner, schmieriger Privatdetektiv, der sich aufgemacht hatte, im Auftrag eines mysteriösen Bankiers, der einerseits eine junge Stimme gehabt hatte und andererseits seit zehn Jahren tot war, den Aufenthalt einer verschwundenen Luxus-Familie ausfindig zu machen, die ein unbeschwertes Leben in Saus und Braus geführt hatte, aber seit der Karwoche scheinbar spurlos verschwunden war – wobei: dieses spurlos stimmte nicht mehr. Jemand wusste von diesem Verschwinden Bescheid. Gab mir über einen mehrfach verschlüsselten End-to-End-Messenger-Service, der sonst von Drogenhändlern, Untergrundorganisationen oder gemeinen Hardcore-Pornographen bespielt wurde, kryptisch formulierte Tipps, die bisher stets ins Schwarze getroffen hatten. Adressen, Zugangscodes und Kontaktpersonen, die überraschend auftauchten und genauso plötzlich wieder verschwanden. Dieser mysteriöse Jemand schien mein eigener Sohn Phillip zu sein, der ebenfalls seit mehr als zwei Wochen abgängig war, sich bei wem auch immer an einem geheimen Ort in Italien oder sonst wo aufhielt und mir zuverlässige Tipps zukommen ließ: Wie ein zweiter Vergil aus Dante Alighieris ‚Divina Commedia‘ führte er mich durch das Purgatorium vornehmer Abwesenheiten und hatte mich schließlich hierher nach Castiglioncello an der toskanischen Küste gelotst, etwa 25 Kilometer in südlicher Richtung von Livorno entfernt.

„DU WIRST EINE RESERVIERUNG IN DER VILLA PARISI WAHRNEHMEN. FÜR DAS ZIMMER 108. IM ERSTEN STOCK. DAS MIT DER KLEINEN TERRASSE RICHTUNG NORDWESTEN. ZU DEINER RECHTEN SEHEN WIRST DU EIN GEBÄUDE SEHEN. FRISCH RENOVIERT. ABER MIT VERRIEGELTEN FENSTERN UND BUNTEN GRAFFITIS AUF DEN ZUGENAGELTEN TÜREN. DIESES ANWESEN WIRD VERLASSEN AUSSEHEN. ABER DAS DACH WIRKT WIE NEU. DER SWIMMINGPOOL IST GERADE ERST EINGELASSEN WORDEN. UND IM SPIRITUOSENSCHRANK GIBT ES AUCH DEINEN PERNOD. AM KOMMENDEN DIENSTAG WIRST DU DICH GEGEN 20.30 UHR ZUR WEINBAR ‚SUGHERO‘ BEGEBEN UND AUF EINEN JUNGEN MANN NAMENS GIBRAN WARTEN. GIBRAN ALCOCER. ER BRENNT TERRACOTTA-HAUSRAT UND KOMPONIERT KURZE KLAVIERSTÜCKE. DER JUNGE TYP WIRD DIR GEFALLEN, PAPA, ICH WEISS JA, DASS DU JUNGE MÄNNER MIT DICHTEM, DUNKLEM HAAR MAGST. UND DASS DU SOGAR EINMAL MIT MIR INTIM WARST. ABER DU BRAUCHST DIR KEINE GEDANKEN DARÜBER ZU MACHEN – ES HAT MIR GEFALLEN. ICH WAR MIT EINER LEDERMASKE VERKLEIDET UND HATTE MIT LEOPOLD UND MANUEL IM WALD BEI DER SEEVILLA AUF EINEN TONY GEWARTET. DIESEN ‚TONY MIT -Y‘ – DER DANN DU WARST. MEIN PAPA. WIR HABEN MITEINANDER DAS GEMACHT, WAS MANUEL, LEOPOLD UND KATHY MIT IHREN ELTERN GEMACHT HABEN. WAS EIGENTLICH VERBOTEN IST. EIN VERBRECHEN. UND TROTZDEM, PAPA: HINTER JEDEM WAHNSINN STECKT IMMER ETWAS LOGIK ODER WENIGSTENS LEIDENSCHAFT. DU WIRST ALSO GIBRAN TREFFEN. IN DIESER WEINBAR NAMENS ‚SUGHERO‘, ITALIENISCH FÜR KORK, ABER DAS WEISST DU JA SELBST. DU HAST EIN PAAR JAHRE IN ITALIEN GELEBT. DU KANNST ITALIENISCH. GIBRAN WIRD AUF EINER GRÜNEN VESPA VORFAHREN. UND GENAU FÜNF MINUTEN VOR DIESER WEINBAR WARTEN. EINE MINUTE FÜR JEDES MITGLIED DER SCHWARTZ-FAMILIE. DU MUSST IHN ANSPRECHEN, PAPA, DU MUSST DIESES CODEWORT SAGEN ‚IDEA 10‘. IDEA – ITALIENSICH UND ‚10‘ ENGLISCH AUSGESPROCHEN. DANN WIRD DIR GIBRAN EINEN SCHLÜSSEL GEBEN. EIGENTLICH EINE ART KREDITKARTE MIT EINEM MAGNETSTREIFEN. DEIN ZUGANG ZU DIESER VILLA AUF DEN KLIPPEN – FÜR EINE EINZIGE NACHT, FÜR DIENSTAG, FÜR ÜBERMORGEN….

Ich sah hoch. Dienstag war heute. Und 20.30 Uhr war jetzt. Mein Absinth war geleert, die schwarzen Oliven gegessen, und eine Papierserviette zerknüllt. Im Aschenbecher lagen mindestens zehn zerdrückte Moods-Kippen. Vor dem Lokal hielt eine hellgrün lackierte Vespa. Der Motor blubberte, und ein junger Typ mit dreifärbigem Vollvisierhelm saß auf dem italienischen Roller, blickte auf die Uhr, sah sich um. Wollte schon wieder fahren. Ich gab ihm ein Zeichen, stand auf und trat auf die Vespa zu, murmelte das Codewort „Idea 10“. Das erste Wort auf italienisch, das zweite auf englisch. Ich hatte das Gefühl, dass der junge Mann unter dem Sturzhelm zu lächeln begann. Mich mit seinen dunkelgrauen Augen durchdringend ansah. Kurz innehielt, überlegte. Dann die Achseln zuckte, in seine enganliegende Lederjacke griff und mir eine weiße Scheckkarte in die Hand drückte.

„Ecco l’accesso per la Villa della Famiglia Schwartz. Valida solo questa notte. Scopri quello che devi scoprire. Salutoni da Manuel, da Caterina e da Filippo. Da tutti di noi – insieme.“

Der junge Mann ließ den Motor der Vespa aufheulen, nickte mir noch einmal unter dem Vollvisierhelm zu und fuhr, ohne sich umzudrehen davon, eine schmale Straße namens Via Torino hinauf in die Fußgängerzone, wo sich der Roller zwischen Touristen, aufgestellten Verkaufsständen und geparkten Kleinwägen verlor, wie eine dünne Spur im Sand, die der Wind verweht hatte. Ich sah auf die Zugangskarte in meiner Hand. Blütenweiß. Mit einem Magnetstreifen dran. Der Zugang zu dieser verdammten Villa Schwartz hier ganz in der Nähe. Wieder einmal nur für diesen einen Abend gültig, damit ich etwas herausfinden konnte. Etwas, das diese Familie betraf. Und dieses Etwas war sicher alles andere als harmlos, als ungefährlich und – schön.

*

Es war noch hell, als ich mich dem toskanischen Landsitz der Familie Schwartz zu nähern begann. Wie der Späher einer geheimen Armee bewegte ich mich Schritt um Schritt vorwärts, in die langsam einbrechende Dunkelheit hinein. Ich handelte im Auftrag von niemandem mehr, zumindest schien es mir so. Der Bankier mit der jungen Stimme war seit zehn Jahren tot, mein verschwundener Sohn schickte mir eine Lawine aus mysteriösen Anweisungen und die verschwundenen Mitglieder dieser Luxusfamilie, die jahrelanger Missbrauch aneinander gekettet hatte, blieben genau das was sie waren: auf noch unerklärliche Weise verschwunden.

Ich passierte die ‚Torre Medicea‘, einen mittelalterlichen Turm, den adelige Potentaten vor hunderten Jahren errichtet hatten, um anstürmende Feinde abzuwehren, Feinde, die womöglich nie gekommen waren, Feinde, die niemals existiert hatten, zumindest nicht hier, an der toskanischen Küste, am westlichen Rand des italienischen Stiefels.

Über der Landschaft lag der vertraute Geruch nach frisch gemähtem Heu, würzigen Kräutern oder vor sich her faulender Früchte. Genauso hatten auch die Sommer meiner Kindheit in Kärnten gerochen, diese zwanzig Mal Juli und August an den verdammten Seen, die für mich eine Art Meer gewesen waren, nur eben auf billig. Die Strandbäder und Campingplätze waren voller Touristen hauptsächlich aus Deutschland und Holland gewesen, und irgendwann hatte sich irgendwo immer etwas ergeben: einen Schwanz in einem angrenzenden Wald zu lutschen, mich auf einer versifften Toilette voller Wespen, Käfer und obszöner Sprüche an den Holzwänden ficken zu lassen, und nebenbei zu entdecken, dass meine Sexualität alles andere als mehrheitsfähig sein würde, ich war bi oder schwul, ich wusste nicht einmal genau was ich war, irgendwie war ich alles und gar nichts. Wenn jemand etwas machen wollte, machte ich eben mit, auch wenn es sich um eine verhärmte ältere Frau aus dem Ruhrgebiet, einen bayrischen Frührentner oder doch um die vielen blonden Jungs handelte, die ohne ihre in Nordrhein-Westfalen oder in Holland zurückgelassenen Freundinnen so geil waren, dass sie vor lauter Cannabis und mehreren Litern Wein ihre heterosexuelle Identität vergaßen und sich von einem halbwüchsigen Lümmel wie mir zwischen Campingwägen und aufgestellten Zelten befriedigen ließen, damit sie hinterher einigermaßen entspannt mit ihren Eltern Pizza essen oder Minigolf spielen konnten.

Warum ich mich jetzt daran erinnerte – keine Ahnung. Ich durchquerte einen halb verwilderten Park, in dem ein schmaler Pfad vor einer hohen Mauer nach links Richtung Meer abbog und zwischen Felsen und windschiefen Pinien zu einer einsamen Bucht führte, die in den Prospekten des Ortes als idyllisch, pittoresk oder sonst wie bewunderungswürdig angepriesen wurde. Ein Maler namens Vittorio Corros hatte sich im neunzehnten Jahrhundert die Finger daran wundgemalt, aber die verdammte Bucht interessierte mich nicht. Mein Ziel war die Villa hinter der Mauer, ich suchte nach dem verschlossenen Tor, das nach einer Biegung hinter dichtem Macchien-Gestrüpp tatsächlich auftauchte: eine mächtige, gusseiserne Pforte, kunstvoll geschmiedet, wahrscheinlich aus dem achtzehnten Jahrhundert oder noch älter, und trotzdem elektronisch gesichert. Ich starrte auf das schwarze Kästchen mit dem intermittierenden roten Licht neben der Einfahrt, zum Zeichen dafür, dass die Anlage scharf gestellt war, mit CCTV-Kameras, Bewegungsmeldern und Alarmanlagen ausgestattet, die todsicher mit der nächsten Polizeidienststelle verbunden waren. Von der Terrasse meines Hotelzimmers aus hatte ich stundenlang hinüber zu dieser Villa geschaut, es war ein ziemlich großes Gebäude, wie ein kleineres Hotel mit ungefähr zwanzig Zimmern und einem Swimmingpool inklusive Außenbar und einigen Liegestühlen: alles stand bereit für Gäste, die niemals kommen würden – oder für diese Familie, deren Flucht vielleicht hier zu Ende gewesen war. In dieser Villa. Oder auf einem anderen Anwesen in der Toskana.

Ich hielt die Scheckkarte, die mir der geheimnisvolle Vespa-Fahrer in die Hand gedrückt hatte, gegen die schwarze Fläche mit dem Wlan-Zeichen, und nach einem kurzen Summen ging die schwere Pforte mit einem leisen Klicken auf, wenige Zentimeter nur, aber immerhin war ich in dieses verwilderte Grundstück eingelassen worden und näherte mich dem Gebäude, das sich hinter Rosmarinsträuchern und einer Pinienallee erhob, dunkel und unheimlich wie ein in Kürze losbrechendes Gewitter.

An der weiß lackierten Eingangstüre wiederholte ich das Spiel mit der digitalen Zutrittskarte, und auch dieser Sesam ins Unergründliche ging widerstandslos auf. Ich war willkommen oder wenigstens geduldet, für diese eine anbrechende Nacht, die sich langsam von den im Osten gelegenen Hügeln her des Küstenstreifens zu bemächtigen begann, die Farben des Sommers verwandelten sich in konturloses Schwarz, die Vögel flogen nicht mehr, nur ein unsichtbares Heer aus Zikaden gab eine unvollendete Symphonie zum Besten, ohne jeden Zuhörer, ohne die geringste Form von Anwesenheit, wenn ich mein heimliches Eindringen ausnahm.

Als ich die geräumige Eingangshalle betrat, gingen Dutzende Lichter an, die anscheinend von mir selbst aktiviert wurden: Lampen von ‚Ingo Maurer‘, von ‚Castellani & Smith‘, teures Gehänge aus Murano-Glas und anderer baumelnder Unsinn mehr. Die Parkettböden waren blank poliert und die Teppiche erst vor kurzem gereinigt worden, in der abgestandenen Luft mischten sich Aromen von starken Putzmitteln und irgendwelchen Kunstdüften, die gewisse Luxushotels auf ihre solvente Kundschaft einströmen ließen.

Wer immer in dieser gehobenen Wohnlandschaft aufgeräumt hatte, war gründlich gewesen: kein verdammter Staubfussel, kein vergessener Brotkrümel, kein bisschen Lurch war zu sehen, alles strahlte dieselbe makellose Erhabenheit aus, die ich auch in der riesigen Dachterrassenwohnung in der Wiener Innenstadt vorgefunden hatte: der Boden, die Möbel, die Luster, die Wände, einfach alles erstrahlte in einem beinahe atemberaubenden Glanz. Diese aufgeräumte Stille war sich selbst überlassen – wie ein gerade erbautes Mausoleum, das noch der vermögenden Toten harrte.

Ich schlich über eine kunstvoll geschnitzte Holztreppe ins obere Geschoss hinauf und inspizierte im Vorübergehen jedes Zimmer, die dunkelbraunen Holztüren standen allesamt offen. Elegante Schlafsalons, großzügige Marmorbäder und andere leerstehende Räume. Die Sommerresidenz der Familie Schwartz. In Castiglioncello sul Mare. Ich warf ein paar Blicke aus einem Fenster im ersten Stock und betrachtete den eingelassenen Pool, die mit einer Plane abgedeckte mobile Bar und die aufgestellten Liegestühle, nahm das Rauschen des Meeres im Hintergrund wahr, ein sanftes, intermittierendes Geräusch, das sich seit Millionen von Jahren alle paar Sekunden wiederholte. Irgendwo weiter weg bellte ein Hund. Fuhr ein Auto vorüber. Ich schloss das Fenster und ging wieder nach unten.

In der geräumigen Wohnküche im Erdgeschoss tickte eine Wanduhr. Ihre Pendel bewegten sich hin und her. Vermaßen die Stunden, zählten die scheinbar stillstehende Zeit, die natürlich trotzdem verrann. Im angrenzenden Wohnzimmer stand ein schwarzer Klavierflügel, dessen Abdeckung hochgeklappt war. Gibran Alcocer, der geheimnisvolle Vespa-Fahrer mit dem Sturzhelm in den Farben der italienischen Fahne, klimperte wahrscheinlich täglich darauf herum. Sofern er nicht vor sich hin töpferte, irgendwelches Geschirr aus geformtem Lehm brannte, etwas weiter weg im Hinterland, in der Nähe von San Gimignano, wo die Familie noch ein landwirtschaftliches Anwesen besaß, das sich dem Weinanbau, der Olivenöl-Produktion und der Zucht der berühmten toskanischen Chianina—Rinder verschrieben hatte. Ich war nahe dran, den Großkühlschrank in der Küche zu öffnen, als das Handy in meiner Sakkotasche vibrierte. Philipp hatte die nächste Nachricht abgefeuert, mein irgendwo in der Dunkelheit des Verschwindens schwelender Sohn.

„DU WEISST, WONACH DU SUCHST, PAPA. DU HAST DEINEN AUFTRAG. DU MUSST IHN ERFÜLLEN, WEIL DU DAFÜR GELD BEKOMMEN HAST. UND DU BIST NAHE DRAN. SEHR NAHE.“

Ich las die Zeilen in Großbuchstaben und stutzte. Nahe dran? Was meinte mein Sohn damit? Woher wusste er eigentlich immer, wo ich mich gerade befand? Dass ich im Augenblick mitten im Wohnsalon der Schwartzschen Sommerresidenz stand, den Blick auf die Pendeluhr gerichtet. Meine ausgestreckte Hand berührte den Nirosta-Griff der Kühlschranktüre. Ich hatte Lust auf den gekühlten Inhalt dahinter, auf ein Bier, etwas Weißwein, vielleicht Wermut oder was sich sonst im geräumigen Inneren des Kühlschranks versteckte. Im Spirituosenschrank schräg gegenüber entdeckte ich eine Flasche Pernod, meinen guten alten Bekannten. Die grüne Bouteille mit dem weißen Etikett und der blauroten Aufschrift. Wie eine Flagge, der ich mich zugehörig fühlte – als einer der wenigen verbliebenen Einwohner jener Mini-Nation, die dem Alkohol und dem Nervengift geweiht war. Seit 1805, seit mehr als zweihundert Jahren.

„WARTE NOCH MIT DEM TRINKEN, PAPA. DAS KANNST DU SPÄTER IMMER NOCH TUN. SCHAU LIEBER NACH OBEN. ZUR DECKE HINAUF.“

Ich folgte den digital übermittelten Angaben des verschwundenen Sohnes. Ein Lobmeyr-Luster hing schwer über meiner Endlichkeit. Daneben eine Art Sprinkler. Für gewisse Brandfälle. Ich schnupperte in der abgestandenen Luft, aber diesmal schien kein Feuer im Erdgeschoss auszubrechen. An diesem Abend blieb die Katastrophe aus – bis auf jene, die diese verschwundene Familie, meinen untergetauchten Sohn und nicht zuletzt mich selbst erfasst hatte. Wir waren alle Opfer und Täter in einer Person. Schuldig und unschuldig zugleich. In unseren Lebenslügen gefangen. In diesem falschen Selbst, das uns jeden Tag manipulierte.

Ich kniff die Augen zusammen und entdeckte, dass ich keinen Sprinkler anstarrte. Sondern in eine Kamera blinzelte, die dort oben an der Decke installiert war. Nicht nur in diesem gediegen eingerichteten Wohnzimmer, auch in der Küche, im gesamten Erdgeschoss und in jedem der eingerichteten Zimmer im oberen Stockwerk. Jeder meiner Schritte, jede Bewegung, jede Berührung wurde erfasst. Registriert. Aufgezeichnet. Unter den wachsamen Augen von – ja, von wem eigentlich?

Ich eilte noch einmal zum Konzertflügel hinüber, warf ein paar Blicke auf die offenliegende Klaviatur und das Notenblatt, das ich zuvor ignoriert hatte. Eine angefangene Komposition. Schwungvoll hingestrichelte Noten samt Vorzeichen und Notenschlüsseln. Alegro andante. Ich verstand nicht viel von klassischer Komposition, von den ganzen Vorzeichen und Noten, aber ein bisschen Klavierspielen hatte ich vor gefühlten 100 Jahren erlernt. In einem dieser dunklen Kärntner Klassenzimmer. Nachmittags. Mit freudlos aussehenden Mädchen, asexuell wirkenden Jungs und einem älteren Musiklehrer mit Halbglatze und Nickelbrille, der vom Gedanken besessen war, den nächsten Beethoven, Mozart oder Schubert entdecken zu müssen. Er versuchte uns unbegabten Kindern die klassische Musik einzubläuen, mit Drohungen, Kopfnüssen, Flüchen und Zornausbrüchen, mit dem ganzen übertriebenen Eifer eines Kleinbürgers, der nichts aus seiner Existenz gemacht hatte und deswegen auch das Leben der Nachkommenden zu ruinieren versuchte.

Seufzend setzte ich mich ans Klavier und versuchte das begonnene Klavierstück wiederzugeben, das mit „Idea“ überschrieben war, „Idea“ und daneben eine durchgestrichene Zahl. Nach dem dritten erfolglosen Versuch, die Noten einigermaßen authentisch wiederzugeben, stutzte ich, beugte mich ganz nahe an das Notenpapier und erkannte hinter den wütenden Querstrichen im Titel den Rest einer 6, einer zweiten 6, einer 1, und diesem kleinen „a“: 6-6-1-a. Die Bezeichnung für den Autobahnzubringer am Offenbacher Kreuz, wo dieser Parkplatz war, an dem das alles begonnen hatte: der Missbrauch, den die Eltern an ihren Kindern vollzogen hatten, diese Risse, die sich tief in die Seelen aller Familienmitglieder schnitten und womöglich den Selbstmord des jüngsten Sohnes ausgelöst hatten, jener tragische Tod, der die Dinge letztendlich eskalieren ließ. Mein Lächeln erfror. Meine Hände fühlten sich kalt und wie vereist an. Draußen hatte es über dreißig Grad, aber hier drinnen legte sich eine tödliche Kälte über die Dinge, wie in einem Grab. Anderthalb Meter tief in der Erde. Wo die Toten lagen. Und langsam verwesten. Sich mit der Erde um ihre Särge vermengten. Genauso leer. Gefühllos. Und still. Eine „Idea 661a“. Ein sanftes Inferno. Eine Hölle aus Wohlklang. Eine Gediegenheit, makellos wie diese Villen in Frankfurt, in Wien oder hier, in Castiglioncello sul Mare.

Plötzlich lachte ich hell auf und tippte mir an die Schläfen. Dieser Mann mit dem grün-weiß-roten Sturzhelm war nicht Gibran Alcocer gewesen, dieser junge, gutaussehende mexikanische Komponist, der mit seinem „Idea“-Zyklus millionenfache Klicks und Likes auf den sozialen Plattformen ausgelöst hatte. Auch wenn die unvollendete Komposition vor mir den Petitessen dieses begabten Tondichters nicht unähnlich war, die Zahl nach dem italienischen oder spanischen Wort für „Vorstellung“ verriet die schmierige Maskerade: ‚661a‘ war die Bezeichnung für den Zubringer zum Offenbacher Kreuz. Wo sich dieser Parkplatz befand, auf dem sich Familien zu schrägstem Treiben einfanden – diese alphanumerische Kombination konnte nur ein Mitglied der verschwundenen Familie Schwartz kennen. Ich war also angekommen. In dieser unheimlichen Villa an der toskanischen Küste.

Wie Suchscheinwerfer wanderten meine Blicke über die Wände des Wohnzimmers, strichen über großformatige Bilder des deutschen Expressionismus und einem flachen Regal mit zwei bunten Konfektdosen hinweg – einen Augenblick: diese – Kon-fekt-do-sen. Ich spürte, wie der Schweiß von der Stirn tropfte und mein Herz zu rasen begann. Ich sprang hoch, warf dabei den Klavierschemel um und lief die wenigen Meter zum Regal über einen renovierten Holzschrank hinüber. Starrte die bunten Behälter aus nächster Nähe an. Und entdeckte auf der einen Dose die Gravur „Papa“ und auf der anderen die Buchstaben „M-A-M-A“. Papa und Mama. Herr und Frau Schwartz. Diese Konfektdosen enthielten keine Süßigkeiten, sie enthielten – Asche.

Die Asche der getöteten Eltern.

*

Ich saß auf der Terrasse der Villa Parisi und starrte auf das Meer unter den Klippen. Das Azurblau, eingerahmt von den felsigen Buchten, war ein beinahe kitschiger Anblick. Ein paar Möwen flogen kreischend umher, tauchten nach kleinen Fischen oder Krebsen und weiter draußen waren riesige Containerschiffe zu sehen, einige Autofähren und der eine oder andere Luxusdampfer, auf dem sicher um die Wette gezockt, gefressen, gesoffen, gelebt wurde. Es war noch nicht einmal acht Uhr früh, und die Welt vor meinen entzündeten Augen schien noch schwer in Ordnung zu sein. Keine Push-Nachrichten. Keine Horror-Schlagzeilen. Keine nervösen Messages in Großbuchstaben. Nichts, was die Morgenstille getrübt hätte. Und doch. Ich hatte gestern Abend die beiden Urnen gesehen. Auf einem Wohnzimmerregal in dieser Villa dort drüben, deren Fensterläden heruntergelassen und deren Wände im Erdgeschoss mit Graffitis übersät waren. Vielleicht hatten während des letzten Winters ein paar Anarchisten im Park nebenan übernachtet, waren ab und an ins Haus eingedrungen und hatten dort die Weinkühlschränke geleert und die Fressvorräte geplündert. Leute, wie ich sie gestern Abend im ‚Sughero‘ gesehen hatte, kurz bevor der angebliche mexikanische Komponist mit seiner hellgrünen Vespa aufgekreuzt war.

Ich drückte mein Zigarillo in einem lächerlich kleinen Aschenbecher aus und betrachtete das Häufchen Asche vor mir. Acht im Morgengrauen gerauchte Zigarillos. Dazu ein halber Flachmann Absinth. Der Husten kam zurück. Und Schweiß brach auf der Stirn aus. In der Magengegend rumorte es wie bei einer Massendemonstration gegen die Inflation, wahnsinnig gestiegene Mietpreise und eine Regierung, die nichts dagegen unternahm. Vor einer halben Stunde war ich auf der Toilette gewesen. Trüber grünlicher Harn. Ein Haufen Blut beim Scheißen. Auch nach dem fünften Spüldurchgang erinnerte die Klomuschel noch immer an ein Schüttbild von Nitsch. Blassrote Streifen auf weißem Grund. Irgendwas stimmte mit meinem Körper nicht mehr. War außer Kontrolle geraten. Und müsste dringend von Fachärzten oder gar Chirurgen oder Onkologen behandelt werden. Ich zuckte mit den Achseln, nahm die neunte Moods des kaum angebrochenen Tages zwischen die Lippen und gab mir selbst Feuer.

Im Zimmer nebenan summte ein Handy, und jemand gab in einer slawischen Sprache barsche Befehle. Die Zeit floss dahin wie ein träges Gewässer, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass alles seinem Ende zulief: Die Eltern der verzogenen Luxuskinder waren tot und ruhten eingeäschert in zwei Konfektdosen. Als Täter kamen nur der Jusstudent und die Ballettelevin in Frage. Ich dachte an das Bootshaus am Wörthersee mit dem beschmierten Wasserfahrzeug aus Teakholz darin: „I nostri genitori devono morire.“ UNSERE Eltern müssen sterben. Waren die Eltern schon in Kärnten oder erst hier in Castiglioncello oder auf diesem Bauernhof im Hinterland umgebracht worden? Von Manuel? Von Kathy? Von beiden in Personalunion? Hatte ihnen jemand geholfen dabei, und wenn ja, wer konnte das sein?

Dieser angebliche Gibran Alcocer war niemand anderer als Manuel Schwartz unter dem Vollvisierhelm gewesen, er selbst hatte mir gestern Abend den Zugang zu diesem Anwesen auf der Nachbarsklippe verschafft. Damit ich unter Anleitung der kryptischen Hinweise meines untergetauchten Sohnes herausfinden konnte, wo sich die Leichen der getöteten Eltern befanden: in diesen Urnen auf dem schmalen Regal im Wohnzimmer. Er spielte sein durchtriebenes Katz-und-Maus-Spiel mit mir und lockte mich auch unter der Mithilfe meines Sohnes immer näher an die Quelle seiner Verbrechen – genau zu sich selbst.

Ich schüttelte mit dem Kopf und pfiff durch die locker werdenden Zähne. Philipp, mein seit zwei Wochen abgängiger Sohn, und Manuel, der gemeinsam mit seiner Schwester ebenfalls untergetaucht war. Hatten die drei die letzten vierzehn Tage gemeinsam miteinander verbracht? Aber wo? Womöglich hier ganz in der Nähe. Um was Spuren zu verwischen, die bereits verwesenden Leichen einzuäschern und dann endgültig abzuhauen – aber wohin?

Ich blickte auf das Display meines Handys. Nichts. Keine Nachricht. Keine Sms. Keine Meldungen auf WhatsApp, Kik oder Snapchat. Und erst recht nicht auf diesem obskuren Messenger Chat, über den Philipps Nachrichten in Großbuchstaben flimmerten. Aufgeregt klingende Anleitungen, die zu einem Doppelmord führten. Zu diesen toten Eltern in den Urnen. Gleich dort drüben. In diesem unscheinbaren Gebäude hoch über dem Meer.

Ich beschloss in Badehosen und Sandalen durch den Park dieser Villa Parisi zu schlendern und am großzügigen Swimmingpool vorbei den Pfad Richtung Steilküste einzuschlagen, die in den Felsen gerammten Holzstufen hinunterzusteigen und mich dem Meer hinter dem schmalen Steinstrand zu nähern, diesem im Sonnenlicht glitzernden Azurblau. Die Luft roch nach Jod, Salz und Sonnenschutzmittel, weil die ersten Touristen bereits im Wasser waren, die Stille dieses Sommermorgens genossen und mir dabei zusahen, wie ich über die glitschigen Steine Richtung Einstiegleiter balancierte, mit zitternden Händen, schwammigen Beinen und schmerzverzerrtem Gesicht. Ich betrachtete das kristallklare Salzwasser vor mir, sah Schwärmen von winzigen Fischen im Wasser zu und dachte, wie kurz das Leben doch war. Wie gefährlich. Wie schön. Von Dingen bedroht, die zuerst Spaß machten, dann eine Sucht hervorriefen und zuletzt nichts als den Tod einbringen würden.

Ich schwamm einige Minuten im kristallklaren Wasser, rieb meinen fragil gewordenen Körper mit dem flauschigen Hotel-Badetuch trocken und schlich mich wie ein Dieb in mein Zimmer zurück, an glücklich wirkenden Familien vorüber, der Vater Universitätsprofessor, die Mutter Philosophielehrerin, die beiden hochtalentierten Kinder in dicke Bücher vertieft. Eine Oase der Kontemplation, der vornehmen Stille, des beredsamen Schweigens. Niemand hatte hier etwas zu verbergen, jeder trug seine gehobene Bürgerlichkeit wie einen Orden zur Schau. Ich fühlte mich deplatziert, wie eine Punkband, die sich auf eine Hochzeit unter Adeligen verirrt hatte und trotzdem losfetzte, unter den missbilligenden Blicken der Braut, den energischen Protesten des Bräutigams und den indignierten Mienen der übrigen Gäste, die verzweifelt versuchten die über Jahrhunderte kultivierte Contenance zu bewahren.

Als ich die Terrasse vor meinem Zimmer betrat, begann mein Smartphone auf dem Liegestuhl zu vibrieren. Eine Botschaft. Noch eine. Und gleich darauf auch die dritte. Alle stammten von meiner Klientin Mara Kleingeld, die in entsetzten Worten den Tod ihrer Tochter bei einem mysteriösen Verkehrsunfall letzte Nacht in Nähe von Philadelphia bekanntgab. Ein Auto habe deren Scooter gerammt. Sei im Retourgang mehrmals über das sterbende Mädchen gefahren und habe danach mit ausgeschalteten Scheinwerfern das Weite gesucht. Fassungslosigkeit, Bestürzung und Wut fraßen sich wie Rost in diesen Kurzmitteilungen fest: Da muss mein Ex dahinterstecken. Er wird einen Killer angeheuert haben. Was willst du sonst vor einem Kerl erwarten, den du mit der eigenen Tochter und deren Freundin in einem Bett überrascht hast?

Mir blieb nichts anderes übrig, als kopfschüttelnd den Absinth-Rest aus dem Flachmann zu leeren, egal wie heftig die Schmerzen in der Bauchhöhle tobten, das Blut wie ein feuerroter Geysir aus dem Arschloch schoss und sich mein Urin ins Grünliche verfärbte. Ich ahnte, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte, aber aufgeben wollte ich nicht. Konnte ich nicht. Durfte ich nicht. Alle paar Stunden rief mich meine Exfrau Agnes an und erkundigte sich nach dem Verbleib unseres Sohnes. Ob ich bereits irgendwelche Spuren verfolgte, einen konkreten Verdacht hegte oder gar einer verdächtigen Person auf den Fersen sei – einer Person wie Manuel, dachte ich, oder wie Kathy. Und vielleicht sogar Philipp. Unserem Sohn, der sich auf mysteriöse Weise immer weiter von seinen Eltern entfernte.

*

Der hagere Mann in den mittleren dreißiger Jahren nannte sich Motta, saß schon seit einigen Stunden im ‚Sughero‘ herum, rauchte selbstgedrehte Zigaretten und nippte ab und zu an einem Wein, den er im Auftrag der ‚Tenuta Schwartz‘ im Hinterland der Toskana herstellte, nicht mehr ganz in der Chianti-Region und noch nicht im Bolgheri gelegen, eher in einer Art Niemandsland dazwischen. Im Bezirk Volterra. Auf mehreren hundert Metern Seehöhe.

„Bei euch wäre das eine Alm,“ grinste Motta und streckte seinen dicht behaarten rechten Arm zur Begrüßung aus, „unser Sangiovese enthält ziemlich viel Säure, die wir ganz bewusst nicht abbauen, sondern vielmehr betonen wollen. Das Ergebnis ist ein knochentrockener Rotwein, so ehrlich wie ein Stich in die Augen.“

Motta lachte laut und schien sich zu freuen, mich getroffen zu haben. Warum, wusste er auch nicht. Jemand, dessen Namen er nicht verraten wollte, hatte ihm ein Foto von mir überreicht und ihm aufgetragen, in dieser Weinbar namens ‚Sughero‘ auf mich zu warten. Dieser Signor Hartmann würde eigenständig in dieser Weinbar auftauchen, habe der Unbekannte Motta erzählt, schließlich stünden einige Absinthmarken aus ganz Südeuropa auf dessen Getränkekarte, darunter eine aus den Pyrenäen, der aus Macchien, Wermutkraut und hundert anderen Sträuchern und Kräutern destilliert worden sei. Luigi hatte mir den spanischen Brand wortreich mit weit ausholenden Armbewegungen beschrieben, viel zu lange für einen harmlosen Trinker wie mich, der einfach schweren Alkohol und etwas Thuyon benötigte, dazu drei Eiswürfel, etwas Limettensaft und Läuterzucker – das war‘s. Ein Absinth-Gimlet. Ganz okay mit diesem spanischen Boutique-Absinth, aber noch aufregender mit dem klassischen französischen Destillat an der Grenze zur Schweiz. Wenn ich es mir recht überlegte, ging einfach nichts über den guten, alten Pernod, der schon tausende Maler, Schriftsteller, Komponisten und andere Bruchpiloten des Lebens vorzeitig ins Grab geholt hatte. Und auch vor mir nicht zurückschrecken würde.

Letzte Nacht hatte ich mehrmals grundlos gekotzt und dabei den Verlauf der schmerzenden Gedärme gespürt. In meinem Verdauungsapparat herrschte Krieg, und ich fragte mich, ob mein Körper diesen Angriff auf sich selbst überstehen würde. Vielleicht würde ich auch daran sterben – was sich dramatischer anhörte, als es in Wirklichkeit war: früher oder später kratzten sowieso alle ab. Keine besondere Neuigkeit, also. Die Frage war nur wann, und dieses Wann schien näher zu kommen. Wie eine Gewitterfront, die über der nächstgelegenen Hügelkette lauerte und jeden Augenblick losbrechen konnte.

„Sie arbeiten also für die ‚Tenuta Schwartz‘?“, fragte ich, und Motta nickte so kräftig, dass seine schwarzen Locken in alle Richtungen stoben.
„Das Anwesen hat ursprünglich einem deutschen Bankier gehört. Vor einigen Jahren wurde der Betrieb von dessen Sohn übernommen, einem Immobilienmakler oder so ähnlich. Er hatte von der Landwirtschaft keine Ahnung und war vor allem an Grundstücken in historischen Stadtzentren interessiert. Halb Siena und San Gimignano hat er aufgekauft, alte Palazzi renovieren lassen, und die neu entstandenen Luxuswohnungen an Investoren aus ganz Europa verschachert. Eine traurige Existenz, wenn Sie mich fragen. Nur auf das schnelle Geld aus. Aber er hat mir freie Hand gelassen, es war ihm vollkommen egal, was bei der Weinproduktion, beim Olivenöl und bei der Chianina-Rinderzucht herauskam. Ich habe den Job gerne gemacht, aber nun wird alles bald an einen Immobilienentwickler aus Osteuropa verkauft werden.“

„Weil Sebastian Schwartz tot ist,“ antwortete ich scharf und nippte an Luigis Pyrenäen-Absinth, „er ist höchstwahrscheinlich hier in der Toskana von den eigenen Kindern umgebracht und eingeäschert worden, zusammen mit seiner Frau. Habe ich Recht oder sage ich einfach nur die dreckige Wahrheit?“

Ich blickte Motta direkt in die Augen. Der drahtige Typ in den mittleren Dreißigerjahren hielt meinem Blick stand. Er schien es gewohnt zu sein, direkt angestarrt zu werden. Konnte damit umgehen. Irgendwie schien er Bescheid zu wissen – und dann doch wieder nicht. Vielleicht bluffte er auch nur wie ein zweitklassiger Pokerspieler bei einer Texas Hold’em-Partie.

„Ich sollte Sie einfach heute Abend hier im ‚Sughero‘ treffen,“ antwortete er in einem passablen Deutsch, das er wahrscheinlich als Kellner im deutschsprachigen Ausland erlernt hatte, „ich kann es ja zugeben: Manuel Schwartz hat mir das Foto von Ihnen überreicht. Er sagte, Sie seien ohnehin aus erster Hand informiert.“

„Und – habe ich Ihnen zu viel versprochen?“, fragte ich mit zugekniffenen Augen, aber Motta zuckte nur mit den Achseln. Die Gegenwart schien ihm egal geworden zu sein. Der Betrieb, den er seit mehreren Jahren mehr oder weniger im Alleingang bewirtschaftet hatte, würde in Kürze verkauft werden, und Motta würde wieder nach Pisa zurückkehren müssen, in die kleine Wohnung, die seine mittlerweile pensionierten Eltern bewohnten. Er würde in dasselbe Zimmer einziehen, das er nach der Reifeprüfung verlassen hatte, und ein Kreis würde sich damit schließen, ohne wirklich zum Kreis geworden zu sein, allenfalls eine müde Spirale, die sich nach oben verjüngte und schließlich zerbrach. Das verdammte Leben blieb ein Rätsel, das nicht gelöst werden konnte, ein Rätsel aus Vermutungen, Hinweisen, Verästelungen und Irrwegen. Ein Labyrinth aus geraden Linien. Eine Geometrie, die nur ins Nichts führen konnte. In den neunten Höllenkreis oder – noch schlimmer – ins Licht.

„Wenn Sie möchten, kann ich Sie zur Tenuta fahren,“ murmelte Motta und klimperte mit dem Zündschlüssel. Er war mit derselben grünen Vespa gekommen, auf der auch dieser mexikanische Komponist angerauscht war: Gibran Alcocer. Ein hochtalentierter Musiker, den es tatsächlich gab. Allerdings in Mexico City. Fünfzehntausend Kilometer von der Toskana entfernt. Unter dem Sturzhelm war niemand anderer als Manuel gewesen, dieser Vorzeigestudent und mutmaßliche Doppelmörder der Eltern. War er noch immer hier in der Nähe? Sah er Motta und mir aus sicherer Entfernung zu? Plante er seinen nächsten Anschlag auf mich, nachdem der erste Mordversuch mit der brennenden Villa am Wörther See mehr oder weniger gescheitert war? Mehr, weil ich überlebt hatte, und weniger, weil trotzdem jemand in den Flammen umgekommen war: eine Leiche, die nicht mehr identifiziert werden konnte. Als ob sie nur ein Phantom gewesen wäre, eine Falsch-Namen-Fata-Morgana.

War Manuel mit seiner Schwester Kathy zusammen, unterhielten die beiden noch immer ihr inzestuöses Verhältnis, das sie auch mit ihren Eltern ausgelebt oder durchlitten oder sonst wie erduldet oder wenigstens widerstandslos hingenommen hatten? Und war etwa Philipp bei Ihnen? Welche Rolle spielte er in diesem undurchsichtigen Spiel? Wurde er als Lockvogel eingesetzt, um mich hierher an die toskanische Küste zu locken? Tippte er seine Nachrichten tatsächlich in Großbuchstaben ins Netz? Wurde er dazu gezwungen? Hielten Manuel und Kathy meinen Sohn etwa gefangen? Bedrohten Sie ihn? Wo zum Teufel steckte mein sechzehnjähriger Sohn: WO-WAR-EIGENTLICH-PHILIPP?

„Keine Ahnung,“ antwortete Motta achselzuckend, nachdem ich die Frage nach dem Verbleib meines Sohnes mit bebender Stimme gestellt hatte. Wenn mir jetzt jemand eine Brechstange in die Hand drückte, wäre Motta binnen dreißig Sekunden so tot wie eine überfahrene Wühlmaus. Zusammen mit der Belegschaft des ‚Sughero‘ und den Amateuranarchisten, die am Nebentisch gerade eine Flasche Sangiovese von der ‚Tenuta Schwartz‘ leerten. Dazu Wasabi-Erdnüsse und Kartoffelchips fraßen und über den Tod eines Rockstars, die Algorithmen einer digitalen Suchmaschine und die Partys des letzten Wochenendes schwadronierten. Gewisse Leute schienen immun gegen das Leben da draußen zu sein, wirkten wie Wiedergänger, die ihre Gräber verlassen hatten, auf einen Sangiovese in diese Weinbar stolzierten, um sich nach Mitternacht wieder zu den Würmern und Maulwürfen in der fetten toskanischen Erde zu legen.

„Venga pure,“ lächelte Motta und nickte zu seiner Vespa hinüber, „fahren wir zur Tenuta Schwartz, die in wenigen Tagen verkauft wird. Ich habe sogar einen Sturzhelm für Sie dabei, diesen grün-weiß-roten Sturzhelm hier – ich hoffe, er passt Ihnen ein bisschen.“

*

Die Fahrt auf der Vespa zur ‚Tenuta Schwartz‘ dauerte kaum 20 Minuten. An Sonnenblumenfeldern und Macchien-Sträuchern vorüber, staubigen Provinzstraßen entlang, die geradewegs ins Nichts zu führen zu schienen, das sich zwischen unscheinbaren Hügeln wie eine ferne Verheißung verbarg. Nur wenige Häuser waren zu sehen. Dafür riesige brachliegende Flächen. Eine Landschaft ohne Anrainer. Der ideale Ort, um jemanden ohne Zeugen umzubringen. In einem Ofen einzuäschern, wo sonst riesige Amphoren für die Weinproduktion gebrannt wurden. Und die beiden befüllten Urnen auf das Regal der Villa Schwartz in Castiglioncello sul Mare zu stellen. Mit der Aufschrift „Papa“ und „Mama“ versehen. Penibel beschriftet, wie Marmeladengläser, ganz wie es sich für eine bürgerliche Maskerade geziemte.

Wir hielten im Innenhof eines weißgestrichenen Gebäudes mit der Aufschrift „Tenuta Schwartz – Vini biologici e olio d’oliva di propria produzione“. Ein naturnah geführter landwirtschaftlicher Betrieb, der so gut wie emissionsfrei betrieben wurde, mit Demeter Hefen arbeitete und auch sonst der Nachhaltigkeit, dem Umweltschutz und anderen hehren Ideen geweiht war. Auf den Dächern des Gutes jede Menge Fotovoltaik, die gierig jeden Sonnenstrahl aufsog und in elektrischen Strom verwandelte, eine Art Alchemie des 21. Jahrhunderts. Im linken Trakt des Anwesens war eine Olivenölpresse untergebracht, im rechten bekam ich eine Einführung in die Produktion biologischer Weine verpasst. Ich starrte auf alte Holzpressen, moderne Gärtanks aus Edelstahl und auf jede Menge gebrauchter Tonneau-Fässer, die im rückwärtigen Teil der Cantina in ordentliche Reihen bis unter die Decke gestapelt waren. Neben einigen dort ebenfalls lagernden Amphoren. In mehr als beeindruckenden Größen.

„Wir produzieren ganze zwei Weine auf der ‚Tenuta Schwartz‘: einen hundertprozentigen Sangiovese, weil wir nur ein paar Kilometer außerhalb der offiziellen Chianti-Region sind, und einen ebenso reinsortigen Cabernet Franc, der auf die nahe Bolgheri-Gegend verweist. Mehr als zehntausend Flaschen geben die zweieinhalb Hektar Rebfläche nicht her. Unsere Kunden sind Weinbars wie Luigis ‚Sughero‘ in Castiglioncello, ein paar Osterien und Restaurants, dazu ein Dutzend Gourmandisen Läden zwischen Livorno und Grosseto, die auch unser Olivenöl beziehen, extra vergine natürlich und ausschließlich aus alten toskanischen Sorten hergestellt, die zwar einen übergroßen Kern haben, dafür aber auch sagenhaft aromatisches Fruchtfleisch vorweisen können.“

Ich nickte und betupfte den Schweiß auf meiner Stirn mit einem Stofftaschentuch, das sich langsam mit der sauren Flüssigkeit vollsog wie jener Essigschwamm, der vor mehr als 2000 Jahren einem Erlöser am Kreuz verabreicht worden war, wenigstens gewissen Legenden zufolge. Draußen war in einiger Entfernung das Blöken von Rindern zu hören.

„Unsere Chianina-Brigade“, lächelte Motta und begann von seiner fünfzig Stück starken Herde zu erzählen, die ganzjährig auf dem Weideland in der Nähe des Anwesens vor sich her graste, bis irgendwann der Fleischhauer kam, ein paar Stück davon abkaufte und noch am Anwesen mit einem Schlachtschussapparat niederstreckte.

„Mit einem … was?“, fragte ich nach und wurde ziemlich hellhörig dabei.
„Mit einem Schlachtschussapparat,“ wiederholte Motta und nickte zu einem kleineren Gebäude hinter dem Anwesen hinüber, einer Art Kapelle, die ganz in der Nähe der Viehkoppel errichtet war, nicht ganz unpraktisch, weil die nichtsahnenden Rinder glaubten, in einen kleineren Stall geführt zu werden, bevor sie mit einem Schuss in die Schläfen ausgelöscht wurden.

„Absolut tödlich“, wie Motta in bestem Deutsch ausführte. Achselzuckend. Mit ruhiger Stimme. Entweder er war der durchtriebenste Gauner, den man sich vorstellen konnte, oder er hatte wirklich von Nichts eine Ahnung.

„Manuel wollte, dass ich Ihnen den Raum zeige, also gehen wir ruhig hinein. Sie können sich gerne alles allein ansehen. Ganz wie es der junge Mann gewollt hat.“
„Wissen Sie, wo dieser Manuel steckt?“
„Bis vorgestern war er noch hier.“
„Zusammen mit einer jüngeren Frau?“
„Ja mit Kathy, seiner Schwester. Und einem etwas jüngeren Typ, der sich Filippo oder so nannte.“
„Filippo,“ rief ich entrüstet aus und spuckte direkt vor Motta auf den platt gewalzten Schotter, „Sie wissen nicht zufällig, wo dieser Junge steckt? Ungefähr 180cm groß, dünn, aber trainiert, mit kurzen braunen Haaren und riesigen blaugrauen Augen?“
„Er ist mit den anderen beiden jungen Leuten weggefahren, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Jetzt fällt mir aber ein, dass dieser Junge Ihnen geähnelt hat. Als ob Sie sein…“
„Hören Sie mal,“ unterbrach ich die Mutmaßungen meines Gegenübers scharf, „wo waren Sie über die Osterfeiertage, verdammt?“

Ich versuchte Motta wie einen Verdächtigen im Verhörraum der Kriminalpolizei zu fixieren, aber der bärtige junge Landwirt hielt auch diesmal meinem Blick stand und antwortete ganz ruhig: „In Dublin. Wo ich jedes Jahr um diese Zeit bin. Zwischen St. Patrick’s und dem Early May Bank Holiday. Anderthalb Monate Urlaub in einem Stück. Ich spiele in einer Folkband namens ‚Finnegan’s Wake‘, nach diesem Mammutroman von James Joyce benannt. In Irland kaufe ich oft Tin Whistles ein, Bodhran-Trommeln oder die eine oder andere Ukulele. Instrumente für unsere Band jedenfalls. Wir spielen ausschließlich in räudigen Pubs von La Spezia bis Grosseto hinunter. Meistens alte irische Trinklieder. Eigentlich wollte ich Schriftsteller werden. Aber daraus wird wohl nichts, wie es scheint. Mein Cousin Francesco ist dafür als Cantautore erfolgreich. Seine vier bisher erschienen Tonträger haben sich ausgezeichnet verkauft.“

„Dann wissen Sie also nicht, was hier passiert sein muss,“ setzte ich nach und sah Motta noch einmal tief in die Augen. Irgendwie war der Typ gar nicht so ungeil. Ziemlich erotisch sogar. Mit diesem Feuer in den Augen. Den Flammen der Verdammnis, der Geilheit, der Hölle. Jede Wette, dass er etwas mit Manuel gehabt hatte, und natürlich mit Kathy, vielleicht auch mit deren Eltern, mit dem toten Leopold, und vielleicht sogar mit meinem Sohn, möglicherweise. Meinem Sohn Philipp. Der sich hier bis vor kurzem als Filippo getarnt aufgehalten hatte. Zusammen mit den beiden jungen Verbrechern, die zuvor ihre Eltern hingerichtet hatten. Auf diesem Anwesen. In dem Nebengebäude dort drüben.

„Was meinen Sie damit genau?“, fragte Motta misstrauisch und schüttelte den Kopf, „hier draußen ist die totale Pampa, da passiert kaum etwas. Jedenfalls nichts, was in der Zeitung unter ‚Vermischtes‘ stehen könnte, wenn Sie so wollen. Wir leben mitten in der mediterranen Natur, in einem Biotop aus Einsamkeit und Unverfälschtheit. Erzeugen naturnahen Wein. Produzieren reinstes Olivenöl. Schlachten unsere wunderbaren Rinder – damit solvente Gourmets ihre ‚Bistecca Fiorentina‘ genießen können. In der Gastronomie. Beim Fleischhauer ihres Vertrauens. Oder bei sich zuhause. Bestes toskanisches Fleisch von gesunden dreijährigen Rindern, die ihr ganzes Leben nichts als Wiesenblumen und Kräuter fressen. Ihr Fleisch ist zart marmoriert, gerade in der richtigen Balance zwischen Fettadern und dem übrigen Gewebe. Du könntest die rohen Fleischbrocken verschlingen, so gesund sind die Rinder, deren Blöken du im Hintergrund hörst. Ich habe jetzt etwas zu erledigen. Lasse dich für einige Minuten allein. Manuel hat gesagt, du weißt, was zu tun ist. In der Stille des Schlachtraums da drüben. In einer Viertelstunde hole ich dich ab und bringe dich wieder mit der Vespa nach Castiglioncello sul Mare zurück.“

Motta stellte erneut sein zwiespältiges Grinsen zur Schau und verdrückte sich in den längsseitigen Wohntrakt des blütenweiß gestrichenen Gebäudes. Ich ahnte, dass dieser Landwirt weitaus mehr wusste als er freiwillig zugeben würde. Auch wenn er zwischen Mitte März und Anfang Mai in Irland gewesen sein mochte, Manuel und Kathy mussten ihn eingeweiht haben. Ein sensibler und aufgeweckter Typ wie Motta wäre ihnen auch von selbst auf die Schliche gekommen. Dass sich in seiner Abwesenheit etwas im Schlachtraum verändert hatte. Dass unübersehbare Spuren hinterlassen worden waren. Ich betrat den kapellenähnlichen Raum, der an eine leer geräumte Dorfkirche erinnerte, die ehemals weißen Wände waren mit vielen Rissen übersät und an zahlreichen Stellen war bereits der Verputz auf den rauen Betonboden gebröckelt.

Der Schlachtschussapparat stand weit vom Eingang entfernt, an eine dunkle Stelle gerückt, damit die Rinder nicht gleich mitbekamen, was ihnen hier widerfahren würde. Es war ein harmlos aussehender Apparat, eigentlich nur eine Art Box, in der das nichtsahnende Opfer eingesperrt wurde, den mächtigen Kopf zwischen zwei harmlosen Bolzen fixiert. Ein paar Augenblicke, in denen absolut nichts passierte. Nur das entspannte Schnauben des Rinds war zu hören. Nicht der Funke einer Ahnung, was gleich passieren würde. Ein Knopfdruck, ein mittellautes Plopp-Geräusch, und das Rind sackte zusammen. Hatte den eigenen Tod kaum mitbekommen. War stressfrei und ohne Hormonausschüttung gestorben. Genau wie die Besitzer dieser Tenuta Schwartz. Der Vater. Die Mutter. Gefesselt. Geknebelt. Mit einem schwarzen Gaffer Band vor den Augen. Vielleicht von schweren Tabletten sediert. Jenen Tabletten, mit denen früher die eigenen Kinder ruhiggestellt wurden. Randalierende Psychos in den Nervenheilanstalten. Oder eben Opfer, die Täter waren. Die Täter, die hier in dieser Kapelle ihrer Höchststrafe zugeführt wurden. Die in Wirklichkeit ein Schlachtraum war. Ich betrachtete den Steinboden. Musterte die kahlen Wände. Und dann sah ich sie. Die ausgebleichten Blutspritzer. Die dünnen Fäden des eintretenden Todes.

Sogar der Schlachtschussapparat schien nur eine weitere von Manuel und Kathy ausgelegten falschen Fährten zu sein: ihre Eltern waren misshandelt und gequält worden. Danach womöglich mit einer Machete enthauptet, denn bei der Tötung mittels Schlachtapparat gab es kaum Blut. Und wenn, tropfte es direkt in der Box zu Boden. Aber es spritzte nicht die Wände hoch. Außer, die Schlächter halfen nach. Die beiden Schlächter namens Manuel und Kathy. Die misshandelten Kinder, die ihre Eltern brutal und gnadenlos umgebracht hatten. Als späte Rache für die erlittenen Wunden. Für die tausendfach empfundene Erniedrigung. Für das Sperma in den Körperöffnungen. Für die Lust anderer, wildfremder Leute. Für das Begehren und den Wahnsinn, der das alles umgab, eine Verirrung, die sämtliche Familienmitglieder miteinander verbunden und schließlich zerstört hatte. Zuerst Leopold. Dann die Eltern. Und zuletzt…

Ich schrak hoch aus meinen Gedanken. Hatte ein Geräusch gehört. Das Geräusch einer sich öffnenden Türe. Motta war zu mir in den Schlachtraum getreten und als ich mich nach ihm umdrehte, sah ich, dass er jetzt nackt war. Ein hagerer, fast ausgemergelter Körper. Mit zahlreichen Striemen überzogen, die nur schlecht verheilt waren. Auf seinem Rücken hatte jemand ein Wort mit einem Stanleymesser eingeritzt, das italienische Wort für ‚Opfer‘. In Großbuchstaben. VITTIMA. Auf dieselbe Art und Weise geschrieben, mit der Philipp seine Chatnachrichten abgefasst hatte. Mein Sohn musste hier gewesen sein. Er war genauso so ein Opfer wie Manuel, Kathy und Leopold, ein Opfer wie Motta, ein Opfer der fernen, der toten, in ihren Begierden verstrickt gewesenen Täter. Die ihrerseits wieder Opfer gewesen waren. Ein endloses Möbiusband aus Lügen, aus Schmerzen und Leid.

*

In der darauffolgenden Nacht kamen sie wieder, die Botschaften in Großbuchstaben, klar und leuchtend wie Quallen, die in der Dunkelheit aus der Tiefe des Meeres gegen die Oberfläche meiner Wahrnehmung schwebten. Die Nachrichten erkundigten sich, ob ich alles gesehen hätte: die Dosen auf dem Regal. Mit der Beschriftung darauf. Das Anwesen der Familie Schwartz im Hinterland von Livorno. Und ob ich Motta getroffen hätte, den sympathischen Betreiber des landwirtschaftlichen Betriebes und Cousin des berühmten Songwriters Francesco Motta? Warum schickte mir mein Sohn, falls es überhaupt mein Sohn war, all diese Fragen und Botschaften? Wieso erkundigte er sich nach etwas, das wir ohnehin wussten? – Weil Manuel bei ihm war und sich mir unter dem Vollvisierhelm praktisch bis auf Tuchfühlung genähert hatte. Weil ich den Schlachtraum und dessen Wände gesehen hatte, deren eingetrocknetes Blut unmöglich von den sanft getöteten ‚Chianina‘-Rindern herrühren konnte. Und weil ich inzwischen das Geheimnis der Ziegelsteinöfen kannte, in denen nicht nur Terracotta-Töpfe oder Amphoren zur Weinlagerung gebrannt wurden – sondern auch die Leichen der getöteten Eltern eingeäschert worden waren. Ich hielt den Stand meiner Ermittlungen ebenfalls in Großbuchstaben fest, über diesen Messenger-Service an einen anonymen Account gerichtet, hinter dem sich wer auch immer verbarg: Manuel. Kathy. Mein Sohn Philipp. Alle drei. Oder doch eine ganz andere Existenz. Jemand, der mehr wusste als alle anderen Menschen. Irgendein Gott. Der Teufel höchstselbst. Oder beide zusammen in ihrer ewigen Verwesung.

Und wenn schon.

In meinen Gedärmen loderte das Feuer der Metastasen. Ich hatte auch diese Nacht wieder zum wiederholten Male erbrochen, hatte mehr Blut denn je in die Klomuschel geschissen, ich schwitzte und fror und wechselte alle paar Minuten das salznasse T-Shirt, die blutverschmierten Unterhosen und würde am nächsten Morgen den Nachtportier bitten, mein durchnässtes Bett frisch zu beziehen. Es ging zu Ende mit mir. Ich spürte es. Nahm den schwarzen Schatten wahr, der sich mir näherte. Der tatsächlich nur ein Schatten war, etwas Dunkelheit, eine kühle, amorphe Ahnung vom Nichts.

„DIR GEHT ES NICHT GUT, PAPA. HABE ICH RECHT?“

Ich starrte das Display meines Ipads an. Woher wusste das digitale Gegenüber, wie es um mich stand? Ich kniff die Augen zusammen und dechiffrierte nochmals den Inhalt der letzten Zeile. Vielleicht halluzinierte ich schon. Träumte von etwas, das unmöglich geworden war. Genau das musste es sein. Ich wollte etwas, das nicht mehr möglich war. Etwas ganz Konkretes wie eine Begegnung.

„ICH FINDE, WIR HABEN GENUG MITEINANDER GECHATTET. WIR SOLLTEN UNS TREFFEN, PAPA.“

Treffen? Wer? Philipp? Mit mir? Mein Herz begann so verrückt wie ein Geigerzähler auszuschlagen, der auf eine Goldmine, eine Wasserader, auf geheimes Uran gestoßen war – je nachdem, worauf so ein Apparat gerade eingestellt war. Ein Treffen, genau darum ging es mir – ein Treffen mit Philipp, meinem untergetauchten Sohn. Der vor mehr als zwei Wochen aus seinem Schwimm-Trainingslager bei Rom getürmt und seither unbekannten Aufenthalts war.

„Lebst du noch“, fragte ich den anonymen Account, „wo bist du – Phil? Wo zum Teufel versteckst du dich? Antworte bitte. Antworte deinem verdammten Vater.“

„MIR GEHT ES GUT.
ICH BIN GANZ IN DER NÄHE.
WIR TREFFEN UNS.
HEUTE NOCH.“

Aber wo? Und wann? Um welche Uhrzeit? Sogar wenn das Treffen in drei Minuten stattfände, würde ich am vereinbarten Treffpunkt erscheinen, sogar jetzt um halb vier, gegen Ende einer der kürzesten Nächte des Jahres. In dem Park vor dem Hotel. In dem verwilderten Grundstück daneben. Im Wohnsalon der Villa Schwartz. Über den Klippen und dem Rauschen des Tyrrhenischen Meeres.

„HEUTE ABEND“, leuchteten die nächsten beiden Wörter auf dem Bildschirm. In grün wie alle anderen Nachrichten gehalten. In den smaragdgrünen Buchstaben des mysteriösen Betreibers dieses Messenger-Dienstes. Las irgendjemand die Nachrichten mit? Dechiffrierte eine Polizeidienststelle, ein Geheimdienst, eine ferne Schurkenregierung unseren Chat? Schön langsam spürte ich eine Art Verfolgungswahn in mir aufsteigen. Dieses unheimliche Gefühl, von Unbekannten beobachtet zu werden. In welchem Auftrag auch immer.

„SAN GIMIGNANO. UNGEFÄHR 70 KILOMETER VON CASTIGLIONCELLO ENTFERNT. UM 22 UHR. NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT. OBEN IM TURM. AUF DER PLATTFORM. ICH WERDE DA SEIN.“

Ich zuckte ungläubig die Achseln, nachdem ich den Inhalt der Wörter gecheckt hatte. Dieser verdammte mittelalterliche Turm würde abends geschlossen sein. Ich brauchte keine halbe Minute, um auf Google herauszufinden, dass die Besuchszeiten von 9 bis 19.30 Uhr waren, sonntags etwas länger, aber niemals nach Einbruch der Dunkelheit. Das Ganze war nichts als ein übler Scherz, ein böses Spiel mit der väterlichen Sehnsucht, den verlorenen Sohn um jeden Preis der Welt wiederzusehen: Philipp, 16 Jahre und ein paar Monate alt. 1,80 Meter groß. Definiert. Schlank. Nicht ein Gramm Fett an seinem durchtrainierten Körper. Ein begeisterter Schwimmer, der mehrere Landesjugendrekorde aufgestellt hatte. Er war besessen vom Sport, talentierter und schneller als alle anderen Jungs in seinem Jahrgang, könnte schon bald dem nationalen Kader angehören und zum inneren Kreis österreichischer Medaillenhoffnungen bei der nächsten Europa- oder Weltmeisterschaft aufsteigen – ja, Philipp würde den bereits eingeschlagenen Pfad bis ganz hinauf furios absolvieren. Ich durfte es nicht hinnehmen, dass er über Nacht untergetaucht und wie vom Erdboden verschluckt war. Ich musste alles daransetzen, ihn zu finden. Weil er möglicherweise von einem Psychopathen beherrscht wurde. Oder von zweien. Von Kathy. Von Manuel. Verzogenen Millionärskindern, die ihre Eltern brutal umgebracht und danach in den Terracotta-Öfen verbrannt hatten. Ich hatte den Tatort, die Blutspritzer an den Wänden und die Verbrennungsanlagen gesehen. Ich konnte mir vorstellen, wie das alles abgelaufen war. Ein finaler Familienstreit in der Wörthersee-Villa. Eine heftig geführte Auseinandersetzung um den begangenen Missbrauch, das inzestuöse Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern und um den Selbstmord des jüngsten Sohns Leopold, der das ganze Chaos ausgelöst hatte. Vielleicht war es bereits in der Seevilla zu einem tätlichen Angriff auf die Eltern gekommen. Manuel und Kathy hatten höchstwahrscheinlich gemeinsam die Eltern geschlagen, betäubt und danach gefesselt ins Auto verfrachtet. Waren mit den zu Opfern mutierten Tätern in die Toskana gefahren. Zu diesem Weingut mitten in der Pampa, das leer gestanden war. Weil Motta wie immer um diese Zeit seinen Urlaub in Irland verbrachte. Ein abgeschiedener Ort im Nirgendwo des toskanischen Hinterlands, ideal gelegen, um das zu tun, was die übergroßen Lettern auf dem zerstörten Schnellboot im Holzhaus am Seeufer angekündigt hatten: „I nostri genitori devono morire“. Unsere Eltern müssen sterben. Und sie taten es auch. Wurden nach der Ankunft im Weingut in der Kapelle blutig hingerichtet und vielleicht erst einige Zeit später in den beiden Terracotta-Öfen verbrannt. Kurz danach wurde die Asche der Eltern in zwei Urnen geschippt und zur Familienvilla in Castiglioncello sul Mare gebracht. Wo ich die beiden Dosen mit der Aufschrift „Papa“ und „Mama“ gesehen hatte. Auf dem Wandregal im klassisch eingerichteten Wohnzimmer. Über einer Holzkredenz aus dem 18. Jahrhundert. Neben einer Wanduhr, die noch immer schlug. Eine Uhr, die ständig aufgezogen werden musste. Ohne menschliches Nachjustieren tickte so ein Uhrwerk aus dem 18. Jahrhundert keine zwanzig Stunden allein vor sich her. Manuel und Kathy befanden sich also noch immer in dieser Gegend. Oder waren erst vor kurzem geflohen. Gestern Abend, heute morgen vielleicht. Nachdem ich den Zugang zur Villa erhalten hatte. Von einem Typen im Sturzhelm, der angeblich ein mexikanischer Komponist und Terracotta-Töpfer war. Auf dem Klavier in der Villa war ein Notenblatt gelegen. Mit einer hübschen, noch nicht vollständig komponierten Melodie, einem angefangenen und unvollendet gebliebenen Stück namens ‚Idea 661a‘. Das Wort „Idea“ war tatsächlich von einem jungen mexikanischen Komponisten namens Gibran Alcocer für dessen elegische Klavierballaden verwendet worden, Idea plus eine niedrige zweistellige Zahl, also 10, 15, 19, 21 und so weiter. Diese vierstellige Kombination aus drei Ziffern und einem Kleinbuchstaben konnten allerdings nur drei Personen hingeschrieben haben: Kathy, Manuel oder Philipp. Mein Sohn schied als Komponist aus. Kathy hatte eher im Staatsopernballett getanzt und großformatige Bilder gemalt, aber Manuel hatte Violine gespielt. Ich hatte die Audioaufzeichnungen vom USB-Stick abgehört, den ich in Leopolds Grab gefunden hatte. Der junge Mann konnte sogar ausgezeichnet Violine spielen. Und beherrschte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Klavier. War auf dem Notenblatt etwa eine Eigenkomposition gestanden, Manuels persönliche „Idea“? Seine melancholische Ahnung und Vorstellung von diesem 661a-Autobahnzubringer beim Offenbacher Kreuz, wo es diesen Parkplatz gab, den abends irgendwelche Familien aufsuchten, um Missbrauch an ihren Kindern zu begehen und diese Verbrechen auf Filmen festzuhalten – nur um der eigenen Befriedigung willen: gegen Nichts eigentlich. Gegen ein Nichts, das Leben zerstörte. Das Leben der eigenen Kinder. Und – wie es aussah – auch das eigene Leben. Das angeblich so makellose Leben der Eltern Mag. Sebastian und Dr. Lucrezia Schwartz. Er Immobilienentwickler. Sie Ärztin. Beide in ihren Berufen mehr als erfolgreich. Ein distinguiertes Ehepaar, das ein luxuriöses Penthouse über den Dächern der österreichischen Bundeshauptstadt bewohnt hatte, einen makellos eingerichteten Ort, in dem die furchtbarsten Dinge geschahen waren. Über mehr als drei Jahre hinweg.

Ich schrak aus meinen Vermutungen hoch. Starrte auf das Display des aufgeklappten IPads. Auf das funkelnde Grün des Bildschirms.

„HEUTE ABEND. 22 UHR. AUF DEM ‚TORRE ROGNOSA‘ DI SAN GIMIGNANO. KEINE SORGE – ER WIRD GEÖFFNET SEIN, EGAL WAS DIE OFFIZIELLEN ÖFFNUNGSZEITEN BEHAUPTEN. ICH WERDE OBEN AUF DICH WARTEN. WIE ICH MEIN GANZES LEBEN AUF DICH GEWARTET HABE. VOLLER SEHNSUCHT. ICH. DEIN SOHN. PHILIPP.“

*

Ich parkte den Wagen auf dem Parkplatz ‚Giubileo P1‘ vor dem östlichen Stadttor von San Gimignano, einer Kleinstadt, die bereits von den Etruskern gegründet wurde und daher um einiges älter als viele andere italienische Marktflecken war. Die Straße vom Stadttor zur Piazza mit dem ‚Rognosa-Turm‘ war von roten Fahnen und bereits geschlossenen Andenkenläden gesäumt, nur die eine oder andere Weinbar hatte noch offen, in denen ältere Einheimische das letzte Glas Vernaccia leerten. Bevor auch hier die Lichter gelöscht wurden und San Gimignano sich selbst überlassen war. Seiner einzigartigen Geschichte. Seiner übermächtigen Vergangenheit, die seit Jahrhunderten wie eine finstere Wolkenbank über den blassroten Ziegelsteinen dieser Stadt schwebte.

Natürlich hatte der ‚Torre Rognosa‘ längst geschlossen. Der mittelalterliche Laden machte auch im Sommer schon um 19.30 Uhr dicht. Ich sah auf meine Armbanduhr, dessen Zeiger sich auf zehn Uhr zubewegten. Zweieinhalb Stunden nach Betriebsschluss. Keine Menschenseele war rund um die steinalte Sehenswürdigkeit zu sehen, nur ab und zu passierte eine Vespa laut knatternd die mittelalterliche Piazza. Das Teenagerpärchen darauf suchte wohl nach einer Nische, um dort unbemerkt das zu tun, was junge Leute an einem lauen Sommerabend so vorhatten. Wenige Minuten später würde nur noch ein zerknülltes Taschentuch oder eine geleerte Weißweinflasche an das kurze Intermezzo unter dem mittelalterlichen Gemäuer erinnern. Ich seufzte. Zuckte die Achseln. Griff nach dem Flachmann in meinem Sakko. Trank einen Schluck vom guten, alten Pernod. Wenn schon niemand anderer auftauchte, die grüne Fee kam zuverlässig zu mir. Lullte mich ein. Raunte mir dunkle Verheißungen ins Ohr. Ließ irgendwann doch von mir ab. Und rächte sich am nächsten Tag mit einer ordentlichen Portion Kopfweh, Gliederschmerzen, etwas Übelkeit und ziemlich viel Melancholie.

Wer immer mich hierher zitiert hatte, das Rendezvous dort oben am Turm würde nicht stattfinden. Die schwere Eingangspforte aus dem 14. Jahrhundert – in jener Zeit war der ‚Turm der Geplagten‘ angeblich ein Gefängnis gewesen – blieb verschlossen. Ich rüttelte daran. Pochte mit zitternden Fingern gegen das dunkle Eichenholz. Hörte ins Innere des Gebäudes hinein. Nichts. Kein Geräusch war zu hören. Oder doch? Ich stutzte. Kniff die Augen zusammen. Konzentrierte mich auf die schlurfenden Geräusche hinter der Türe. Ein kurzes Klicken im Schloss, dann wich die gewaltige Pforte mit einem schaurigen Knarren zur Seite. Ich trat ein. In die Dunkelheit des baufällig wirkenden Turms. Alles hier drinnen war alt. Sogar der Typ, der mich eingelassen hatte: ein verhutzeltes Männchen am Rande des Todes. Beinahe schon aus der Welt gestorben. Aber irgendwie immer noch da.

„Sie werden oben erwartet.“

In einem deutschen Tonfall, der aus längst vergangener Zeit stammte.

„Was Sie nicht sagen. Von wem?“, fragte ich hämisch zurück, aber das Männchen schlich sich wortlos zur Piazza hinaus und ließ die Tür einen Spalt offen. Nach ungefähr dreißig Sekunden ging das Licht an. Kaltes, postmodernes Weißlicht aus einer Vielzahl von LED-Leuchtmitteln, die mich eintretenden Touristen in das Turminnere lotsten, die ganzen 54 Meter hinauf zu einer Plattform, die von einer niedrigen Steinmauer begrenzt war. Ich beugte mich etwas über die niedrige Steinwand und sah auf das nächtliche San Gimignano hinunter. Einige wenige Kirchen wurden Scheinwerfern angestrahlt, und in manchen Häusern brannte noch Licht, schimmerten die im Fernsehen übertragenen Bilder eines Fußballspiels, war die Arie einer Puccini-Oper aus einem geöffneten Fenster zu hören. Die Kleinstadt lag wie aufgebahrt da. Wie ein Leichnam, der aus über 7000 lebenden Einwohnern bestand. Aus hunderten Gebäuden. Einem Dutzend Kirchen. Und Geschlechtertürmen wie diesem, auf dessen Plattform sich niemand befand. Außer ich. Wie ich glaubte. Aber dem war nicht so. Ich befand mich nicht allein hier oben. Wenige Meter vor mir löste sich ein schmaler Schatten aus dem Gemäuer, wie ein Geist. Ein Mädchen. Oder ein Gespenst, das Frauenkleider anhatte. Ein knallrotes Latexkleid. Kurz und tailliert. Mit einem breiten schwarzen Gürtel um die enge Taille. Hohe High Heels. Und dünne Strümpfe mit schwarzen Rosen bestickt. Das Gesicht war kantig und von weißer Schminke entstellt. Die grellroten Lippen wirkten brüchig, fragil. Lange dunkelbraune Haare fielen der jungen Frau tief in die Stirn. Die trotz der Dunkelheit eine riesige schwarze Sonnenbrille trug, die beinahe die gesamte obere Gesichtshälfte bedeckte.

„Kathy?“ fragte ich leise.
Kopfschütteln.
„Manuel?“
Das helle Auflachen einer kiesigen Stimme, die ich nur allzu gut kannte.
„Papa, ich bin’s. Phil. Nur in einem anderen – Style.“

Mir fielen beinahe beide Augen aus dem Kopf. Mein Herz begann heftig zu schlagen, und ich ballte unwillkürlich beide Hände zur Faust. Vor Erstaunen, vor Ohnmacht und einer Riesenportion väterlicher Wut.

„Warum zum Teufel hast du dich als Mädchen…“, ich suchte nach dem passenden Wort und fand es in der Aufregung nicht. Mein Herz raste wie ein Porsche auf der Flucht vor einer Polizeistreife dahin, der Schweiß tropfte in sauren Perlen von der Stirn, und in meiner Bauchhöhle lärmten die Metastasen.

„Ich bin nicht verkleidet, Papa. Ich fühle mich so. Ich bin jetzt ein Mädchen. Eine junge Frau. Ich möchte endlich jemand anderer sein als dieser lächerliche Junge, der ich noch bis vor ein paar Wochen war.“
„Du warst ein Leistungsschwimmer. Der beste Schüler in seinem Jahrgang. Der Liebling im Klassenzimmer. Sogar stellvertretender Schulsprecher. Du hättest jedes Mädchen, das dir begegnet wäre, haben können. Du…“
„Ich möchte das alles nicht, Papa. Ich war mit dieser Familie zusammen. Ich war Leopolds Freund und dessen Liebhaber. Und ich habe in dieselben Abgründe geschaut. Ich habe in den Klokabinen des Meiselmarkts herumgemacht, habe seltsame Typen im Auer-von-Welsbach-Park heimlich getroffen, war in der riesigen Dachgeschosswohnung der Schwartz-Familie und habe es dort mit allen möglichen Leuten getrieben. Sogar du hast mich einmal getroffen, erinnerst du dich nicht an diese Begegnung im Wald, dort unten am Wörthersee, hinter der Villa am Seeufer, einen schmalen Pfad den Wald hinauf, zu dieser Lichtung, wo sich abends die Männer der Umgebung trafen, diese Männer und wir, Leopold, Manuel, ich und – du, Tony. Das war doch dein Spitzname, oder? Tony. Der Tony aus Wien. Mit -y, als ob das etwas Besonderes wäre. Du hast es mit mir genauso selbstverständlich wie mit all den anderen Leuten gemacht.“
„NEIN!“ In Großbuchstaben mit Ausrufezeichen.
Das Mädchen zog sich die High Heels aus, nahm die Perücke ab und warf die Sonnenbrille zu Boden. Plötzlich stand wieder mein Junge vor mir. Philipp. Geschminkt. In einem roten Latexkleid. In Strapsen und Mieder. Als junge Frau. Und dennoch als Junge. Oder als irgendetwas dazwischen.
„Es war schön hier gewesen zu sein.“
„Was zum Teufel meinst du damit?“

Ich schüttelte den Kopf und wollte nicht wahrhaben, was gerade vor meinen Augen passierte. Mein Sohn stieg im enganliegenden Latexkleid auf die Steinmauer, setzte sich wieder, baumelte mit den Beinen in die dunkle Tiefe hinunter, sah zu mir herüber, mit Tränen in den Augen, diesen dicken Tränen endgültiger Trauer. Den Tränen eines Opfers, das sich gerade anschickte, in die Tiefe zu stürzen. In die Dunkelheit, in den Tod, in die Stille hinein.
„WAS MACHST DU DA?“ Ich, in Großbuchstaben und fett gedruckt.
„Das, was ich tun muss.“
„NEIN!!!!!!!!!!!“
„Du kannst mich nicht aufhalten, Tony. Niemand kann das.“
„WAS REDEST DU DA, PHILIP? DAS GANZE LEBEN LIEGT VOR DIR, HÖRST DU…“
„es-ist-vorbei-papa“

Ganz leise, wie zerbrochen die Stimme. Philipps Stimme. Die Stimme meines einzigen Sohnes. Der sich plötzlich umdrehte, nach vor kippte und –

„NEIN.DAS.DARFST.DU.NICHT.TUN.NICHT.DAS.WAS.LEOPOLD.GEMACHT.HAT.PHILIPP!“

Binnen Sekundenbruchteilen war ich bei ihm. An der Steinmauer. Erwischte noch seine Hand. Hielt sie fest. Spürte das Gewicht des in der Nachtluft zappelnden Jungen. Seine ganzen 62 Kilo. Diesen Körper, der wie ein Fisch an einem winzigen Haken baumelte und um Atem rang.

„LASS MICH LOS, TONY. LASS MICH FALLEN. ICH HABE KEINE LUST MEHR. ICH MÖCHTE ALLES HINTER MICH LASSEN.“
„nein-ich-kann-es-nicht-darf-es-nicht-zulassen-ich…“

Dieses Gewicht an meinem rechten Arm, der baumelnde schlaksige Körper, diese Tränen im Gesicht, Tränen, die Phils grell geschminkte Maske aufweichten. Die Lidschatten zerflossen zu schwarzen Bahnen auf den eingefallenen Wangen, ich sah in ein Gesicht aus purer Verzweiflung. Diese Angst vor der Angst vor vor dem – nein, ich durfte das nicht hinnehmen, schluckte und spürte, wie langsam die Kraft aus meinem Arm wich.

Ein Biss. Ein letzter Biss wie von einer Schlange in meine Hand. So tief wie verzweifelt. Ein Biss, der mich vor Schmerz aufschreien und nachgeben ließ. Der entsetzte Blick auf das hervorquellende Blut, der Druck meiner Hand wurde schwächer, und das Gesicht, der Körper, Phillips einzigartiges Leben verschwand mit einem letzten Aufschrei in der Tiefe der gerade einbrechenden Nacht.

Sekunden später der Aufprall.
Die Stille.
Die ersten Schritte und Hilferufe herbeieilender Passanten. Ihre entsetzten Blicke zu dieser Plattform herauf. Zu mir.

Ich hielt meine blutende Hand. Starrte in die Tiefe. Sah den gekrümmten Körper des toten Jungen auf dem Pflaster. Ich hatte verloren. Hatte aufgegeben. Hatte Philipp gehen lassen. Ich hatte versagt und war dazu verurteilt, vorläufig noch unter den lebenden Toten zu bleiben. ♦

Epilog – Meer der Stille ...

Es war nicht leicht gewesen, den Carabinieri der ‚Questura di Siena‘ Rede und Antwort zu stehen. Ihre stundenlangen, bohrenden Fragen zu beantworten, das Ergebnis der Obduktion abzuwarten und in der Zwischenzeit mit mehr als nur einem Fuß im Gefängnis zu stehen. Und einige Tage später, nachdem alles geklärt und der Leichnam freigegeben war, die 850 Kilometer vom Bestattungsunternehmen ‚Guarducci&Bernini‘ in Colle Val d’Elsa nach Wien zurückzufahren, einem italienischen Leichenwagen hinterher, der die sterblichen Überreste meines Sohnes nach Österreich überbrachte. Nicht eine müde Sekunde hatte ich die verdammte Rückfront des schwarzen Wagens aus den Augen gelassen und mir die ganze Zeit über vorgestellt, wie Philipp als kleiner Junge die Rückbank des schwarzen Mercedes emporgekrabbelt wäre, um mir lächelnd zuzusehen, wie ich in viel zu kurzem Abstand hinterherfuhr, eine Moods im Mundwinkel, den Flachmann mit dem Pernod in der Hand, schlecht rasiert, mit bleichem Gesicht im Rückspiegel – wie der Tod selbst. Ich hatte tatsächlich das Gefühl gehabt, ein kleiner Junge würde da vorne lächelnd aus dem Leichenwagen schauen und seinem Vater zuwinken, mein Philipp im Volksschulalter, als er gerade mit dem Schwimmen begonnen hatte, das zu seiner großen Leidenschaft werden würde. All die Jahre hatte ich mich viel zu wenig um den Jungen gekümmert, war stattdessen in Saunen und Darkrooms gewesen, hatte meine kleine Familie außen vorgelassen und mich lieber meiner Lust hingegeben, mit anonymen Leuten, in finsteren Räumen ohne jede Bedeutung.

Es war auch nicht leicht gewesen, in Wien meine Exfrau in die Arme zu nehmen, gemeinsam mit ihr in der wie leer geräumt wirkenden Wohnung im fünfzehnten Bezirk zu stehen und Philipps Zimmer zu betrachten, seinen Schulrucksack, die getragenen Sneakers, die T-Shirts und Jeans, die Hemden, Unterhosen und Socken, all die Kleidung, die nur noch auf einen Toten verwies. Auf unseren Philipp. Der nicht wiederkehren würde. Nie mehr.

Wir suchten nach passenden Wörtern und fanden doch nur die falschen, glaubten uns mit einer Flasche Wein und alten Folksongs trösten zu können, wir spielten gemeinsam jene Lieder auf einer verstimmten Gitarre, von denen wir beide glaubten, sie wären die Lieblingslieder unseres Sohnes gewesen, und irgendwann gegen drei oder vier Uhr früh gab es keinen Trost mehr, keine rettenden Worte, keinen Schlaf, keine Ruhe, nur diese vorwurfsvollen, stummen Blicke aus schlimm entzündeten Augen.

Wir hatten uns auseinandergelebt, Agnes und ich, wir waren geschieden, hatten unterschiedliche Richtungen eingeschlagen, sie als esoterische Buchhändlerin, ich als verkrachter Privatdetektiv, der sich mit halbseidenen Observationen einigermaßen über Wasser hielt. Ein Geschäftsmodell, dass infolge leicht erhältlicher Spyware und toxischer Künstlicher Intelligenz mehr als bedroht war. Der Auftrag des anonymen Bankiers war gerade zur rechten Zeit gekommen, und jetzt – nur wenige Wochen später – war das Schicksal der Eltern geklärt und die zwei Kinder befanden sich auf der Flucht. Vor sich selbst. Vor den Konsequenzen. Vor den Trümmern ihres eigenen Lebens.

Es war noch schwerer gewesen, einige Kleidungsstücke von Philipp – schwarze Jeans, ein dunkles Hemd, die rotblaue Badehose, das einzige Sockenpaar ohne Löcher und die schwarzen Lackschuhe in Größe 44 – zur Leichenhalle zu bringen, mit dem mürrischen Angestellten im dunkelgrauen Anzug auf eine geöffnete Kühllade zu starren, auf den schwarzen Sack, der die Leiche meines Sohnes enthielt: diesen perfekten Körper, eins achtzig groß, durchtrainiert, schlank, eine Statue, wie von einem großartigen Bildhauer aus einem Stück weißen Marmor geschlagen, in hunderten Stunden konzentrierter Arbeit. Eine Statue aus zerbrochenen Träumen. Aus einem vorzeitig beendeten Leben. Ich hatte Philipp nicht von seinem Vorhaben abhalten können. Hatte noch versucht, seinen Arm zu halten, hatte ihn wieder hoch an die Steinmauer der Plattform zu hieven begonnen, bevor ein Biss mein vielleicht halbherziges Unterfangen zerstörte, und ich Philipp in die Dunkelheit stürzen sah, in die Dunkelheit einer ewigen Lüge: des Todes. Ich verfolgte, wie der Bestattungsangestellte die Leiche entkleidete, warf einen letzten Blick auf den Penis, die Hoden, die Oberschenkel des Sohnes und sah zu, wie der Mann die rotblaue Badehose über Philipps steif gewordene Lenden platzierte. Mich dabei anschaute. Und zum nächsten Kleidungsstück griff.

„Nur die Badehose,“ sagte ich plötzlich in die Stille hinein, „ich finde, Philipp sollte einfach in der Badehose bestattet werden, als Leistungsschwimmer, der er tatsächlich war,“ flüsterte ich und hob gemeinsam mit dem Beamten den kalten Körper meines Sohnes in den bereitgestellten Sarg, den teuersten, die ich hatte auftreiben können: ein protzig lackiertes Erdmöbel aus französischem Eichenholz, mit feinem Tuch gepolstert, damit es der Tote bequem haben würde. Was für ein Unsinn. Philipp brauchte keine Annehmlichkeiten mehr – er war tot. Rührte sich nicht. In seiner wie erfroren wirkenden Gestalt hatte der Verwesungsprozess eingesetzt, in wenigen Monaten würde dieser perfekte Körper, diese Statue, zerfallen sein, zu dem, was man gemeinhin als menschliche Überreste bezeichnete, und später zu grauem Pulver, zu Staub. Nichts konnte diesen Prozess aufhalten, weder noch so berührende Wörter geschweige denn der teuerste Sarg.

Es war beinahe unerträglich gewesen, Philipp an einem heißen Sommertag auf dem Friedhof Süd-West zu bestatten, irgendwo in Liesing, am südwestlichen Stadtrand von Wien. In der Reihe 35, Platz 19, im Teil 3 des weitläufigen Areals. Ein paar Schulkameraden, sein Klassenvorstand Drimmel und Freunde aus dem Schwimmverein waren gekommen, alle betroffen und bleich und vollkommen ahnungslos, was mit Philipp tatsächlich passiert war. Dass er in einem roten Latexkleid, in High Heels und Strapsen auf dieser Plattform des ‚Torre Rognosa‘ gestanden war, sich mit mir gestritten, mich dabei vorwurfsvoll angeschaut und sich zuletzt in die Tiefe gestürzt hatte, von diesem tausend Jahre alten Turm – seinem einzigen wirklichen Freund Leopold hinterher, der vom Wiener Ringturm-Hochhaus in den Tod gestürzt war, derselbe erzwungene Tod.

Die Schüler, Trainer und Lehrer, ein paar Verwandte und schließlich Agnes und ich warfen unsere Rosen in die offene Grube, und dann prasselte graue, ausgetrocknete Erde unglaublich laut auf den Sarg, und die Trauergemeinde zerstreute sich wieder in ihr Leben hinein, in dem vieles anders werden würde als es bisher gewesen war.

Wortlos fuhr ich Agnes in ihre Wohnung zurück, verabschiedete mich unten an der Eingangstüre und fuhr mit dem Mercedes G4 zu einem Gebrauchtwagenhändler, den ich bat, den eben erst erstandenen Wagen zu welchem Preis auch immer zu übernehmen. Ich wollte diesen aufgemotzten Straßenkoloss nicht mehr. Den Wagen, den ich mit der Kohle des geheimnisvollen Bankiers gekauft hatte. Eines Bankiers, der niemand anderer gewesen sein konnte als – Manuel. Manuel Schwartz. Vorzeigestudent. Bildhübsch. Hoch intelligent. Zuvorkommend. Höflich. Aber in seinem Inneren von jahrelangem Missbrauch verunstaltet, zerstört. Hinter dem perfekten Körper, seinem bezaubernden Lächeln, den blütenweißen Zähnen und den üppigen Lippen, hinter diesem betörenden Aussehen steckte empathieloser Wahnsinn, ungezügeltes Begehren und eine gestaltlose Lust, die sich ständig potenzierte und im Laufe der Zeit immer mehr Menschen erfasste: Kathy. Lisa. Philipp. Leopold. Und wahrscheinlich noch viele weitere, mir unbekannt gebliebene Menschen, die für den Studenten nur Körper gewesen, zerbrechliche Statuen, kaputt gemachtes Spielzeug ohne Namen, ohne Sinn, ohne jede Bedeutung.

Es war zermürbend gewesen, tagelang in meiner versifften Wohnung zu sitzen, ein Zigarillo-Päckchen um das andere zu vernichten, ein paar Flaschen Pernod zu leeren und mit zusammengebissenen Zähnen die Schmerzen in der Magengegend durchzustehen. Die Befunde der viel zu spät aufgesuchten Ärzte waren eindeutig: Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Ein oder zwei Monate Lebenszeit noch, maximal drei. Meine Zeit war abgelaufen. Ich hatte nichts erreicht. Außer dass ich meine eigene kleine Familie zerstört hatte. Und nicht nur meine Familie. Auch mich selbst. Mein eigenes bedeutungslos gewordenes Leben.

*

 

Irgendwann schrak ich aus meinem seichten Schlaf hoch. Getrieben von dem plötzlich aufgetauchten Gedanken, wo sich die beiden Kinder der Familie Schwartz versteckt halten mussten: am äußersten Rande Europas. Auf den Azoren, auf Terceira wahrscheinlich, wo ihre Mutter aufgewachsen war, und noch andere Verwandte leben mussten, weit draußen auf dem mittelatlantischen Rücken, auf halbem Weg zwischen Lissabon und New York.

Ich lachte und weinte und tippte mir auf die Stirn und war sicher, dass nur diese entlegene Insel der einzig verbliebene Fluchtort für Kathy und Manuel sein konnte. Terceira. Auf den Azoren. Ich buchte die Flugtickets, stopfte einige Wäschestücke in den silberfarbenen Trolley und ließ mich in einem Taxi am nächsten Morgen zum Flughafen bringen, bestieg die Maschine nach Lissabon und verbrachte einen Tag und die darauffolgende Nacht in der portugiesischen Hauptstadt. Lief ruhelos die ‚Avenida da Liberdade‘ auf und ab, besuchte ein paar Cocktailbars im ‚Bairro Alto‘ und ‚Principe Real‘, aß gegen Mitternacht ein paar Krustentiere und kotzte wenig später in meinem Hotelzimmer alles wieder heraus. Schluckte starke Tabletten gegen die rasenden Schmerzen in der Bauchhöhle, sah schweißüberströmt von meinem Balkon auf die pulsierende Stadt, hörte die Stimmen der Menschen, das Hupen der Autos, nahm die Flüche und Schreie und das heftige Lachen wahr, ferne Lebenszeichen, die mich zu gleichen Teilen mit Schmerz und mit Freude erfassten.

Gegen Mittag des nächsten Tages landete ich auf Terceira. Quartierte mich in einem Hotel über dem Hafen ein. Und begann den Einwohnern einer Stadt namens Angra do Heroismo die Fotos der getöteten Gynäkologin zu zeigen. Es dauerte keine zwei Stunden, bis ich ihren Bruder, einen hageren Restaurantbesitzer im Hafen der Kleinstadt ausfindig machte, Anfang fünfzig, nicht unsympathisch, mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Lippen, das von einem Hollywoodschauspieler stammen könnte, etwas anzüglich und doch charmant, unwiderstehlich, mit einer Brise Erotik darin. Er schien kaum überrascht zu sein, dass ich ihn aufgesucht hatte, zuckte die Achseln, nachdem er einen Blick auf das Foto seiner Schwester geworfen hatte und kniff die Augen angestrengt zusammen.

„Es wundert mich nicht, dass die hier etwas schiefgelaufen ist, mein Lieber: die Ehe meiner Schwester ist nicht glücklich gewesen. Lucrezia hatte Frauen bevorzugt und während des Studiums in Lissabon auch einige intime Freundinnen gehabt. Diesen Sebastian Schwartz hat sie nur geheiratet, um mit seiner Unterstützung an den prestigereicheren Fakultäten in Paris, London und den USA Gynäkologie zu studieren. Deswegen ist sie auch bei ihm geblieben. Über die Jahre. Unter den bekannten Umständen.“
„Sie haben doch drei Kinder miteinander gehabt,“ wagte ich einzuwerfen, „und waren mehr als zwei Jahrzehnte miteinander verheiratet. Sie schienen auf eine lange Zeit glücklich gewesen zu sein.“
„Ein paar Aufnahmen oder Videoclips besagen gar nichts oder sehr wenig,“ antwortete der Restaurantbesitzer und sah an mir vorbei Richtung Hafen hinaus, „man kann Jahrzehnte in einer Ehe zubringen und dabei das Gefühl haben, im falschen Leben gelandet zu sein. Bei Lucrezia war es zumindest so. Aber wir haben nicht besonders viel Kontakt zueinander gehabt. Haben uns in all den Jahren nur wenige Male gesehen.“
„Und Sie wissen nicht, was in den letzten Wochen und Monaten mit dieser Familie passiert ist?“
„Ich weiß nur von schwelenden Konflikten zwischen allen Familienmitgliedern, vor allem seit…“
„…dem Selbstmord des jüngsten Sohnes.“
„Sie wissen viel,“ erwiderte der Restaurantbesitzer und fragte mich, ob ich etwas trinken wollte. Seine Einladung. Kaffee, grünen Tee oder…
„Wenn schon etwas Grünes, dann ein Gläschen Absinth,“ lächelte ich und nickte zum Flaschenarsenal hinter dem Bartresen hinüber.

Der Restaurantbesitzer lächelte wie ein Filmschauspieler kurz vor der entscheidenden Wende in einem melodramatischen Film, gab einem jungen Kellner ein paar Anweisungen in portugiesischer Sprache und goss wenige Minuten später aus einer langgezogenen Flasche mit einem Feuer speienden Vulkan auf dem Etikett etwas ölig grüne Flüssigkeit in ein mit Eiswürfeln gefülltes Limonadenglas. Der ‚Louche-Effekt‘ verwandelte den Absinth in jenes schleimige Algengrün, mit dem ich die letzten dreißig Jahre meines Lebens verbracht hatte.

„Es ist schlecht ausgegangen, oder?“ fragte der Restaurantbesitzer leise, nachdem wir einander zugeprostet und einen ersten belebenden Schluck Absinth zu uns genommen hatten.
„Ich fürchte ja,“ antwortete ich ebenso leise und erwartete die nächste Frage des verkappten Filmschauspielers, aber der Bruder der ermordeten Ärztin Dr. Lucrezia Schwartz wechselte das Thema und erzählte mir in seinem passablen Englisch, dass er neben ein paar gastronomischen Betrieben auch diesen alten Leuchtturm am westlichen Ende Terceiras besaß, von der örtlichen Behörde um einen Bettel abgekauft, weil einige Kilometer weiter ein neuer, höherer, modern eingerichteter Turm erbaut worden war. Vollautomatisiert. Digital. Wie das 21. Jahrhundert so war.

„Es gibt eine nette kleine Wohnung darin, mit wunderbarer Aussicht auf den Atlantik hinaus, der alte Leuchtturm liegt auf einer felsigen Anhöhe, man hört das Rauschen des Meeres, das Schlagen der Wellen, die Schreie der Möwen. Es ist ruhig und dramatisch zugleich da draußen, und…“
„…Kathy und Manuel sind dort,“ fügte ich leise hinzu. Wartete das Nicken ihres Onkels erst gar nicht ab und leerte meinen Absinth.

„Sie sind erst vor wenigen Tagen angereist,“ antwortete der Restaurantbesitzer, schob mir den Zündschlüssel zu seinem Lieferwagen zu und erklärte mir die Route auf die andere Seite der Insel hinüber, „Sie können gern mit meinem Van zum Leuchtturm fahren, mein Lieber. Die Fahrt dauert kaum 20 Minuten. Die beiden Kinder meiner Schwester werden dort sein. Junge, vielversprechende und sehr hübsche Leute. Auch wenn sie mir diesmal etwas verloren und beunruhigt vorkamen, ich habe mir nicht so viel dabei gedacht, außer, dass die Jugend heutzutage nun einmal so ist, voller Brüche und Abgründe, voller Ängste und Träume, voll Sehnsucht und Trauer, voller Begierden und Lust, ein wogendes Meer aus Höhen und Tiefen, ein Orkan, eine Sturmflut – und dann wieder endlose Flaute. Absolute Stille. Mit dem Traum von einer Sache vor den Augen. Und diesem unendlichen Willen zu leben. Zu siegen. Auch wenn man dabei – über Leichen geht. Nehmen Sie ruhig meinen alten Kombi und fahren Sie zum Leuchtturm hinüber. Richten Sie den beiden einen schönen Gruß von mir aus. Und dass sie sich bei mir wieder anschauen lassen. Zuviel Einsamkeit in abgeschiedenen Leuchttürmen tut niemandem gut. Nicht einmal so wunderbaren, jungen Leuten.“

Ich nahm den Autoschlüssel, bedankte mich und fuhr mit dem alten Golf dem Leuchtturm entgegen. An üppig grünen Feldern und Wiesen vorbei, an Rinder- und Schafherden, an einsamen Bauernhöfen und wenigen sehr kleinen Dörfern. Noch bevor ich mich an die abgeschiedene ländliche Umgebung gewöhnt hatte, erreichte ich das westliche Ende der Insel, stellte den Wagen auf einem winzigen Parkplatz ab und näherte mich dem alten Leuchtturm auf der Anhöhe. Ein heftiger Wind zerrte an meinem Trenchcoat, strich durch das schütter gewordene Haar und störte den unsicheren Gang meiner Schritte, etwas Regen fiel aus einem wolkenzerklüfteten Himmel herab, als wollte mich das Wetter von meinem Vorhaben abhalten, den alten Leuchtturm am Rande Terceiras zu erreichen. Die angelehnte Eingangstüre zu öffnen. Und der engen Wendeltreppe hinauf in die kleine Wohnung zu folgen. In leisen, vorsichtigen Schritten. Mit rasendem Herzschlag. Und dieser Gewissheit vor Augen. Noch zwanzig Stufen bis zur Stube früherer Leuchtturmwächter, noch fünfzehn, noch zehn. Eine unscheinbare Holztüre trennte mich von einem letzten Geheimnis. Wer würde hinter der dieser Tür auf mich lauern? Manuel? Kathy? Alle beide? Mit gezogener Waffe, weil sie nichts mehr zu verlieren hatten? Wenn die beiden ein finales Massaker planten, war ich geliefert: allein gegen zwei unberechenbare junge Menschen, die ihre Eltern getötet und eingeäschert hatten. Denen alles egal sein konnte. Sie hatten Menschen umgebracht und sie würden es wieder tun. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich griff nach dem Revolver, den ich in einem alten Waffenladen in Angra do Heroismo erstanden hatte: einem massiven Vintage-Ding mit ziemlich großem Kaliber. Der uralte Ladenbesitzer hatte keine Fragen gestellt und wollte nicht einmal einen Ausweis sehen. Projektile aus dieser Waffe mussten ihre Ziele zerfetzen. Kurz vor der geschlossenen Holztüre zum Turmzimmer blieb ich stehen. Atmete ein paar Mal ruhig durch und griff in die Manteltasche, holte den vertrauten Flachmann hervor und leerte die kleine Brustflasche mit den letzten Schlucken Pernod. Strich mit der Handfläche über die aufgesprungenen Lippen und stieß die verdammte Holztüre auf. Kniff die Augen zusammen – und riss sie danach wieder auf.

Eine junge Frau saß vor einer Staffelei und malte. Malte an einer ausgestreckten Hand, die vor Blut troff. Gegen die weiß getünchten Wände waren einige fertiggestellte Bilder gelehnt, die allesamt Hände, Arme und Beine darstellten, die blutunterlaufenen Körperteile der Opfer und die glatten, perfekt geformten Extremitäten der Täter.

„Ich habe meinen Bruder gestern von der Klippe gestoßen. Ich habe sein zynisches Jammern nicht mehr ertragen können – und musste ihn töten,“ sagte die junge Frau leise, sah mich einen Augenblick an und begann weiter an der unvollendeten Hand vor ihr zu malen, an dieser dünnen, blutverschmierten Kinderhand, die nur ein winziger Ausschnitt erlittener Wirklichkeit war.

„Es ist mir nicht einmal schwergefallen, Manuel dem Rauschen des Meeres zu übergeben. Ein kurzer Stoß, ein Aufschrei, sein entsetzter Blick – und Sekunden später war alles vorbei. Die Leiche ist noch stundenlang auf einem Felsvorsprung gelegen. Bevor die Flut gekommen ist und seinen Körper mit in Tiefe gerissen hat.“

Kathy vollendete die blassroten, dünnen Adern der Kinderhand, legte den Pinsel zur Seite und überprüfte die gezogenen Linien auf dem Gemälde.

„Ich wusste, dass Sie kommen würden, Tony,“ setzte sie fort und rührte mit dem nächsten Pinsel einen rotbraun schimmernden Acrylfarbenrest zurecht, „und ich war mir sicher, dass Sie bewaffnet sein würden. Sie sind gewissen Informationen und Ihrem Instinkt gefolgt. Und werden jetzt tun, was Sie glauben, unbedingt machen zu müssen.“

Kathy lächelte, strich eine lange dunkelbraune Haarsträhne aus ihrem Gesicht und sah genau in die Richtung meiner entsicherten Waffe. Ohne Angst. Ohne die leiseste Rührung. Keine Träne rann ihre eingefallenen Wangen hinunter, die dünnen Lippen zitterten kaum, und ihre zarte Hand hielt den feinen Pinsel entspannt. Als ob ich nur gekommen wäre, um ein Foto dieser jungen Künstlerin aufzunehmen. Ich blickte Katharina Schwartz noch einmal an, das beige Kleid war um die Mitte weiter geschnitten, und oberhalb der dünnen Schenkel wölbte sich deutlich erkennbar die Bauchdecke.

„Sie sind doch nicht etwa…“
„Ganz recht: ich bin schwanger.“
„Dann haben Sie, hast Du Manuel deswegen von den Klippen gestoßen.“
„Nein, das Kind ist nicht von ihm.“
„Sondern.“
„Von einem sehr jungen Schwimmer namens…“
„…Nicht, nicht Philipp!“
„Und was ist, wenn doch?! Wir waren seit Ende letzten Jahres sehr viel zusammen. Wir alle drei: Manuel, dieser unreife Junge und ich. Der hübsche Schwimmer war ein ausgezeichneter Liebhaber – aber das wissen Sie selbst ganz genau, Tony!“

Kathy warf mir den Pinsel wie einen Fehdehandschuh entgegen und starrte mich feindselig an. Ihr Körper war starr und das Augenpaar empathielos geweitet. Und die Mundwinkel kurvten ganz langsam nach unten.

Ich krümmte den Finger um den Abzug, dachte an den Parkplatz beim Offenbacher Kreuz und an das ‚Armony-Studio‘ im dritten Bezirk, ich dachte an einen bosnischen Pokerspieler, an Lisa, an Sebastian und Lucrezia Schwatz und an die vielen Missbräuche, die auch diese junge Frau zerstört hatten – so sehr, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder die Eltern umgebracht und vor kurzem auch Manuel von den Klippen da draußen gestoßen hatte. Und an diesen Bildern jahrelangen Missbrauches malte. Ungerührt. Unbeteiligt. Wie ein Spielzeug entzweigebrochen, zerstört. Mit einem ungeborenen Kind im Leib, das angeblich Philipp gezeugt hatte. Etwas, das nicht wahr sein konnte. Oder durfte.

„Ich heiße nicht Tony,“ stieß ich hervor und drückte mit einem Seufzer der Erleichterung ab. Ein böllerartiger Schuss, ein letzter Aufschrei, eine Fontäne aus Blut und etwas gegen die Zimmerwand geschleudertes Fleisch. Kathy verdrehte die Augen, sackte zur Seite und schlug mit dem zerschossenen Schädel hart auf dem Steinboden auf. Ein letztes Zucken, und der Pinsel fiel von der Staffelei, ein leichtes Röcheln noch, dann war es vorbei. Eine seltsame Stille breitete sich im Turmzimmer aus, hoch über den Klippen. Draußen wogte der Atlantik im herannahenden Sturm, aber ich hörte das Rauschen der Wellen nicht mehr. Drehte den Revolver um. Sah in die rauchende Öffnung der Waffe. Wie in einen weit aufgerissenen, zahnlosen Mund. Ich schloss die Augen und hoffte, Philipp würde mir zulächeln, jetzt, in dieser einen Sekunde des Abschieds – wo immer er war. ♦

E N D E

Für L.W.